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Enkel der Holocaust-Generation
Mit dem Schatten leben

Immer mehr Holocaust-Überlebende sind extrem alt. Ihr Zeugnis wird fehlen. Ihre Erfahrungen prägen aber auch das Leben ihrer Nachkommen – bis hin zu den Enkeln. Diese dritte Generation lebt mit den Schatten ihrer Großeltern und bricht zunehmend das Schweigen.

Von Carsten Dippel |
    Ein Gruppe Häftlinge bewegt sich nach der Selektion zum Krematorium im KZ Auschwitz.
    Traumatische Erfahrungen bis in die Enkelgeneration: der Holocaust. (picture-alliance / dpa)
    Wie es ist, in einer Familie aufzuwachsen, die bis heute von der Shoah geprägt ist, davon erzählt Channah Trzebiner in ihrem Buch „Die Enkelin“. Es ist ein sehr persönlicher autobiografischer Essay, in dem sich die 1981 geborene Channah Trzebiner mit ihrer Familiengeschichte auseinandersetzt:
    „Niemand, glaube ich, hat mir jemals wieder so viel Aufmerksamkeit geschenkt wie mein Opa. Ein wahnsinnig intensives Zusammensein. Aber gleichzeitig natürlich eine unheimliche Traurigkeit, eine wahnsinnige Schwere, die in diesen Räumen hing. Man kann es gar nicht festmachen. Es ist die Körperhaltung gewesen, eingezogene Schultern, in die Leere starren, eigentlich nicht anwesend sein beim Gespräch.“
    Enkel haben lange geschwiegen
    Lange haben die Enkel der Shoah-Überlebenden geschwiegen. Doch seit einigen Jahren tauchen ihre Stimmen verstärkt in der Literatur oder im Film auf. Es bricht etwas auf in der sogenannten dritten Generation. Dabei werden oft sehr persönliche Zugänge zur eigenen Familiengeschichte gewählt:
    „Die Vergangenheit ist sehr gegenwärtig in meinem Leben. Und darüber, wie die Vergangenheit in der Gegenwart wirkt, wollte ich gern einen Film machen. Bis ich gemerkt habe, dass ich mich dafür mit meiner eigenen Familiengeschichte auseinandersetzen muss.“
    In ihrem Film „Schnee von gestern“ verfolgt die israelische Filmemacherin Yael Reuveny eine Spur ihrer Familiengeschichte, die sie über Lodz und Wilna bis ins brandenburgische Schlieben führt. Ihre Großmutter Michla hielt den geliebten Bruder Feivke für tot. Bis ihr jemand den Tipp gab, dass er lebe und sie am Bahnhof von Lodz treffen werde. Das war 1945. Doch Feivke kam nicht. Michla wanderte nach Israel aus. Was sie nicht wusste: Feivke Schwarz lebte tatsächlich. Er blieb nach der Befreiung aus dem KZ in Deutschland, heiratete und nannte sich fortan Peter. Michla und Feivke sind sich nie mehr begegnet. Reuvenys Film ist eine Reise in die Schatten der Vergangenheit zu Familiengeheimnissen, über die nicht geredet wurde.
    „Es waren definitiv nicht ihre Fragen. Es sind meine Fragen. Für sie, für die Überlebenden, ging es meist um den Schmerz. Weniger um Fragen. Wer Fragen stellen kann, ist privilegiert und das sind heute eben typische Fragen der dritten Generation. Je weiter man sich vom Trauma entfernt, umso mehr Fragen kann man stellen. Sie kommen mit dem zeitlichen Abstand. Das Trauma war bei der ersten Generation. Aber darüber wurde nicht gesprochen. Die Generation meiner Mutter brachte das alles ans Licht und wir als dritte Generation können uns nun fragen: Was macht das mit uns? Wir sind nah genug dran, um es zu fühlen. Aber auch weit genug weg, um fragen zu können.“
    In vielen Familien hat die Generation der unmittelbar von der Shoah Betroffenen über die eigene Lebensgeschichte nicht reden können. Channah Trzebiner hat ihr Buch „Die Enkelin“ erst nach dem Tod des Großvaters schreiben können. Und auch Yael Reuveny hat ihren Film nicht mehr zu Lebzeiten der Großmutter realisiert.
    Bettina Schwitzke wuchs in einer ländlichen Gegend auf. Ihre Mutter hat die Nazi-Zeit als Kind in einem Versteck in Schlesien überlebt. Streng genommen zählt Bettina Schwitzke damit zur zweiten Generation, obwohl sie sich selbst – Jahrgang 1976 – eher der dritten Generation zurechnet. Heute lebt die Biologin und Sozialpädagogin in Berlin, sie ist Mitglied der Jüdischen Gemeinde und arbeitet ehrenamtlich in der jüdischen Bildungsarbeit.
    „Wenn ich mein Familienleben vergleiche mit einer typischen deutschen Familie, gibt es massive Unterschiede. Als kleines Kind ist einem das natürlich nicht so bewusst, weil man den Vergleich nicht hat. Und später, wenn man dann in die Außenwelt geht, merkt man, nein, wir sind anders. Wir haben bestimmte andere Aspekte, die nachwirken und die uns in dem, wie wir Familie gestalten oder wie wir mit der Umwelt umgehen, anders sein lässt. Und das hat nichts mit Religion zu tun oder mit der Tatsache, welche Feiertage man hat.“
    Viel erzählt habe ihre Mutter nicht. Sie musste immer wieder nachbohren. Dass sie Jüdin ist, hat sie erst im Alter von neun oder zehn Jahren realisiert. Vielfach äußern Angehörige der dritten Generation teils starke Ängste, ohne dass sie sich diese erklären können. Sie berichten von einer überbehüteten und gleichzeitig kontrollierenden Erziehung. Kurt Grünberg, Psychoanalytiker am Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt am Main, arbeitet seit vielen Jahren mit Shoah-Überlebenden. Extrem traumatische Erfahrungen ließen sich nur schwer ins Leben integrieren. Sie würden oftmals abgespalten, bis plötzlich etwas aufbricht.
    „Überlebende können die Verfolgung nicht hinter sich lassen, nach dem Motto: Das ist Schnee von gestern, sondern das Erinnern dringt stetig ein in das auch Leben nach dem Überleben. Vielleicht kann man sich vorstellen, dass die Erinnerung wie ein ständig vorhandener Fremdkörper verstanden werden muss, der als fremd und zugleich bekannt erlebt wird. Und die Zeugen dieses immer wieder vorkommenden Sich-Erinnerns sind nun mal vor allem die Söhne und Töchter, die Enkelinnen und Enkel und die sind, ob sie wollen oder nicht, eingebunden in diesen sozialen Prozess, der auch von gesellschaftlichen Bedingungen abhängt.“
    Auch Enkel suchen Hilfe
    Die sprachliche Ebene werde dabei oft überschätzt, sagt Grünberg. Vieles werde eher nonverbal vermittelt, unbewusst, körperlich, im sozialen Miteinander. Auf diese Weise sieht sich auch die Enkelgeneration mit dem Trauma der Großeltern konfrontiert. Viele Angehöriger dieser dritten Generation suchen heute verstärkt psychotherapeutische Hilfe.
    „Die psychosozialen Spätfolgen der Shoah in der dritten Generation werden eher unterschätzt ist meine Ansicht. Ich habe das selber ursprünglich nicht glauben wollen. Ich habe naiverweise denken wollen, ach, wenn es den Angehörigen der zweiten Generation, wenn es denen gelingt, einigermaßen in ihrem Leben sich zurechtzufinden und was Eigenes zu finden, dann hat sich es damit, sozusagen. Und dem ist nicht so, sondern auch eine einzelne Generation wird nicht fertig mit dem, was geschehen ist.“
    Während sie von nichtjüdischen Freunden schon oft beinahe inquisitorisch ausgefragt worden sei, würde die Shoah im jüdischen Freundes- und Bekanntenkreis nur selten ein Thema sein, sagt Bettina Schwitzke. Indirekt schwinge es natürlich immer mit.
    „Wir wissen alle, was die Basics sind, die wir nicht verhandeln müssen. Natürlich gibt es Unterschiede, je nachdem, ob die Personen in Deutschland waren oder ob sie im Untergrund gelebt haben, ob sie im KZ waren, ob sie irgendwo in der russischen Armee gedient haben oder ob sie es noch in den 30er-Jahren geschafft haben, irgendwohin zu emigrieren. Trotz allem gibt es einen gewissen Common Sense: Jeder hat jemanden verloren, jeder hat irgendeine Geschichte zu erzählen und es ist ja auch zu schmerzhaft, sich ständig darüber zu definieren. Man muss ja im Hier und Jetzt auch weiterleben und Dinge tun.“
    Jom HaShoa als institutionalisierter Gedenktag in Israel
    In Israel haben die Erinnerung und das Gedenken an die Shoah einen festen, auch institutionalisierten Platz in der Gesellschaft. Am Jom HaShoah, dem jährlichen Holocaust-Gedenktag, steht für zwei Minuten das ganze Land still. Ob in der Schule, den Universitäten, in der Armee. In der Ausbildung und Erziehung, in den Familien, im Freundeskreis: Die Shoah ist tief in der Gesellschaft gegenwärtig. Als Filmemacherin Yael Reuveny sich entschied, nach Berlin zu ziehen – ausgerechnet in das Land der Täter – hat das in ihrer Familie zunächst viel Unverständnis hervorgerufen.
    „Wenn Israelis vom Zweiten Weltkrieg sprechen, sagen sie nicht damals, sondern dort. Es ist für sie ein Ort und keine Zeit. Als würde die Vergangenheit dort weiter bestehen. Aber es war für uns durchaus ein befreiendes Gefühl, dort zu sein. Natürlich, niemand kann dieser Vergangenheit entfliehen. Wir wachsen ja mit ihr auf. Es geht aber schließlich nicht darum, die Geschichte zu ignorieren, sondern einen anderen Umgang mit ihr zu finden. Wir sind eine andere Generation.“
    Yael Reuveny lebt seit 2005 in Berlin. Ihr Film „Schnee von gestern“ hatte vor allem in Israel großen Erfolg. Über Wochen war er ausverkauft. Viele aus der Elterngeneration haben sich ihn gemeinsam mit ihren Kindern angeschaut. Sechs Jahre hat Yael Reuveny an diesem Film gearbeitet.
    Was 1945 am Bahnhof von Lodz geschah, warum ihr Großonkel Feivke die Großmutter nicht traf, wurde im Laufe der Recherche immer weniger wichtig. Entscheidender war für Reuveny die Frage, was dieses Kapitel mit ihrer Familie gemacht hat. Und wie sich ein Weg aus diesem Trauma finden lässt.