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Nahost-Konflikt
"Massenmord an unserem Volk in Gaza"

Khouloud Daibes, Leiterin der palästinensischen Mission in Berlin, übt im DLF scharfe Kritik an Israel: Die Luftangriffe auf den Gazastreifen seien "ein barbarischer Krieg und Massenmord" an den Palästinensern. Der UNO-Sicherheitsrat müsse die Gewalt stoppen und Israel zu Verhandlungen zwingen.

Khouloud Daibes im Gespräch mit Mario Dobovisek | 10.07.2014
    Khouloud Daibes (Archivbild von 2009)
    Israelis und Palästinenser setzen weiter auf militärische Gewalt (dpa / picture-alliance / Robert B. Fishman)
    Daibes bezeichnete Gewalt gegen Palästinenser als "Alltag unter der israelischen Besatzung", die sich in den letzten Tagen lediglich verschärft habe. Diese "Entmenschlichung und Entrechtung", die Belagerung von Gaza und das Scheitern der Friedensverhandlungen hätten zu der Gewalt geführt, die man nun erlebe.
    Die Entführung und Ermordung dreier israelische Jugendlicher sei für Israel nur ein Vorwand gewesen, den geplanten Krieg zu starten. Auf palästinensischer Seite würden jeden Tag Menschen erschossen oder entführt. "Es ist unsere Pflicht, Widerstand zu leisten und auf Freiheit hinzuarbeiten", sagte Daibes. Vom Aufruf der Hamas, alle Israelis zu töten, distanzierte sie sich: "Das ist nicht nicht unsere Sprache, wir sind prinzipiell gegen das Töten von Zivilisten."
    Der Sicherheitsrat sei nun aufgefordert, "diesen Krieg zu stoppen und Israel zu zwingen, internationales Recht einzuhalten".



    Das Interview in voller Länge:
    Mario Dobovisek: Krieg im Nahen Osten - wieder waren alle Friedensbemühungen vergebens, wieder sprechen allein die Waffen zwischen Israelis und Palästinensern. Spätestens seit die rivalisierenden Palästinenser-Gruppen, die Fatah im Westjordanland und die Hamas im Gazastreifen, ihre Einheitsregierung ausriefen und Israels Premier Netanjahu daraufhin sämtliche Gespräche abbrach, war klar: Es bedurfte nur eines kleinen Funkens, um das getrocknete Schießpulver wiederzuentzünden. So geschehen mit der Entführung und Ermordung dreier jüdischer Religionsschüler und dem anschließenden Lynchmord an einem palästinensischen Jugendlichen. Jetzt fliegen Raketen und Kampfhubschrauber.
    Am Telefon begrüße ich Khouloud Daibes, sie leitet die palästinensische Mission in Berlin, ist also die Vertreterin der palästinensischen Autonomiebehörde in Deutschland. Guten Morgen, Frau Daibes!
    Khouloud Daibes: Ja, guten Morgen!
    Dobovisek: Nach der ersten und der zweiten Intifada, erleben wir dieser Tage die dritte Intifada?
    Daibes: Es ist ein Krieg, ein barbarischer Krieg und Massenmord an unserem Volk in Gaza, was auch Alltag geworden ist unter der Besatzung. Es hat sich verschärft in den letzten Tagen, aber man darf nicht vergessen, das ist der Alltag der Palästinenser unter der israelischen Besatzung. Die Entmenschlichung, die Entrechtung, die Belagerung von Gaza, das Scheitern der Verhandlungen, das führt zu dieser Gewalt, die kein Ende nimmt, und die internationale Gemeinschaft ist heute dringend aufgefordert, erst mal diese Gewalt zu stoppen, einen internationalen Schutz der zivilen Bevölkerung zu garantieren und Israel dazu zu zwingen, zurück zu Verhandlungen zu kommen, um eine politische Lösung zu erreichen.
    Dobovisek: Sie sprechen von Massenmord. Israel spricht von ständigen Angriffen, die in den vergangenen Monaten sogar stärker geworden sind, nämlich mit Raketen. Was sollen also diese Angriffe?
    Daibes: Das sind asymmetrische Machtverhältnisse. Man darf nicht vergleichen und vergessen. In Ihrem Bericht war zu hören, in Gaza sterben Familien, ganze Familien werden ausgerottet. Die haben weder Vorwarnsysteme, noch Schutzräume. Das Kernproblem nochmals ist die Besatzung, ist die Gewalt der Besatzungsmacht und der bewaffneten Siedler, das Scheitern der Verhandlungen, die Hoffnungslosigkeit, die herrscht. Es war ein Vorwand, um den Krieg, den geplanten Krieg in Gaza zu starten. Ich glaube, heute ist Israel aufgefordert, sich nicht für die rechtsextremistischen Mächte in Israel zu hofieren. Es gab viele Politiker, die zu Rache vom ersten Tag an aufgefordert haben. Die Provokation hat viel früher angefangen, nicht mit der Entführung der drei Siedler. Es gab Kinder und Frauen, die jeden Tag in der Westbank, in Jerusalem, in Gaza kaltblütig erschossen wurden. Insofern darf man hier nicht sagen, dass es nur damit angefangen hat. Man muss die ganze Situation sehen und betrachten und die Palästinenser, die unter der Besatzung stehen, die ja definitionsgemäß sehr gewalttätig ist. Es ist unsere Pflicht eigentlich, Widerstand zu leisten und für Freiheit zu arbeiten und darauf hinzuarbeiten.
    Dobovisek: Widerstand und Freiheitskampf, so nennen Sie es. Israel nennt es Terrorismus. Die Hamas erklärte, so wörtlich, alle Israelis zum legitimen Ziel, also auch Frauen und Kinder, und das Ziel sind die Angriffe durch Raketen. Seit gut einem Monat gibt es wieder eine Einheitsregierung von Fatah und Hamas, Frau Daibes. Sie sprechen zwangsläufig auch für die Hamas im Gazastreifen. Aber sprechen Sie auch die gleiche Sprache?
    Daibes: Das war die Chance, die Israel nochmals verpasst hat. Die Einheitsregierung war der Anfang, um wieder Hamas ins politische System zu integrieren. Hamas war bereit, den Voraussetzungen gerecht zu werden, die auf Frieden hinarbeiten.
    Dobovisek: Aber noch einmal die Frage, Frau Daibes. Verzeihen Sie, wenn ich da unterbrechen muss. "Alle Israelis zum legitimen Ziel", das hat die Hamas gesagt. Ist das auch Ihre Sprache?
    Daibes: Das ist nicht unsere Sprache. Wir sind prinzipiell gegen das Töten von Zivilisten. Wir setzen uns immer noch für Frieden und für die Friedensverhandlungen ein. Aber die Weltgemeinschaft muss das würdigen. Der Sicherheitsrat ist heute aufgefordert, erst mal diesen Krieg zu stoppen und zweitens Israel zu zwingen, sich im Rahmen des internationalen Rechts zu verhalten. Das ist, was wir heute brauchen. Wir brauchen nochmals eine Chance, um zum Frieden zu kommen. Der Staat Israel verteidigt nicht seine Bürger, sondern die Besatzung. Die Besatzung ist hässlich und kann nicht verschönert oder verwaltet werden. Das muss die Welt begreifen, das muss Israel begreifen und die israelische Gesellschaft. Und ich appelliere an die Vernunft, an die vernünftigen Israelis und die, die sich für Frieden einsetzen, sich zu fragen, sind wir zu Rassisten geworden, ist das der Apartheidsstaat, was wir uns wünschen. Entweder die Zwei-Staaten-Lösung, oder die Ein-Staaten-Lösung, oder ein Apartheidssystem, diese drei Optionen haben wir. Eine vierte Option gibt es nicht. Und nur wenn wir wieder zurückkehren, Frieden zu schaffen, ist die Sicherheit der Zivilisten auf der palästinensischen Seite und auf der israelischen Seite garantiert.
    Dobovisek: Gehören zum Frieden schaffen die Raketen der Hamas?
    Daibes: Nein, die gehören nicht dazu. Ein Staat Palästina wird sich wie alle anderen Staaten verhalten und wird die Sicherheit seiner Nachbarstaaten anerkennen. Es gibt so viele Initiativen, Friedensinitiativen, die noch auf dem Tisch liegen, einschließlich die arabische Friedensinitiative, die Israel das anbietet.
    Dobovisek: Pardon! Bevor wir zu weiteren Initiativen kommen, Frau Daibes, möchte ich noch einen Moment bei der Hamas bleiben. Dann hatte Israels Premier Netanjahu also Recht, als er sagte, eine Einheitsregierung mit der radikalen Hamas am Tisch sei kein Verhandlungspartner und Friedensgespräche wären so unmöglich?
    Daibes: Der Friedenspartner auf der palästinensischen Seite ist die PLO, geführt von unserem Präsidenten, der ja für alle Palästinenser spricht und der sich für Frieden einsetzt.
    Dobovisek: Auch die Hamas.
    Daibes: Einschließlich Hamas, und Hamas hat sich dazu bereiterklärt. Nur die Provokation kam von der israelischen Seite. Diese Massenverhaftungen, das Töten von Zivilisten, das sind Kriegsverbrechen und dafür muss Israel zur Rechenschaft gezogen werden.
    Dobovisek: Was wir in den vergangenen Jahrzehnten des Nahost-Konflikts ja lernen mussten und was wir auch in diesem Gespräch wieder hören, ist die Tatsache, dass es eben nicht einfach nur Schwarz oder Weiß gibt, Gut oder Böse. Es gibt vielmehr zwei Seiten, die unterschiedlicher kaum sein könnten, und einen Teufelskreis der Gewalt. Machen Sie doch bitte einen konkreten Vorschlag, wie Sie diesen Teufelskreis jetzt durchbrechen wollen.
    Daibes: Der konkrete Vorschlag ist erst mal diesen Krieg zu stoppen. Dann ist die Weltgemeinschaft aufgefordert, die Zwei-Staaten-Lösung durchzusetzen, wenn es dafür nicht überhaupt schon zu spät ist. Die weitere Besetzung von palästinensischem Land ist nicht die Lösung. Die Siedler dürfen nicht die Macht haben, unsere Menschen, unsere zivile Bevölkerung zu terrorisieren. Das ist auch Gewalt und das darf man nicht vergessen und das muss auch gestoppt werden. Wir sind dazu bereit, unsere Führung ist dazu bereit, zurückzukehren zu Friedensverhandlungen, und es müssen ernste Verhandlungen geführt werden, die zu einem palästinensischen Staat führen, der dann für die Sicherheit seiner Bevölkerung zuständig ist und für die Sicherheit seiner Nachbarländer einschließlich Israel.
    Dobovisek: Wenn Sie fordern, den Krieg zu stoppen, dann gehören dazu ja zwei Seiten. Israel hat ja eindeutig gesagt, stoppt die Hamas ihre Raketenangriffe, werden auch die Waffen der Israelis schweigen. Warum feuert die Hamas also weiter?
    Daibes: Es gab immer wieder Waffenstillstand. Israel verhandelte indirekt mit Hamas und Hamas war immer bereit zu einem Waffenstillstand, um die zivile Bevölkerung zu schützen, und das wird auch der Fall sein, wenn die israelischen Angriffe auf Gaza stoppen.
    Dobovisek: Was sollte der UN-Sicherheitsrat heute beschließen? Welche Hilfe oder welche Lösung, welche Unterstützung erwarten Sie von der internationalen Gemeinschaft?
    Daibes: Wir erwarten heute ernste Entscheidungen, die Israel zur Verantwortung ziehen, erstmal wie gesagt diesen Krieg zu stoppen und eine Chance geben für Friedensverhandlungen, die dann erstmal diese Gewaltspirale beenden, und ernste Entscheidungen, die Besatzung im Rahmen des internationalen Rechts zu beenden. Israel steht nicht über dem Völkerrecht und die Welt soll Israel zu ihren Obligationen auch mitziehen. Das ist, was heute verlangt ist und dringend gebraucht wird.
    Dobovisek: Khouloud Daibes, die Vertreterin der palästinensischen Autonomiebehörde in Deutschland. Ich danke Ihnen für das Gespräch.
    Daibes: Ich danke Ihnen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.