Philipp May: Dass es eine lange Nacht werden würde, war klar. Kaum ein Streitthema – Sie haben es gerade bei Wolfgang Kubicki gehört – konnte ja im Vorfeld abgeräumt werden zwischen Union, FDP und Grünen, und daran hat sich auch in der Nachtschicht wenig geändert. Aber immerhin: Sie beraten, aller Unterschiedlichkeiten zum Trotz, weiter über die Bildung einer neuen Koalition. Es geht also weiter; mal sehen, wie lange noch. Die Niederländer haben in diesem Jahr ja sieben Monate gebraucht, bis die Regierung stand. – Jetzt ist Niko Switek in der Leitung, Politikwissenschaftler von der Uni Duisburg-Essen, mit Schwerpunkt Koalitionsverhandlungen in Zeiten bunter Bündnisse. Schönen guten Tag.
Niko Switek: Guten Tag.
May: Herr Switek, bekommen wir holländische Verhältnisse?
Switek: Ja, das scheint sich anzudeuten. Wir haben einige Verschiebungen im Parteiensystem und dadurch wird es dann schwieriger, Mehrheiten zu bilden, zu finden. Erschwert das natürlich durch die Aussage der SPD, dass sie keine Große Koalition eingehen will, weil das war immer die Rückfalloption, die wir in Deutschland eigentlich noch hatten.
May: Das heißt, die Kanzlerin wird irgendwann im April vereidigt?
Switek: Das könnte sein, oder wir erleben das erste Mal Neuwahlen. Das ist diesmal durchaus auch eine Möglichkeit.
May: Sie sind sich überhaupt nicht sicher, dass das noch was wird mit Schwarz-Gelb-Grün?
Switek: Die Rahmenbedingungen sind tatsächlich sehr, sehr gut. Schwarz-Grün hat ja schon mal sondiert. Da hat es dann nicht geklappt. Diesmal gibt es ein paar Punkte, die eher dafür sprechen, dass es klappen könnte.
Neue Lagerkonstellation
May: Damals haben sie sich ja sehr darüber geärgert, dass es nicht geklappt hat, und haben sich gedacht, ach Mensch, wir hätten es eigentlich damals probieren sollen.
Switek: Ja, das sieht man in der Partei sicher unterschiedlich. Es geht ja letztlich auch um Inhalte, die verhandelt werden müssen, und da muss man schon einen Kompromiss finden. Sonst kommt man als Koalition nicht zusammen.
May: Wenn ich unsere Korrespondentenberichte richtig deute, dann kann man ja fast den Eindruck haben, die Lager, die gehen im Prinzip quer durch die Union. Auf der einen Seite stehen die CSU und die FDP und auf der anderen Seite CDU und Grüne.
Switek: Ja, das ist eine gute Beschreibung. Wir kannten das eigentlich bei den Grünen mit den zwei starken Flügeln, dass die immer ein bisschen Einheit herbekommen mussten in den Koalitionsverhandlungen innerparteilich. Diesmal sieht man es tatsächlich auch bei der Union, wo CDU/CSU teilweise unterschiedliche Positionen haben, und das erschwert natürlich die Verhandlungen noch mal zusätzlich.
„Merkel präsidial moderierend“
May: Wo ist die Kanzlerin? Macht die überhaupt mit bei den Verhandlungen?
Switek: Sie wirkt bisher sehr präsidial moderierend. Man hat noch nicht so genau mitbekommen, wo jetzt ihre roten Linien sind, wo sie für steht. Sie hat allerdings – das ist natürlich auch sehr wichtig für den Verlauf – eine künstliche Frist gesetzt. Sonst könnten die noch ewig miteinander sprechen. Sie hat jetzt gesagt, es muss diese Woche auch zu einem Ende kommen, und das ist natürlich auch eine Art, die Verhandlungen zu beeinflussen.
May: Glauben Sie denn daran, dass diese Frist eingehalten wird? Das hieße dann ja, dass spätestens Sonntag endlich mal irgendwas stehen müsste.
Switek: Die Frist war ja eigentlich gestern und wurde jetzt noch mal verlängert. Man sieht, so hart ist die Frist dann doch nicht. Man weiß nicht genau, die strittigen Punkte liegen ja auf dem Tisch, wo jetzt dann noch die Kompromisse herkommen sollen. Wie gesagt, die Rahmenbedingungen sind eigentlich ganz gut. Aber die Kompromisse, die jetzt noch zu finden wären, da hakt es sehr und ich bin aktuell sehr pessimistisch, was da noch an Einigung gefunden werden sollte.
„Basta-Worte wären nicht zielführend“
May: Wäre dann nicht jetzt mal ein bisschen mehr Führungsstärke von Angela Merkel angebracht und ein bisschen weniger Mutti vielleicht?
Switek: Ich weiß nicht, ob das funktionieren kann, weil auf einige der Konflikte sie ja keinen direkten Einfluss hat. Wenn wir uns die CSU anschauen, die sich sehr stark unter Druck fühlt von der AfD, die nächstes Jahr eine Landtagswahl hat in Bayern, wo es Führungsstreitigkeiten zwischen Seehofer und Söder gibt, da kann sie ja nur bedingt drauf einwirken, und das muss die CSU eigentlich intern klären. Basta-Worte da jetzt zu fordern, weiß ich nicht, ob die tatsächlich zielführend wären.
May: Aber? Sie haben die CSU angesprochen. Normalerweise geht es ja in der Politik ums Aushandeln von Kompromissen. Zumindest würde ich denken, das steht bei Wikipedia so. Haben die das verlernt?
Switek: Es liegt sicher an den Besonderheiten innerhalb der CSU. Wenn man sich das Gesamttableau anschaut, wirkt es schon so, als ob die CSU bisher die wenigste Kompromissbereitschaft gezeigt hat, was an diesen innerparteilichen Querelen liegt. Ich glaube, da wird Merkel wahrscheinlich versuchen, noch mal auf die CSU einzuwirken, sich auch ein Stückchen zu bewegen. Zumindest die CSU zeigt bisher wenig Kompromissbereitschaft, auch rhetorisch. Auch diese Angriffe auf die anderen Koalitionspartner schaffen natürlich keine Vertrauensbasis.
„Politikfelder hängen zusammenhängen“
May: Es geistert ja hin und wieder mal diese Idee durch den Orbit, wonach jede Partei in einem bestimmten Bereich ihre Interessen durchbringt. Jetzt mal ganz platt formuliert als Beispiel: Die CSU darf den Zuzug begrenzen, dafür bekommen die Grünen das Sagen beim Kohleausstieg, und die FDP schafft den Soli ab. Jeder hat dann was, was er an der Basis verkaufen kann. Das ist ja auch ganz wichtig. Klingt für mich ganz gut, aber so einfach ist es nicht?
Switek: Das klingt nach einem charmanten Modell. Nur ist es so, dass viele Politikfelder miteinander zusammenhängen. Die Frage der Finanzpolitik, wofür geben wir welches Geld aus, berührt dann wieder viele andere Bereiche. Ich glaube, dass dieses Trennschärfe nicht funktionieren kann. Schwarz-Grün hat das mal versucht, auf Länderebene eine Ergänzungskoalition in Hamburg so zu bezeichnen. Die ist aber auch vor Ende der Legislaturperiode auseinandergegangen. So leicht ist das nicht, diese Politikfelder komplett voneinander abzutrennen.
May: Wie sehen Sie denn einen Kompromiss, oder wo sehen Sie denn eine Möglichkeit eines Kompromisses?
Switek: Ich glaube, letztlich muss sich jetzt die CSU im Bereich der Flüchtlingspolitik bewegen. Das ist der größte Knackpunkt.
Die FDP als Brückenbauer?
May: Aber da kriegt sie ja Schützenhilfe von der FDP.
Switek: Ja, wobei die FDP da durchaus eine ambivalente Position hat, und auch gerade, was die Zuwanderung bei Fachkräften angeht, näher bei den Grünen ist. Da kann die FDP gewissermaßen auch eine Brücke sein. Die Union hat sich da, glaube ich, auch schon ein Stück bewegt, und es ist ja auch Merkels Flüchtlingspolitik, die da zur Debatte steht. Ich glaube, da muss sich die CSU bewegen, so wie es ja die anderen schon in unterschiedlichen Bereichen gemacht haben – denken wir an den Solibeitrag, wo man dann über Laufzeiten reden kann. Aber bei dieser Frage der Begrenzung der Zuwanderung, da muss noch ein Kompromiss gefunden werden. Sonst werden die Parteien nicht zusammenfinden.
May: Und wo müssen sich die Grünen bewegen? Das ist ja immerhin die einzige Partei, die aus dem vormals linken Lager, wenn man das so bezeichnen darf, gerade zu den Bürgerlichen wechseln will.
Switek: Genau das ist es, und ich glaube, deshalb – denken Sie daran: Es gibt noch Parteitage und Mitgliederentscheide – können die Grünen sich auch nicht zu weit bewegen. Sie brauchen einen gewissen Preis dafür, dass sie das Lager wechseln und das erste Mal diese Koalition auf Bundesebene mit Union und FDP eingehen. Und sie müssen ihrer Partei, ihrer Basis auch Gewinne verkaufen, und wenn die nicht erkennbar sind, dann könnte es sein, dass die Parteimitglieder sagen, dann stimmen wir auch gegen so einen ausgehandelten Koalitionsvertrag.
Angst vor Neuwahlen
May: Mein Eindruck ist, dass das Verständnis in der Bevölkerung abnimmt, dass die Sondierer nicht zu Potte kommen. Wer müsste denn die größte Angst vor Neuwahlen haben?
Switek: Das ist die Glaskugel, die wahrscheinlich auch die Parteien gerade umtreibt. Die Situation ist sehr, sehr neu. Wir kannten das bisher so nicht. Die Regierungsbildung lief immer sehr schnell. Sie haben die niederländischen Verhältnisse angesprochen. Es ist die Frage natürlich, an wem scheitern dann die Verhandlungen, und es könnte sein, dass die Wähler dann tatsächlich da die größte Kritik dann äußern oder sagen, weil es jetzt an der Union gescheitert hat, entziehen wir da die Sympathien.
Es ist sehr stark die Frage, wie man jetzt aus diesen Sondierungen rauskommt und wie es weitergeht. Wenn zum Beispiel die Parteibasis einen Vertrag ablehnt, dann können natürlich die Verhandlungsführer auch immer sagen, wir haben verhandelt, aber unsere Partei wollte es letztlich nicht.
May: Momentan sieht es ja eher so aus, als würden die Bürger der CSU die Schuld geben?
Switek: Ja, tatsächlich dadurch, dass man den Eindruck hat, dass es weniger Kompromissbereitschaft da gibt, klingt das so. Der Generalsekretär war ja jetzt beim letzten Auftritt auch deutlich leiser als vorher, so dass man das Gefühl hat, es wird doch auch wieder konstruktiv gearbeitet. Ich glaube, den Eindruck wollen die Wähler schon, dass alles versucht wird, diese Koalition zu schmieden. Andererseits sind es sehr, sehr unterschiedliche Parteien mit unterschiedlichen Plattformen und dann muss man durchaus auch akzeptieren, dass die sagen, wir finden keine gemeinsame Basis für eine Regierung, die man ja braucht, um als Regierung handlungsfähig zu sein.
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