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Harfenmusik von Anneleen Lenaerts
Wie aus der Zeit gefallen

Die belgische Harfenistin Anneleen Lenaerts stellt mit den Konzerten von Reinhold Glière, Joseph Jongen und Joaquin Rodrigo nicht nur ihre überragende Qualität als Musikerin einmal mehr unter Beweis. Sie zeigt auch ein feines Gespür für entdeckenswerte Repertoireperlen.

Von Jochen Hubmacher | 10.05.2015
    Eine Frau spielt auf einer Harfe.
    Anneleen Lenaerts entdeckt drei Komponisten neu für die Harfe. (Imago / McPhoto)
    Eigentlich ist alles gesagt zum Concierto de Aranjuez. 1939 komponiert, hat sich der Spanier Joaquin Rodrigo damit ein musikalisches Denkmal gesetzt. Für klassische Gitarrenvirtuosen ein absolutes Muss dieses Stück. Es geht aber auch ganz ohne Gitarre.

    Musik:
    Aus: Concierto de Aranjuez
    Fassung für Harfe und Orchester
    1.Satz: Allegro con spirito
    (Joaquin Rodrigo)

    Ein Instrument, das "die Schwingen einer Harfe, das Herz eines Flügels und die Seele einer Gitarre besitzt". Das schwebte Joaquin Rodrigo als Ideal für sein Concierto de Aranjuez vor. Insofern ist es eine fast logische Folge, dass er der weithin bekannten Fassung für Gitarre und Orchester, Mitte der 1970er-Jahre noch eine Version hinzufügte, in der die Harfe den Solopart übernimmt.
    Diese hat die belgische Harfenistin Anneleen Lenaerts jetzt gemeinsam mit Brussels Philharmonic, den Philharmonikern aus Brüssel, für das Label Warner Classics auf CD eingespielt.
    Wer die Originalfassung des Konzerts im Ohr hat, der fängt unwillkürlich an, zu vergleichen und stellt fest: Die Harfe klingt um einiges weicher als die Gitarre. Gerade im ersten Satz mit seiner Flamenco-Ästhetik wirkt das mitunter ein wenig brav. Hier hat ein Gitarrist bessere Möglichkeiten, auch einmal aggressiver hervorzutreten. Klangfarbe und dynamische Bandbreite machen es der Gitarre per se schon leichter, sich gegenüber dem Orchester zu behaupten. Die Qualitäten der Harfe kommen dagegen im langsamen Mittelsatz des Konzerts voll zur Geltung. Da macht sich nicht nur der größere Tonumfang des Instruments bemerkbar. Die einzelnen Töne stehen einfach länger im Raum, Anneleen Lenaerts kann dadurch die Melodiebögen wunderbar aussingen.

    Musik:
    Fassung für Harfe und Orchester
    2.Satz: Adagio
    (Joaquin Rodrigo)

    Joaquin Rodrigos Concierto de Aranjuez in der Fassung für Harfe und Orchester. Im Vergleich zur bekannten Gitarrenversion ist das zwar kein gänzlich anderes Stück. Der Grundcharakter ändert sich jedoch spürbar, das Konzert kommt einem weniger "Spanisch" vor. Zumal die Solistin erst gar nicht versucht, mit ihrer Harfe eine Flamenco-Gitarre zu imitieren. So virtuos, so feinfühlig und so selbstbewusst interpretiert wie von Anneleen Lenaerts, stellt das Rodrigo-Konzert in der Harfenfassung eine reizvolle Alternative zur Gitarrenversion dar.
    Anneleen Lenaerts hat allen Grund, musikalische Herausforderungen sehr selbstbewusst anzugehen. Mit ihren 28 Jahren ist die Belgierin bereits eine der großen Harfen-Virtuosinnen. 2009 war sie Preisträgerin beim Musikwettbewerb der ARD in München. Und ein Jahr später wurde sie von den Wiener Philharmonikern als Solo-Harfenistin verpflichtet. Ihr Vorgänger dort war übrigens Xavier de Maistre, der in den letzten Jahren mit großem Können und geschicktem Marketing der Harfe als Solo-Instrument einen großen Popularitätsschub verschafft hat. Er hat damit ein überschaubares musikalisches Feld hervorragend bestellt. Und dort setzt Anneleen Lenaerts mit ihrer in wenigen Tagen erscheinenden CD nun eigene Akzente.
    So stellt sie dem Concierto de Aranjuez zwei Originalwerke für Harfe und Orchester zur Seite. Darunter das 1944 entstandene Konzert des Belgiers Joseph Jongen.

    Musik:
    Aus: Konzert für Harfe und Orchester, op. 129
    Allegro vivo
    (Joseph Jongen)

    Das Konzert von Joseph Jongen sei selbst in der Harfenwelt nahezu unbekannt, schreibt Anneleen Lenaerts im Begleitheft zur CD. Mit ihrer Aufnahme möchte die Harfenistin das Stück bei ihren Kollegen wieder und beim Publikum überhaupt erst mal ins Bewusstsein rufen.
    Joseph Jongen wurde 1873 in Lüttich geboren, starb 1953 und gilt als der bedeutendste belgische Komponist in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Von den Wirren des Kriegsjahrs 1944 ist in seinem Konzert für Harfe und Orchester ebenso wenig zu spüren wie von den privaten Sorgen, die den Komponisten in dieser Zeit belasteten. Seine Frau war schwer krank, der Sohn verschollen. Joseph Jongen bewegt sich in seinem Harfenkonzert auf klassisch-romantischem Fundament. Immer wieder tauchen aber auch Anklänge an Claude Debussy oder Maurice Ravel auf. Jongen setzt in dem Stück klugerweise auf ein kleines Orchester, das der Solo-Harfe genügend "Luft zum Atmen" lässt. Und dennoch erweist sich die Klangfarbenpalette des Konzerts als erstaunlich reichhaltig.

    Musik:
    Aus: Konzert für Harfe und Orchester, op. 129
    Modérément animé
    (Joseph Jongen)

    Alle drei Harfen-Konzerte auf der CD von Anneleen Lenaerts sind in enger Zusammenarbeit mit berühmten Harfen-Virtuosen entstanden. Das heißt, die Komponisten haben sich jeweils professionellen Rat eingeholt, wie man das Instrument besonders sinn- und wirkungsvoll einsetzen kann. Und alle drei Werke klingen auf ihre Art ein wenig aus der Zeit gefallen. Ganz besonders gilt dies für das Konzert für Harfe und Orchester von Reinhold Glière. Was der Russe mit deutschen Vorfahren 1938 aufs Notenpapier gebracht hat, könnte problemlos auch von Peter Tschaikowsky stammen. Nur dass der zu dieser Zeit schon fast ein halbes Jahrhundert tot war.

    Musik:
    Aus: Konzert für Harfe und Orchester, op. 74
    1. Satz: Allegro moderato
    (Reinhold Glière)

    Die Brüsseler Philharmoniker mit Chefdirigent Michel Tabachnik präsentieren sich als sehr aufmerksame und klangsinnliche Begleiter für Anneleen Lenaerts. Hinzu kommt mit dem Studio 4 der Maison de la Radio in Brüssel einer der akustisch besten Aufnahmeorte der Welt. Jeder kleine Atmer, jedes Saiten- oder Pedalgeräusch der Harfe ist auf der CD wahrzunehmen, die in wenigen Tagen beim Label Warner Classics erscheint.
    Anneleen Lenaerts stellt mit den Konzerten von Reinhold Glière, Joseph Jongen und Joaquin Rodrigo nicht nur ihre überragende Qualität als Harfenistin einmal mehr unter Beweis, sie zeigt auch ein feines Gespür für entdeckenswerte Repertoireperlen. Das macht Lust auf mehr.
    Besprochene CD:

    Harp Concertos
    Glière - Jongen - Rodrigo

    Anneleen Lenaerts, Harfe
    Brussels Philharmonic
    Ltg.: Michel Tabachnik

    Label: Warner Classics
    LC: 04281
    EAN: 5054196350550