Ökodorf Sieben Linden

Ein Tag im Naturschutz-Idyll

Regeln sind wichtig für ein konfliktfreies Zusammenleben in Sieben Linden
Regeln sind wichtig für das Zusammenleben in Sieben Linden © Deutschlandradio / Anna Seibt
Von Anna Seibt  · 11.07.2018
In der Altmark in Sachsen-Anhalt gibt es ein Dorf, dessen Bewohner so umweltbewusst wie möglich zusammen leben wollen. Sieben Linden heißt der Ort. Wie das Leben dort abläuft hat Anna Seibt im Selbstversuch herausgefunden.
Vor etwa zehn Minuten habe ich zum ersten Mal in meinem Leben das Ökodorf "Sieben Linden" betreten. Schon stehe ich mit 15 mir fremden Menschen um einen großen Tisch herum. Wir halten uns alle an den Händen – und machen erstmal nichts.
"Wir fangen immer mit so einer kurzen Stille zum Besinnen ..."
Der kleine Junge mir gegenüber schaut etwas gelangweilt in der Runde herum. Eine weißhaarige Frau kuckt interessiert zu mir herüber. Der Mann neben mir hat die Augen geschlossen. Auf dem Holztisch in unserer Mitte stehen riesige Töpfe und große Pfannen, in denen das Essen dampft.

Blattsalat mit Kernen und einer Balsamico-Shoyo-Sauce

"Ja, herzlich willkommen zum Abendschmaus. Heute haben Lisa und ich gekocht. Und es gibt Rosmarienkartoffeln und Spinatmöhrengemüse. Eine Bratensauce von heute Mittag, eine pikante Erdnusssoße. Das Seitangeschnetzelte von heute Mittag, viel Reis. Blattsalat mit Kernen und einer Balsamico-Shoyo-Sauce und noch einer Tomaten-Balsamico-Vinaigrette. Lasst es euch schmecken."
"Danke."
"Danke dir für's Kochen."
Die gerade noch so friedlich nebeneinander stehenden Menschen, schnappen sich in einem wilden Durcheinander Teller und Besteck vom Regal an der Wand. Auch ich reihe mich in die Essensschlange ein. Die reicht inzwischen bis in den Flur. Als ich an der Reihe bin, ist die Pfanne mit den Rosmarienkartoffeln bereits leer geputzt.

In Einklang mit Natur und Mitmenschen

100 Erwachsene und 40 Kinder und Jugendliche wohnen in dem Ökodorf in der Altmark. Sie alle verbindet der Wunsch, im Einklang mit der Natur und ihren Mitmenschen zu leben. Das Ziel: Den eigenen ökologischen Fußabdruck möglichst klein halten.
Der alte Bauernhof ist das Zentrum der Gemeinschaft. Hier gibt es drei Mal am Tag Essen für alle, die nicht selber kochen wollen. Außerdem gibt es verschiedene Gemeinschaftsräume, Büros und Gästezimmer. Im einem der Zimmer werde ich heute übernachten.
"So sieht's aus."
"Danke."
"Dann sind die Duschen und Toiletten gleich hier links im Flur, ne?"
"Treppe runter und links?"
"Nee, hier jetzt gleich links. Genau, diese drei Stufen runter."
Man duzt sich in Sieben Linden. Jörg ist für die Organisation und Betreuung der Gäste zuständig. Er zeigt mir das einfach eingerichtete Zimmer, gibt mir meine Bettwäsche und weiht mich in die Besonderheiten des Lebens im Ökodorf ein.

Die Handys bleiben meist aus

"Ich habe hier so einen Infoflyer, weil manche Sachen sind doch anders als üblicherweise. Hier ist auch ein Plan, wo welche Häuser sind und wo man was machen kann. Und so ein paar Besonderheiten, die wir hier haben sind zum Beispiel, dass wir unsere Handys hier möglichst auslassen. Wenn man mal doch telefonieren muss, kann man das hinten ab dem Parkplatz machen. Die Gründe mit dem Handy sind verschieden. Manche haben Sorgen wegen der Strahlung. Aber das andere Argument, was auch ist, ist, dass wir nicht möchten, dass die Leute hier auf ihr Display guckend durch das Dorf laufen."
Das Bild zeigt das Ökodorf Sieben Linden in der Altmark.
Das Ökodorf Sieben Linden in der Altmark© Deutschlandradio/Stephanie Gebert
Ok. Handy aus. Das dürfte ja eigentlich kein Problem sein. Aber komisch ist der Gedanke dann doch, den gewohnten 24-Stunden-Kontakt zur Außenwelt abzuschneiden. Kurz bevor ich ins Bett gehe, fällt mir auf:
"Also, ganz ausschalten kann ich mein Handy nicht, weil ich muss mir ja einen Wecker stellen für morgen. Aber ich habe es zumindest mal auf Flugmodus gestellt. Ich dachte eigentlich immer, ich wäre nicht Handy abhängig, aber jetzt stelle ich fest, ich würde doch noch mal ganz gerne die Weltlage checken und noch mal schnell bei Instagram vorbeigucken oder gucken, ob mir jemand auf WhatsApp geschrieben hat."

Ausschließlich Komposttrenntoiletten

"Eine andere Besonderheit sind unsere Toiletten. Wir haben ausschließlich Komposttrenntoiletten. Die sind eigentlich normal zu benutzen, es ist nur so, dass der feste Anteil irgendwo in einen Eimer fällt und der Urin abgeleitet wird in unsere Kläranlage. Und es gibt keine Wasserspülung. Man muss also hinterher gar nichts machen."
Eine Anleitung für den Klogang. Das ist auch eher ungewöhnlich. Mir gefällt aber, wie selbstverständlich mir Jörg alles erklärt. Und meine Überlegung, die Trockentoiletten könnten wie Latrinen müffeln, stellt sich zum Glück als unbegründet heraus.
Erschöpft von den vielen Eindrücken ziehe ich mich an den Lösch- und Badeteich zurück. Im Wasser schwimmen viele schwarze Molche. Um mich herum ist alles grün. Vögel zwitschern und Frösche quaken. Nirgends sehe ich einen Zaun, eine Mauer oder eine fein säuberlich gestutzte Hecke.
"Was ich jetzt schon nach ein paar Stunden im Dorf feststelle ist, dass das Leben in so einer Gemeinschaft wirklich sehr komplex ist. Dass es einfach so viele Liebensbereiche gibt, die irgendwie organisiert sein müssen und verwaltet werden müssen, dass ich gar nicht weiß, auf was ich mich jetzt eigentlich konzentrieren soll."
Zum Glück wird mir diese Entscheidung von Ines erleichtert. Sie arbeitet als Bildungsreferentin im Dorf. Das heißt, sie kümmert sich um die vielfältigen Seminare und Veranstaltungen, die für Gäste von außerhalb organisiert werden. Ines erklärt mir, wie ich zur Dorfbewohnerin werden kann. Es beginnt mit einem Wochenendseminar.

Wie verhalte ich mich in einer Gruppe?

"Da wird erstmal über die Grundlagen hier des Ökodorfes informiert, man kann einzelne Bewohner kennen lernen, kann hier Häuser besuchen. Und dann gibt es ein Seminar, das geht über sieben Tage. Das nennt sich 'Sieben Linden intensiv'. Da geht es darum, sich in Gemeinschaft zu erleben. Wie verhalte ich mich in einer Gruppe. Tut mir das überhaupt gut in Gemeinschaft zu sein oder bin ich nicht lieber jemand, der nur punktuell Kontakt haben will. Weil Gemeinschaft ist hier einfach sehr prägend und die Auseinandersetzung mit seinen eigenen Themen und mit anderen Menschen."
Wer danach noch immer nach Sieben Linden ziehen möchte, der muss sich mit einem Bewerbungsschreiben an die Dorfgemeinschaft wenden. Die entscheidend, ob der oder die Anwärterin zu einem weiteren zweiwöchigen Seminar eingeladen wird. Da wird dann darüber nachgedacht, wie man sich in die Gemeinschaft einbringen und eventuell auch seinen Lebensunterhalt im Dorf verdienen kann. Wenn danach noch immer alle einverstanden sind, steht einem Umzug nach Sieben Linden nichts mehr im Weg.

Ein Jahr Probezeit

Franz hat diesen Prozess schon fast hinter sich gebracht. Gerade renoviert er einen Toilettenwagen für die nächste Großveranstaltung – ein Tanzfest mit über 100 Gästen.
Seit Juli 2017 wohnt der gelernte Bautechniker auf dem Gelände, in einem umfunktionierten Bauwagen. In ein paar Monaten ist seine einjährige Probezeit um. Dann entscheidet sich, ob er festes Dorfmitglied wird. Das liegt zum einen in den Händen der Dorfbewohner. Aber auch Franz ist sich noch nicht so ganz sicher, ob er noch länger im Ökodorf bleiben will. Zwar gefällt ihm das Leben in der Gemeinschaft sehr gut. Aber:
"Es gibt einfach so viele Regeln. Also, für mich bei Bausachen zum Beispiel. Wenn ich einfach Material brauche. Ich sehe so viel, was da ist, aber dann heißt es, das gehört dahin, das gehört dahin, darf man nicht, darf man nicht. Also, das finde ich einfach alles ein bisschen umständlich manchmal."

Regeln für ein konfliktfreies Zusammenleben

Das kann ich gut nachvollziehen. Mir fallen da spontan die festen Essenszeiten ein. Und dass ich auf dem Gelände nicht rauchen darf wo ich will – sondern nur in der Raucherecke auf dem Hof. Klar, diese Regeln sind wichtig für ein konfliktfreies Zusammenleben. Aber sie schränken eben auch die individuelle Freiheit ein. Andererseits werden viele Arbeiten vom Kollektiv übernommen. Zum Beispiel Essen kochen, Gärtnern, Häuser bauen und Freizeitaktivitäten wie einen Kneipen-, Film- oder Saunaabend organisieren. Und sowohl Franz als auch Ines heben positiv hervor:
"Es fällt viel leichter, ökologisch konsequent zu sein, weil das hier der Mainstream ist. Und ganz, ganz viele Strukturen vorgegeben sind. Ich brauch keine Einkaufsentscheidung zu treffen. Wir haben hier ein zentrales Versorgungssystem mit den Grundnahrungsmitteln und da weiß ich genau, dass ist das ökologisch Konsequenteste, was man irgendwie bekommen kann. Und das ist sehr erleichternd."

Die Einsamkeit der Altmark

Mich von Sieben Linden loszureißen fällt mir schwer. Die Sonne scheint, Kinder spielen im Garten und die Natur um mich herum lässt mich ganz ruhig werden. Trotzdem weiß ich, dass mir die ständige Auseinandersetzung mit den anderen Dorfbewohnern auf Dauer zu viel wäre. Dass mich die Einsamkeit der Altmark irgendwann langweilen würde und ich keine Lust habe, mein Privatleben unzähligen Regeln zu unterwerfen.
"Bitte fahren Sie zur markierten Route. Dann beginnt die Routenführung."
Was ich aber auch weiß: Ich komme bestimmt wieder.
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