Dienstag, 30. April 2024

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Österreichs neue Regierung
"Kurz hat eine Machtfülle wie kaum ein Bundeskanzler"

Christian Rainer, Chefredakteur des österreichischen Magazins "Profil", blickt bei der heute vereidigten neuen österreichischen Regierung mit mehr Sorge auf den Kurs von Kanzler Sebastian Kurz als auf den der rechtspopulistischen FPÖ: "Möglicherweise wird es eher Kurz sein, vor dem Österreich ein bisschen Gänsehaut haben müsste", sagte er im Dlf.

Christian Rainer im Gespräch mit Martin Zagatta | 18.12.2017
    ÖVP und FPÖ präsentierten auf dem Kahlenberg nach der gestrigen Einigung genau zwei Monate nach der Wahl das regierungsprogramm der türkis-blauen Koalition. Die designierten Regierungschefs, Sebastian Kurz, Bundeskanzler (L/ÖVP), Heinz-Christian Strache Vizekanzler (R/FPÖ)
    Der neue Bundeskanzler von Österreich, Sebastian Kurz (l, ÖVP) und sein Vizekanzler Heinz-Christian Strache (FPÖ) (imago / Georges Schneider )
    Martin Zagatta: In Wien bin ich jetzt mit Christian Rainer verbunden. Er ist Chefredakteur des Nachrichtenmagazins "Profil". Guten Tag, Herr Rainer!
    Christian Rainer: Hallo! Schönen guten Tag aus dem ein wenig umkämpften Wien.
    "Menschheit hat sich an Populisten in Regierungen gewöhnt"
    Zagatta: Wenig umkämpft ist vielleicht schon das Stichwort. Das wollte ich Sie nämlich genau fragen. Vor 17 Jahren, als die FPÖ zum ersten Mal mit an die Regierung kam, da waren noch mehr als 100.000 Menschen auf der Straße. Da hat es heftigen Protest gegeben. Auch Ihr Magazin war damals ganz, ganz kritisch. Jetzt wirkt dieser Protest eher verhalten. Haben sich die Österreicher schon an die Rechtspopulisten gewöhnt, oder hat sich die Partei inzwischen so verändert?
    Rainer: Sie haben vollkommen recht. Bei mir hier im Büro hängt die Titelseite des damaligen "Profil". Die hieß "Schande Europas". Damals gab es Sanktionen und die Situation war natürlich eine andere. Einerseits derzeit alternativenlos, weil die Alternative wäre gewesen SPÖ mit Sozialdemokratie, was auch um nichts besser ist. Darüber hinaus hat sich die Menschheit und nicht nur die Österreicher nun irgendwie doch daran gewöhnt, dass radikale Rechte und Populisten in Regierungen gehen. Vielleicht auch noch sehr persönlich gesagt: Der Abstand zu 1945 ist doch etwas größer geworden und die Personen, die nun in der Regierung sind oder der Regierung nahestehen, stehen eher den Neonazis nahe, sind also Rechtsradikale, während damals mit Jörg Haider doch eher die Nähe zu Altnazis im Vordergrund stand. Das macht auch einen Unterschied aus.
    "Das Weltbild ist noch dubioser als im Jahr 2000"
    Zagatta: Aber jetzt sagen doch Intellektuelle, so habe ich das zumindest gelesen, einige Intellektuelle in Wien, die FPÖ, die sei jetzt noch schlimmer als vor 17 Jahren. Ist das Panikmache?
    Rainer: Es ist keine Panikmache; es ist eine richtige Analyse. Damals wie jetzt fürchtet ja niemand, dass die Politik als solche zu konservativ würde. Das wird sie, das ist eine gewählte konservative Regierung. Aber im österreichischen Parlament, in dieser FPÖ-Fraktion, 40 Prozent der Abgeordneten – das sind dann schon fast alle männliche Abgeordneten – gehören schlagenden Burschenschaften an und die vertreten nun, um es milde zu formulieren, ein pangermanisches Weltbild und hinter vorgehaltener Hand wird dann natürlich die Zeit in Österreich zwischen 1938 und 1945 relativiert, wenn nicht sogar freundlich kommentiert. Also ja, das Weltbild dieser Menschen, die nun im Nationalrat sitzen und eben auch in der Regierung vertreten sind, ist eher noch dubioser, als es jenes im Jahr 2000 war.
    Zagatta: Und wer gibt jetzt Ihrer Ansicht nach den Ton an in dieser Koalition? Hat der neue Regierungschef, hat Sebastian Kurz das im Griff?
    Rainer: Sebastian Kurz hat eine Machtfülle wie kaum ein Bundeskanzler in den letzten Jahrzehnten, weil er fulminant diese Wahl gewonnen hat für die ÖVP. Er hat damit auch seine eigene Partei nicht so gegen sich, wie vielleicht die CDU die CSU gegen sich hat. Und mit Heinz-Christian Strache, der nun Kreide gefressen hat, und seinem Team kann er zumindest eine Zeit lang sicherlich ganz locker umgehen. Der Widerstand käme eher aus der eigenen Partei, oder aber – und das würde auch ganz spannend – möglicherweise wird es eher Sebastian Kurz sein, vor dem sich in der Realpolitik Österreich fürchten vielleicht nicht, aber vor dem Österreich ein bisschen Gänsehaut haben müsste, erst recht Europa natürlich.
    Wendet sich Kurz Orbán und den Visegrad-Staaten zu?
    Zagatta: Was muss man da erwarten, wenn Sie sagen, Europa muss da Gänsehaut haben? Sebastian Kurz hat sich ja in der Vergangenheit als Außenminister sehr kritisch geäußert, zur Flüchtlingspolitik etwa von Angela Merkel. Dann in einem Interview jetzt zu seiner Amtseinführung, da hat er recht europafreundliche Töne von sich gegeben. Was erwarten Sie?
    Rainer: Sie sagen es mit Ihrer doppelten Analyse. Einerseits war er nun wirklich Gegner von Angela Merkel in der Flüchtlingsfrage. Er hat sich nicht wie seine Vorgänger im Schatten von Angela Merkel gesonnt, sondern eine völlig andere Politik gemacht. Und wann immer ich hier mit Diplomaten spreche, oder auch mit ausländischen Politikern, ist die Frage nie diejenige, wohin wird die FPÖ gehen, sondern die Frage, wird sich Sebastian Kurz jetzt den Visegrad-Staaten, vor allem Ungarn und Herrn Orbán zuwenden, da er ja da wohl eine Brückenfunktion innehat, da ihm kein kritisches Wort über Orbán über die Lippen kam, dass er auch Polen kaum kritisiert. Die Frage, ob auch in der EVP natürlich ein gewisses Vakuum herrscht, ob er da jetzt nach westeuropäischen Werten oder eher nach den Werten von Tschechien, der Slowakei, Polen und Ungarn handeln wird, diese Frage ist offen und ich bin mir da wirklich, wirklich nicht sicher, und das ist natürlich für Europa in der Realpolitik bedeutender als die moralische Frage, ob Menschen mit einem Weltbild wie jenes der FPÖ in einer westeuropäischen Regierung vertreten sein sollten.
    Vorbildwirkung für andere Länder in Westeuropa?
    Zagatta: Aus der deutschen SPD heißt es heute in einem Kommentar, Österreich-Ungarn ist wieder da. Mit dem Brandstifter Orbán gehe es jetzt im Dreivierteltakt nach rechts. Sehen Sie das ähnlich?
    Rainer: Ich habe diesen Kommentar aus der SPD gelesen. Ich würde keinesfalls sagen, dass es nach rechts geht. Es ist schlicht eine Möglichkeit. Ich habe vor einiger Zeit einen Leitartikel geschrieben, der hieß auch "Sebastian Orbán", aber mit einem großen Fragezeichen. Es ist eine Möglichkeit, weil einerseits die Realpolitik in der Flüchtlingsfrage sich nun in Österreich, wohl auch in Deutschland eher der Realität in Ungarn angepasst hat, also schlicht ein Abschotten. Die Frage ist nur, inwieweit das dann übergreift mit Metastasen in andere Wertewelten, in die Frage, wie man die Presse und die journalistische Freiheit und Unabhängigkeit behandelt, in die Frage, wie man denn nun konkret mit Flüchtlingen und Asylbewerbern umgeht, die Frage ganz generell, wie die Menschenrechte gehandhabt werden. Und da besteht nun doch noch ein größerer Unterschied zwischen der inzwischen in der Flüchtlingsfrage in eine Abschottungspolitik gekippten westeuropäischen Politik und dem, was Orbán tut. Wenn sich Österreich da ändern und wandeln sollte, dann könnte das natürlich vielleicht nicht ein Flächenbrand sein, aber dann könnte das wiederum Vorbildwirkung für andere Länder in Westeuropa haben.
    Zagatta: Aus Wien Christian Rainer, der Chefredakteur des Nachrichtenmagazins "Profil". Danke für das Gespräch.
    Rainer: Danke herzlich.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.