Dara Horn begeht nicht einfach Wiedergutmachung an ihnen, sondern will den Menschen in ihrer Widersprüchlichkeit und vor allem ihrer Unfertigkeit gerecht werden. Deshalb nimmt sie die biblische Metapher von der menschlichen Persönlichkeit als einem stets weiter formbaren Klumpen Lehm ernst und zeigt ihre Figuren in ständigem Wandel. Tragisches und Komisches wechseln sich miteinander ab, und immer entzieht sich die Autorin den Klischees, mit denen sie spielt. So entwickelt sich Leoras Jugendfreund Jason vom Collegesportler mit ausgesprochener Abneigung gegen das religiöse Judentum zum "mentschelnden" Altenpfleger. Schließlich tritt er sogar zur Orthodoxie über und erfüllt als Ehemann und Diamantenhändler vor sich selbst und vor anderen ein scheinbar gängiges Bild, das die Autorin in einer weiteren überraschenden Wendung freilich wieder zerschlägt. Dara Horn spürt in jedem Menschen etwas Unvorhersehbares, Wildes, und jedes Leben enthält für sie zahllose unverwirklichte Entfaltungsmöglichkeiten. Literatur hat für sie ganz offensichtlich die Aufgabe, auch diese unverwirklichten Möglichkeiten zu realisieren, die nicht eingeschlagenen Wege aufzuzeigen.
Das gelingt ihr trotz kleiner Schwächen eines Debüts auf originelle Weise. Sprachlich virtuos ist die deutsche Fassung ihres Buchs dank der glänzenden Übersetzung von Miriam Mandelkow. Den verschiedenen Stilebenen wird die Übersetzerin ebenso gerecht wie den anspruchsvollen biblischen Anleihen, für die sie auf eine Bibelübersetzung des jüdischen Gelehrten Tur-Sinai zurückgegriffen hat, die im Berlin der 20er Jahre entstanden ist. Außer der Metapher von der Reise, auf die sich jeder allein durchs Leben begibt, kehren in "Ausgelöscht sei der Tag" neben biblischen auch verschiedene poetische Bilder wieder und werden zu einem dichten Muster der Erinnerung verwoben. Puppenhäuser, zugleich ein Symbol für die Kindheit und den Aufbau einer eigenen Familie, verbinden die Erzählerin Leora mit ihrer toten Freundin Naomi. Sie gehören aber auch zu dem Großvater und dem Rijksmuseum von Amsterdam, wo Leora ihrem künftigen Lebensgefährten begegnet. Tefillin, Gebetskapseln, begleiten die europäischen Landsmanns in den Krieg und auf die Flucht, und sie gelangen schließlich, auf Umwegen über den Meeresgrund vor New York, in Leoras Hände. Sie nimmt sie an als Bild für jene Tradition, von der sich mancher vielleicht auf seinem Lebensweg befreien musste und von der Dara Horn dennoch ihre Generation und ihre Literatur nicht getrennt wissen will.