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Russland, Kunst und die Kirche

Im Zuge der Verurteilung der Punkband Pussy Riot ist die Rolle der künstlerischen Opposition in Russland wieder in den Fokus geraten. Die Nähe zwischen Kirche und Staat wurde auch wieder deutlicher. Der gesellschaftliche Druck steigt und einige Künstler üben Selbstzensur.

Von Thomas Franke | 30.09.2012
    Die Aktionen von Pussy Riot seien geschmacklos, sagt Stepan Gardeev, der sich selbst als Künstler bezeichnet, und trifft so ungefähr die Mehrheitsmeinung in Russland.

    "Wie soll so eine politische Aktion mich als Künstler beeinflussen. Das ist allenfalls ein tragisches Ereignis, das die Kunstszene spaltet."

    In der russischen Gesellschaft gibt es einen kollektiven Druck zum Konformismus. Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns. Kritiker gelten als vom Ausland gesteuert, gemeint sind damit meist die USA. Auch ist für viele unvorstellbar, dass die Künstlerinnen von Pussy Riot ihre schlauen Bemerkungen allein formuliert haben.

    Die Szene ist gespalten, nicht nur in Sympathisanten und Gegner von Pussy Riot. Viele Künstler passen sich dem gesellschaftlichen Klima an, und auch Galerien und Museen passen auf, nicht öffentlich mit staatlichen Organisationen in Konflikt zu geraten, besonders nicht mit der Kirche. Die Selbstzensur ist wieder da.

    Mascha Kiseljova auf dem Weg zur Post. Dort wartet ihr Kollege und Lebensgefährte, der Aktionskünstler Artiom Loskutov.

    "Während des Prozesses gegen Pussy Riot habe ich immer gedacht, das ist nur ein Witz. Und gleich stehen alle auf und lachen. Ich kann mich nicht damit abfinden, dass so etwas zu meiner Zeit, in meinem Land stattfindet und nicht im Mittelalter. Dass es Leute gibt, die sagen, das sind Hexen und sie müssen verbrannt werden. Du denkst, das sind ganz normale Leute, und dann sagen sie so was."

    Mascha Kiseljova ist 21 Jahre alt und Designerin, arbeitet aber meist als Möbelverkäuferin. Artiom Loskutov packt Tütenweise dicke Briefumschläge auf den Paketschalter. In den Umschlägen sind T-Shirts. Darauf eine Ikone mit der Strumpfmaske, dem Markenzeichen der Polit-Aktivistinnen. Der Erlös geht zu Gunsten der inhaftierten Musikerinnen von Pussy Riot.

    "Wir haben keine Filmemacher, die soviel bewirken. Und Schriftsteller schaffen das auch nicht. Das war sicher eines der wichtigsten künstlerischen Ereignisse."

    Die meisten Pakete schicken sie nach Moskau und St. Petersburg. In der Provinz gibt es sehr wenige Sympathisanten. In der letzten Woche bekam Loskutov einen Anruf. Zwei Männer wollten T-Shirts kaufen, um Pussy Riot zu unterstützen. Sie trafen sich, die beiden bekamen die T-Shirts, Loskutov das Geld. Die beiden Männer waren Fahnder.

    "Später im Polizeirevier haben sie zwei Vergehen festgehalten. Einmal illegale Geschäftstätigkeit – ich hätte keine Quittung ausgestellt. Zweitens, Handel an einem nicht dafür vorgesehenen Ort, so als hätte ich irgendwo einen Stand aufgebaut. Das ist alles lächerlich."

    Ihm wurden auch schon mal Drogen untergeschoben. Berühmt wurde Loskutov in Kunstkreisen mit seinem Monstrationen. An jedem 1. Mai findet eine Kundgebung mit besonders sinnentleerten Losung statt, wie "Is was?" Einmal hat er dem großen Lenin-Monument in Novosibirsk ein Plakat ans Bein gebunden mit der leninschen Losung: Lernen, lernen und nochmals lernen. Damals war er 17 und wurde das erste Mal verhaftet, heute ist er 25. Gefahr geht aber nicht nur von Behörden aus.

    "Patriotische Organisationen machen derzeit gegen mich mobil, weil sie die T-Shirts als beleidigend empfinden."

    Im Sommer eskalierte solch eine öffentliche Empörung in Moskau. Stein des Anstoßes war eine britische Produktion der Oper "Sommernachtstraum" von Benjamin Britten. Anonym wandten sich die Eltern eines Chorknaben an Medien und beklagten, dass in der Aufführung Homosexualität verherrlicht werde und Pädophilie. Medien pumpten den Skandal auf, ohne das Stück vorher gesehen zu haben. Die Atmosphäre war dermaßen aufgeheizt, dass Experten in der Pause eine Pressekonferenz gaben, um die Sittlichkeit der Aufführung zu beurteilen. Einer war der Regisseur Dmitrij Bertman:

    "Ich verstehe das nicht, der Skandal ist absurd. Das Stück predigt keine Pädophilie. Absolut nicht. Eher im Gegenteil."

    Bertmann sprach von überkommenen Moralvorstellungen. Die Gesellschaft sei verklemmt, und das werde von der russisch-orthodoxen Kirche und von einer übereifrig willfährigen Presse noch verstärkt. Selbst in der Sowjetunion habe mehr künstlerische Freiheit geherrscht.

    "Auf dieser Bühne hat das Stanislawski Theater zu Sowjetzeiten das bekannte Stück 'Porgy and Bess' gezeigt. Die Handlung spielt in Amerika in einem Schwarzenviertel, in dem Drogensüchtige leben. Der Held handelt mit Drogen. Bess nimmt Drogen. Auf dieser Bühne wurden in der Sowjetunion drei Stunden lang Drogen geschnüffelt! Nicht mal die Prawda hat damals gewagt, das zu kritisieren. Was ist bloß in diesen Jahren der Freiheit passiert?"

    Solche moralischen Kampagnen würden nicht ohne Ziel losgetreten, meint Larissa Maljukova, Kritikerin bei der unabhängigen Zeitung "Novaja Gazeta".

    "Das erinnert zwar ein wenig an das sowjetische System, kommt aber grotesk daher. Fast wie eine Farce. Da wird zum Beispiel gegen Zeichentrickfiguren gekämpft, gegen einen Wolf, nur, weil er raucht – dabei ist er sogar eine negative Figur. Bei uns folgen auf solche Aktionen immer Gesetze. Oft sagen wir: Hoffentlich wird aus diesem Schwachsinn jetzt nicht noch ein Gesetz. Aber dann kommt es."

    In diesem Sommer wurden Gesetze auf den Weg gebracht, die die Verbreitung von Homosexualität verbieten. Da kam der Opernskandal gerade recht.