"Kriegserfahrung kann man ja nicht planmäßig erwerben"

Rudolph Chimelli im Gespräch mit Joachim Scholl · 10.03.2011
Es sei nicht möglich, Kriegsreporter auszubilden, dennoch sollten Journalisten Gefahrensituationen nicht zum ersten Mal im Krieg erleben, sagt Rudolph Chimelli zur Kritik des Journalisten Christoph Maria Fröhder, der den Medien vorwirft, sie bereiten ihre Krisenreporter zu wenig vor.
Joachim Scholl: Seit fast 60 Jahren ist Rudolph Chimelli Journalist und Auslandskorrespondent, er schreibt für die "Süddeutsche Zeitung" aus Paris, war lange Jahre Nahostkorrespondent des Blattes. Er hat 1967 vom Sechstagekrieg berichtet und war auch in Ruanda, als dort der entsetzliche Völkermord geschah. Rudolph Chimelli ist auch mit 82 Jahren immer noch aktiv, zurzeit arbeitet er wie gesagt in Paris. Von dort ist er jetzt mit uns verbunden – guten Tag, Herr Chimelli!

Rudolph Chimelli: Grüße Sie!

Scholl: Der Kollege und Auslandsreporter Christoph Maria Fröhder hat kürzlich in einem Interview beklagt, dass Journalisten für Berichterstattung in Krisengebieten inzwischen zu wenig, heißt zu schlecht vorbereitet würden. Hat er recht?

Chimelli: Das ist sicher nicht falsch. Auf der anderen Seite muss man natürlich sagen, Kriegsberichterstatter ist ein Gewerbe, das kann man nicht lernen wie Automechaniker, das lernt man, indem man es ausübt. Früher einmal, das ist lange her, hatten die Medien, vor allem die großen Zeitungen, Militärexperten. Die kannten wenigstens, die hatten Verbindungen und die wussten wenigstens, wovon sie redeten. Aber Kriegserfahrung kann man ja nicht erwerben planmäßig. Man kann nicht von einer Zeitung erwarten, dass sie jemand bereithält und ihn ausbildet für den nächsten Kriegsfall, der hoffentlich nicht kommt. Das geht so nicht, fürchte ich.

Scholl: Aber wäre es nicht notwendig, zum Beispiel Reporter auf diese Einsätze doch insbesondere soweit vorzubereiten mit einem Sicherheitstraining, einer Vorbereitung auf die speziellen Verhältnisse im Land, auf die Mentalität der Einwohner oder aber auch einfach auf Situationen, was passiert, wenn, ja, sagen wir geschossen wird. Kann man ja schlecht sagen, ja, dann zieh den Kopf ein.

Chimelli: Leider wird das eher so gemacht, dass diese unverbindliche Empfehlung gegeben wird, denn die Situation hat sich sehr verändert. Viele Kolleginnen und Kollegen, die aus Kriegsgebieten berichten, sind dort ja nicht zufällig und sind nicht entsandt, sondern sie sind jung, wollen sich bewähren und machen das auf eigene Faust. Und da die Medien, vor allen Dingen Zeitungen, nach kaufmännischen Gesichtspunkten gemacht werden, soll es möglichst billig sein. Und die Kommunikationsverhältnisse sind sehr gut geworden. Man kann jemand anrufen, jederzeit, überall, mit einem Satellitentelefon, sogar wenn das normale Handy nicht funktioniert. Und die Versuchung ist groß, sich an Leute zu wenden, die dort sind, die auf eigene Faust hingegangen sind. Und diese Kategorie von Kollegen stellt die hohe Verlustziffer.

Scholl: Wie war das damals bei Ihnen, Herr Chimelli, wurden Sie denn in irgendeiner Weise vorbereitet oder konnten Sie sich vorbereiten auf diesen, ja, auf diesen "Einsatz", in Anführungszeichen nenne ich es jetzt mal?

Chimelli: Nein. Ich kann natürlich sagen, in meinem Alter hatte ich die letzten Kriegsjahre des Zweiten Weltkriegs mitbekommen und habe da einiges gesehen und war sehr am Rande daran beteiligt, aber eine formelle Einführung, nein. Der Sechstagekrieg 1967 hat mich unvorbereitet getroffen. Da war ich mehrfach per Zufall sehr nahe an den Kämpfen, die ja nur wenige Tage dauerten. Bei späteren Einsätzen war das etwas anderes. Den Krieg Iran-Irak habe ich auf beiden Seiten beschrieben, und da wusste ich natürlich, wie es geht, wusste auch, wie ich mich verhalten muss. Nur ...

Scholl: Ja, wie wussten Sie das denn, Herr Chimelli? Ich meine, hat man es Ihnen gesagt, haben Sie es sich abgeguckt bei alten, bei anderen Kollegen, Learning by Doing, oder wie muss man sich das vorstellen?

Chimelli: Ich habe es bei anderen Kollegen gesehen, ich habe mich so verhalten wie die irakischen Einweiser, und auf der iranischen Seite wie die Revolutionswächter, mit denen zusammen ich im Sumpf nach vorne gegangen bin. Anders konnte man das nicht machen. Wo sie sich geschützt haben, habe ich mich auch geschützt, wo sie offen gegangen sind, habe ich das auch getan. Eine risikolose Kriegsberichterstattung, so wie das früher einmal vielleicht möglich war, gibt es nicht mehr.

Scholl: Sie sagten vorhin, man kann das nicht lernen, aber muss es ja doch lernen, Gefahren, Risiken richtig einzuschätzen. Wie war das bei Ihnen?

Chimelli: Das ist völlig richtig. Ich würde sagen, man könnte schon damit einige Voraussetzungen mitbringen, wenn man Gefahrensituationen nicht zum ersten Mal im Krieg erleben würde. Naturkatastrophen, Überschwemmungen, Erdbeben, Vulkanausbrüche sind auch solche Anlässe, bei denen die Normalität durchbrochen wird. Und Leute, die auf diesen Gebieten und bei solchen Anlässen Erfahrungen gesammelt haben, werden sich wahrscheinlich auch in der Kriegssituation geschickter verhalten.

Scholl: Wie gingen Sie mit der Erfahrung, ja, der Gewalt um, die Sie erlebt haben, also auch des Todes, der Verletzung? Sie waren bei den Massakern in Ruanda dabei, also hab das beobachtet, mussten darüber berichten, viele gestandene Journalisten sind damals also förmlich zusammengebrochen.

Chimelli: Ich war auch nahe dran, das ist sicher das traumatischste Erlebnis, was ich je auf diesem Gebiet gehabt habe. Und es ist insofern ein – wenn in diesem Umfang ja –, aber es ist insofern kein untypisches Erlebnis, weil heute die meisten Kriege ja keine klassischen Kriege sind zwischen Armeen, die sich gegenüberstehen und sich einigermaßen diszipliniert verhalten, sondern es sind Auseinandersetzungen zwischen bewaffneten Banden. Das macht die Sache besonders mörderisch, besonders grausam und für den Journalisten besonders riskant.

Scholl: Reporter in Krisengebieten, das ist – wir sind im Gespräch hier mit Rudolph Chimelli, er war es lange Zeit, hier im Deutschlandradio Kultur im Gespräch. Der Kollege Fröhder, Herr Chimelli, hat in jenem erwähnten Interview die hiesigen Medien kritisiert, dass sie ihre Reporter alleine lassen, dass gerade hier gespart wird. Sie haben das vorhin auch ein wenig erläutert und so, der Druck auf die jungen Journalisten wächst, immer mehr zu riskieren. Ist das denn eigentlich die notwendige Konsequenz?

Chimelli: Es ist nicht notwendig, aber ich fürchte, es ist unausweichlich, in dem Sinn doch notwendig, denn die Verhältnisse werden sich nicht ändern. Sie werden sich jedenfalls nicht verbessern, die Konkurrenz wird härter werden. Und wir dürfen eins nicht vergessen: Unser Beruf hat sich völlig verändert dadurch, dass er elektronisch geworden ist. Man kann sogar sagen, wann das passiert ist.

Scholl: Durch das Internet meinen Sie jetzt?

Chimelli: Die eigentliche Stunde null der neuen Informationsära schlug ziemlich genau vor 20 Jahren, nämlich am 17. Januar 1991 um zwei Uhr 40 Ortszeit.

Scholl: Der Angriff auf Bagdad?

Chimelli: Der Angriff auf Bagdad, und der CNN-Kollege stand im Mansour-Hotel auf dem Balkon und hat einfach seine Kamera in die Luft gehalten und hat die Leuchtspur der Munition und die Einschläge gefilmt. Und wer den Fernseher eingeschaltet hatte, sah zum ersten Mal Krieg live. Das hat es vorher nicht gegeben, aber das gibt es heute millionenfach, vermehrt durch die Mobiltelefone, mit denen man gleichzeitig filmen und versenden kann. Diese Situationen haben wir jetzt ständig.

Scholl: Im Irakkrieg und auch in Afghanistan, wenn Sie das schon erwähnen, haben wir auch das Phänomen des Embedded Journalist erlebt, also der in die Militäraktion eingebettete Reporter, was natürlich einen ganz eingeschränkten parteiischen Blick erzeugt. Wie haben Sie diese Entwicklung verfolgt, Herr Chimelli?

Chimelli: Die habe ich nur insofern verfolgt, als ich sie möglichst nicht mitgemacht habe, denn wenn ein Journalist keine Bewegungsfreiheit mehr hat, die im Krieg natürlich immer eingeschränkt ist, aber wenn man eine Armee begleitet und nur sieht, was die Armee einem zeigen möchte, dann entsteht ein völlig verzerrtes Bild und es hat nichts mehr mit der Darstellung des objektiven Kriegsverlaufs zu tun.

Scholl: Verschiedentlich wurde in letzter Zeit auch von einer Boulevardisierung gesprochen dieser Berichterstattung aus Krisengebieten, dass es also immer mehr um Emotionen geht, auch um Emotionen des jeweiligen Reporters, als um objektive Fakten, gerade bei der Berichterstattung. Beobachten Sie das auch?

Chimelli: Ja. Wenn man mittendrin steht, es wird geschossen, die Leute schreien, man regt sich selber auf, man hält das ... , es nimmt einen mit und man neigt dazu, die Sache zu dramatisieren, wie wichtig das Ereignis ist, das man erlebt, wie wichtig das Ereignis wäre, wenn man drei Kilometer weit entfernt wäre, das kann man in diesem Augenblick schwer ermessen. Aber da man technisch die Möglichkeit hat, es darzustellen, in diesem Augenblick, und da die Medien, vor allen Dingen die elektronischen Medien – Radio, Fernsehen – die Möglichkeit haben, das in diesem Augenblick wiederzugeben, wird die Dramatik in der Darstellung übergewichtig.

Scholl: Wenn Sie, Herr Chimelli, heute ein junger Kollege ansprechen würde und sagt, ich soll nach Libyen, um von den Kämpfen zu berichten, und er will von Ihnen ein paar Tipps haben, was würden Sie ihm raten?

Chimelli: Ich würde ihm raten, sich so nahe wie möglich, aber nicht weiter vorzuwagen und nicht auf Journalistenruhm zu schauen, der vergänglich ist, und dafür sein junges Leben zu riskieren. Es lohnt sich fast nie. Ich habe mir in ähnlichen Situationen gesagt, ich bin gern bereit, mich erschießen zu lassen beim Sturm auf die Bastille, aber nicht an einer anonymen Straßenecke in Algerien, die niemand kennt und die schnell vergessen ist. Das würde ich raten.

Scholl: Wie gut sind Auslandsreporter für Krisenregionen ausgebildet und vorbereitet? Das war Rudolph Chimelli, langjähriger Korrespondent der "Süddeutschen Zeitung" im Nahen Osten, jetzt arbeitet er von Paris aus. Herr Chimelli, ich danke Ihnen für das Gespräch!

Chimelli: Danke Ihnen!