Stalin und sein "Hofstaat"

Rezensiert von Jörg Friedrich · 23.09.2005
Stalins Macht im Kreml wäre wohl ohne seinen eigenen "Hofstaat" nicht möglich gewesen. Simon Sebag Montefiore zeigt den Alltag hinter den Kremlmauern auf. Er gibt ungewohnte Einblicke, unter anderem mit bisher unveröffentlichten Briefen, geheimen Tagebüchern sowie mit Notizen und Protokollen von Ministern und Beratern.
Wjatscheslaw Molotow, der sowjetische Außenminister, den die Genossen seiner sturen Ausdauer wegen den Eisenarsch nannten, bekannt zumal durch den Molotow-Ribbentrop Pakt, worin Hitler-Deutschland und Stalin-Russland sich zur Entfesselung des Zweiten Weltkriegs verabredeten, Molotow also bekannte gegen Ende seines Lebens im Jahre 1986, dass ihm gelegentlich von dem "Woschd", seinem Führer träume:

"Dabei herrschen ganz ungewöhnliche Verhältnisse. Ich befinde mich in so einer Art zerstörter Stadt und finde keinen Ausweg. Anschließend begegne ich IHM."

Damit endet nach atemberaubenden 740 Seiten das Werk eines jungen Briten über das bolschewistische Schurkenregime, jenem, dem wir im Wesentlichen unsere Befreiung vom Nazi- Regime verdanken. Dies in Moskau mitzufeiern, ließ sich im Frühjahr der deutsche Bundeskanzler nicht nehmen. Den 20 bis 30 Millionen Sowjetbürgern, die Stalins Staat ausrottete, fehlte bei dem Siegesgedenktag jedes Angedenken.

Das mag daran liegen, dass der russische Präsident ein Zögling jenes KGB ist, der Geheimpolizei, die in direkter Amtskontinuität aus Stalins Schlachthof NKWD hervorging. Es ist immer erfreulich, wenn gerade solche Organe sich läutern. So etwas gelingt besser unter einer schonenden Vergangenheitsverdrängung. Insofern ist der Geschichte der Sowjetunion insgesamt eine gewisse Eisenärschigkeit zu eigen. Anders ist schwer erklärlich, was es heute am Sieg des, in Opferzahlen bemessen, größten Verbrecherstaats aller Zeiten eigentlich zu feiern gibt.

Das Buch Montefiores fand in England, nach dem Hitlerreich der nächste Partner der Sowjetunion, ein Sensationsecho. Wie der greise Molotow begegnet man im Ruinenfeld der zeitgeschichtlichen Alpträume unvermeidlich IHM, dem Premier Churchill 1943 zuprostete:

"Auf Stalin den Großen! Dann trat der Offizier der britischen Garde an einen dekorierten Tisch mit einer länglichen schwarzen Schachtel und nahm den Deckel ab. Darunter lag, auf ein weinrotes Samtpolster gebettet, ein funkelndes Schwert. Churchill ließ sich das kostbare Stück auf die Handfläche legen und wandte sich an Stalin: "Seine Majestät, König George VI, hat mich beauftragt, Ihnen dieses Schwert der Ehre zu überreichen." Der hielt es lange andächtig in Händen und führte es mit eindrucksvoller Gebärde an die Lippen. Stalin war zutiefst bewegt und hatte sogar Tränen in den Augen."

Die Zeremonien, ob 1943 oder 2005, huldigen einem Genius, dem bisher niemand eine so hautnahe Präsenz zu geben wusste wie Montefiore. Das Portrait eines politischen Lustmörders mischt er aus drei Grundfarben: Seine georgischen Wurzeln, die in die orientalische Despotie reichen; die marxistische Mission, welche die dauernden Widerstände der Realität gegen ihr Erlösungswerk mit Brachialgewalt schient und zum dritten eine machiavellistische Machtkunst, die Menschen mit ihrer Lieblingsdroge berauscht, der Feindseligkeit.

Zu den Wunderlichkeiten des Stalinismus zählte seit jeher die Kollaborationsbereitschaft seiner Parteiopfer. Die Weggefährten Lenins und Stalins bezichtigten sich in den Säuberungswellen 1937 und 1950 reihenweise der Sabotage und Spionage, mal für Deutschland mal für Amerika oder den Zionismus. Alles Mächte übrigens, mit denen Stalin heute im Bunde und morgen in Konflikt stand. Er war sein eigener Überläufer zu allen Halunken, die er kannte. Geköpft wurden dafür seine Kameraden, die zu solch rasanten Seitenwechseln gar nicht taugten.

Das Geständnis dessen wurde ihnen vom NKWD aus dem Leibe gefoltert, schlimmer noch, aus dem Leib ihrer Frauen und Kinder. Beria, der NKWD-Chef 1938 bis 1950 - von Stalin seinen Westalliierten als "unser Himmler" vorgestellt - folterte wie seine Vorgänger und Nachfolger persönlich. Himmler hätte so etwas kaum fertig gebracht, nicht weil er der bessere, sondern weil er ein anderer war. Das Aneinandermessen der roten und braunen Scheusale kritisiert Montefiore als nichts sagend:

"Der Westen treibt einen Schurkenkult, veranstaltet eine Art makabren Wettbewerb zwischen Hitler und Stalin, wer von beiden "der schlimmste Diktator seiner Zeit war". Dämonologie ist aber keine Geschichtsschreibung, sondern prangert nur einen Irren an, ohne uns etwas über die Gefahren utopischer Entwürfe und Systeme zu lehren."

Die Utopie des Sozialismus hält sich bis heute für die Menschenfreundlichkeit selber, und will für dessen Systemzeit unter Lenin, Stalin, Mao, Pol Pot usw. nicht in Haftung genommen werden. Das waren die Verunstalter der guten Sache, die daraus eliminiert gehörten. Das Aufregende an Montefiore ist, dass er ausschließlich Sachwalter des Gutgemeinten schildert, die nur mit der Eliminierung von Verunstaltern befasst sind. Die Eliminierten selber sind grundüberzeugte Eliminierer. Alle kennen den Zirkel von Gewalt und Wahrheit: Wahr ist, was Gewalt erzwingt. Der Gewaltsame wiederum obsiegt, weil die Wahrheit hinter ihm steht. Es ist beides dasselbe.

So sterben die Eliminierten mit dem Ruf 'Heil Stalin' auf den Lippen. Er seinerseits ist den Opfern auch nicht gram. Wie alle in der Partei weiß und konzediert er, dass die Hinrichtungsgründe fabriziert sind. Glaubte er dennoch an deren Richtigkeit, fragt sich Montefiore?

"Ja, sogar leidenschaftlich, weil es politisch notwendig war, und das zählte mehr als bloße Wahrheit. "Nur wir selbst werden darüber entscheiden können, was wahr und was falsch ist", sagte er zu Ignatiew."

Ignatiew, der letzte der Folterchefs, starb friedlich und kurz zuvor noch dekoriert, 1983. Auch die Wahrheit über diesen Killer ist eine Frage der Notwendigkeit.

Das Notwendige ist eine bittere Konsequenz aus dem unzweifelhaft Richtigen. Seitdem die Marxisten erkannt haben, wohin die Geschichte Richtung nimmt, mussten sie notwendigerweise die Falschgerichteten ausschalten. Verfügt man über die Staatsgewalt ist das Sicherste: Liquidieren!

Dann manövrierte Stalin sein Land sicher in den Zweiten Weltkrieg. Der Erste hatte die russische Revolution erzeugt, der Zweite hoffentlich die Weltrevolution. Leider verspekulierte Stalin sich im Poker der Kriegsmächte, so dass er seinen ersterwählten Partner nach zwei Jahren selbst am Hals hatte, und zwar bis in die Vororte von Moskau. Aus Sorge, sein terrorgebleichtes Volk kollaboriere mit Hitler, ließ Stalin die ihn unzuverlässig dünkenden Krim- und Kaukasusstämme verschleppen und ausdünnen.

Der Tüchtigkeit der Roten Armee, ausgerüstet mit strömenden Materiallieferungen der USA, verdankte Stalin einen Triumph, vor dem seinen Lieferanten alsbald angst und bange wurde. Nächste Kehre, nächster Terror. Der Weltkrieg hatte die Atombombe ausgebrütet, die von 1949 an die Sieger aufeinander richteten. Mit seinem Vademecum, dem Massenmord, begann Stalin erneut, sein Volk zu sieben. Das Feindbild, das er ihm nun verordnete, war eine bizarre Mixtur aus Juden, Altbolschewiken wie Beria und Molotow, verschworen mit mörderischen Ärzten. Mitten in seinem letzen Gefecht traf ihn der Schlag, wie Beria raunte, durch seine Doktorkünste.

Als Molotows jüdische Gattin Polina aus der Knebelzelle zurückkehrte, um zu hören, dass der Erleuchtete tot war, der sie als Spinne des Verschwörungsgespinstes auszulöschen trachtete, sank sie in Ohnmacht. Der Führer hatte sie im Stich gelassen… Im Zerstörungsgebiet, wo er dem träumenden Eisenarsch begegnete, hatte er nicht seinesgleichen. Macht und Zerstörung waren ihm eins; vielleicht ist diese darin so geniale Fratze deshalb ein unvergängliches Faszinosum der Politik. Sein Kollege aus Deutschland eignet sich dazu nicht, denn er hat verloren.


Simon Sebag Montefiore: Stalin - Am Hof des Roten Zaren, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main.