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Epos über ein knappes Jahrhundert algerischer Geschichte

Da wälzt er sich in der Gosse, der ohnmächtige Mensch. Vom Leben auf das Härteste geschlagen, haben ihn irgendwann die Kräfte und mehr noch: Hoffnung und Mut verlassen. Jahrelang hat er sich gewehrt, ist angerannt gegen das Schicksal, doch irgendwann konnte er nicht mehr. Und so hat er mit dem Trinken begonnen, wurde einer jener Säufer, die selbst die Wirte der übelsten Spelunken noch vor die Türe setzen. Und so, durch den Dreck kriechend, präsentiert er sich dem Sohn, seinem Kind, das ihn einst so bewunderte. Aber nun gibt es nichts mehr zu bewundern. Vor Jahren hat man dem Vater kurz vor der Ernte das Feld abgebrannt, die Schulden konnten nicht mehr bezahlt werden, die Familie wurde obdachlos. Seitdem ging nichts mehr.

Von Kersten Knipp | 11.10.2010
    Es sind eindringliche Szenen, die Yasmina Khadra dem Leser vor Augen führt. Szenen aus dem Algerien der 1930er-Jahre, in dem viele Menschen ums tägliche Dasein kämpften, ohne Hoffnung, der Armut irgendwann entrinnen zu können. Es sind Bilder der Verzweiflung, die Khadra entwirft – aber auch Bilder von großer literarischer Schönheit.

    "Ich schreibe mit der Sensibilität des Sahara-Menschen. In der Sahara leben wir in einer inneren Welt, einer Welt der Gedanken. Es ist eine innere Welt. Mauern etwa sind für mich keine schlichte Anhäufung von Steinen oder eine Zementmasse. Sie sind auch die Arbeit eines Menschen. Und deswegen versuche ich auch ihnen etwas Menschliches zu geben, ich versuche sie sprechen zu lassen. Ich reise sehr viel, und es gibt Städte, die sprechen mich sofort an. Sofort. Und andere drehen mir den Rücken zu. Ich versuche immer, die menschliche Seite der Materie zu sehen, der vom Menschen bearbeiteten Materie. All das ist Teil meiner eigenen Menschlichkeit. Die Sonne hat eine Seele. Eine Stadt hat ihre Seele, ihre Phantome, ihre Gespenster, ihre Idole, ihre Mythen."

    Vielleicht ist "Die Schuld des Tages an die Nacht" Khadras bislang bester Roman. Nach literarischen Ausflügen in den Irak, nach Afghanistan und Israel/Palästina hat sich der 1955 geborene Autor nun wieder zurück in seine Heimat geschrieben. Und hatte er sich bisher einen Namen als einer der aufmerksamsten und kunstvollsten Chronisten des algerischen Bürgerkriegs gemacht, der gerade westlichen Lesern tiefe Einblicke in die sozialen und psychologischen Voraussetzungen des islamischen Fundamentalismus gab, so präsentiert er nun ein Epos über ein knappes Jahrhundert algerischer Geschichte. Das Buch beginnt in den 30er-Jahren, noch unter der Herrschaft der Franzosen. Viele Algerier leiden Not. Dank glücklicher Umstände gelingt es dem Ich-Erzähler, dieser Not zu entkommen. Er wächst auf in den gehobenen Schichten des Landes, mit einer französischen Stiefmutter und französischen Freunden. Er ist geachtet, erfährt immer wieder aber auch den latenten Rassismus der Europäer. Araber sind faul, man muss sie hart anfassen – immer wieder muss der Erzähler solche Aussagen hören, auch wenn sie sich nicht auf ihn selbst beziehen. Aber sie zeigen ihm, wie die Franzosen über die Algerier denken, wie arrogant und überheblich sie sich ihnen gegenüber verhalten. Und sie lassen nachvollziehen, warum der algerische Befreiungskrieg so brutal war, wie er war. Beide Seiten, Franzosen und Algerier, kämpften mit äußerster Verbissenheit – für ein Ziel, das sich aus algerischer Perspektive im Nachhinein als durchaus fragwürdig erweist.

    "Natürlich ist die Identität wichtig. Aber diejenigen, die die Identität gefordert haben, haben sich in einem Identitätswahn verfangen. Sie hatten keine gesellschaftlichen Projekte, sie hatten keine Pläne. Eigentlich hätte die Befreiung der Beginn einer neuen Ära sein müssen. Tatsächlich war es für uns aber ein Ende. Denn was taten wir, nachdem wir endlich frei unabhängig waren? Nichts. Wir hatten keine Ideen, kein Projekt, kein Programm. Wie soll man den Kolonisten verjagen? Das war alles, worüber wir nachdachten. Und nachdem sie endlich verjagt waren, wussten wir nicht, was wir mit unserem Erbe, unserer Kultur und Geschichte anfangen sollten. Viele algerische Befehlshaber sahen die Lage so: 1954 begann die Revolution, die 1962 in die Unabhängigkeit mündete. Die Zeit vor 1962 gilt als Vorgeschichte – und danach begann – Sciene Fiction."

    Die großen Hoffnungen, die die Algerier in die Unabhängigkeit setzten, erfüllten sich nicht, das hat Khadra in seinen vorhergehenden Büchern eindrücklich gezeigt. Sie handelten von Menschen, die ihre Hoffnungen und Pläne in einem von Korruption und Nepotismus beherrschten Staat nicht verwirklichen konnten und sich darum oft genug dem Islamismus zuwendeten. In dem neuen Roman streift Khadra die Zeit nach 1962 nur flüchtig. Der Ich-Erzähler ist einer Französin in unglücklicher Liebe verbunden, eine niemals sich erfüllenden Liebe, die Frankreich und Algerien aber trotzdem aneinander bindet. So folgt der Ich-Erzähler seiner Liebe nach Frankreich, doch auch dort finden sie nicht zusammen. Und doch: Als wollte Khadra die zähen Jahre nach 1962 ausblenden, konzentriert sich der letzte Teil des Romans vor allem auf Frankreich. Algerien, so scheint es, ist weiterer Worte in den 70er und 80er-Jahren nicht wert.

    "Mein Land, Algerien, ist sehr schön, und das algerische Volk ist großartig. Es ist gastfreundlich, warmherzig, offen. Aber es hat nicht das Glück, von Leuten regiert zu werden, die in der Lage wären, die Hoffnungen der Bürger zu verwirklichen. Darum ziehen viele Algerier es vor, das Land zu verlassen. Alle Ambitionen, Initiativen, Berufungen laufen ins Leere, es gibt für die meisten Menschen keine Perspektiven. Was das Gesetz nicht verbietet, untersagt die Religion: Vieles ist 'haram', verboten. Deswegen wollen die Leute raus. Sie glauben, sie hätten etwas zu geben, eine Großzügigkeit anzubieten, aber in ihrem Land sind sie wie in einer Zwangsjacke. Und das tötet sie, psychologisch wie moralisch. Irgendwo habe ich geschrieben, dass Algerien ein Paradies ist, dessen Verheißungen außerhalb seiner liegen. Die Leute würden lieber irgendwo sonst in der Welt leben als in einem Paradies, in dem die Traurigkeit vorherrscht."
    Der Roman wirkt auch darum so bewegend, weil Khadra die Protagonisten im Jahr 2008 noch einmal aufeinandertreffen lässt. Da sind sie alte, sehr alte Menschen, Zeugen eines algerischen Jahrhunderts, dessen Geschehnisse auch auf ihr eigenes Leben erhebliche Auswirkungen hatte. Khadra hat es von jeher verstanden, einfühlsame Porträts zu zeichnen. Aber diejenigen, die er in diesem Buch entwirft, berühren ganz besonders. Denn sie beschreiben die Läufe des Lebens, Biografien, die politisch sind, aber nicht nur. Vor allem sind es Biografien von Menschen, die ihr Leben in den Griff zu bekommen versuchen. Und gerade ihr Kampf zeigt, was die Menschen aus Ost und West, Orient und Okzident, verbindet: der Wunsch nämlich, ein Leben zu führen, das man an dessen Ende als glücklich bezeichnen kann. Das aber, zeigt der Roman, ist im Orient nicht leicht und im Okzident auch nicht. Dank der Übersetzungskunst von Regina Keil-Sagawe kann sich vom algerischen Überlebenskampf nun auch der deutsche Leser einen nachdrücklichen Eindruck machen.

    Yasmina Khadra: "Die Schuld des Tages an die Nacht".
    Aus dem Französischen von Regina Keil-Sagawe. Ullstein, 414 S., EUR 19,95