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Wellenjagd

Ike hat Angst vor dem Bleiben und er hat Angst vor dem Fortgehen. Er ist achtzehn, er ist schmächtig, er lebt in einem winzigen Ort in der kalifornischen Wüste, repariert Motorräder in der Werkstatt eines Verwandten. Ike hat seinen Vater nie gekannt, seine Mutter ist abgehauen als er fünf war; seither hat er dieses Kaff eigentlich nicht mehr verlassen - abgesehen von dem einen einzigen Versuch, zusammen mit seiner älteren Schwester Ellen auszubüchsen. Damals war er zehn Jahre alt, und diese Schwester war alles was er hatte, sein einziger Halt.

Michael Schmitt | 20.09.2002
    Daran hat sich auch nie etwas geändert, während die beiden Geschwister älter geworden sind. Aber Ellen hat weniger Angst als Ike, sie setzt sich früher und energischer von der Verwandtschaft ab. Sie trifft sich mit Männern, lässt ihren Onkel abblitzen, als der ihr nachstellt - und macht sich irgendwann alleine und endgültig aus dem Staub.

    Ike bleibt zurück, ein Hinterwälder in abgeschnittenen Jeans, mit bedrucktem T-Shirt und mit selbstgeschnittenen kurzen Haaren. Einer der verlegen wird, wenn er mit Fremden reden muss.

    Und so ein Fremder, kaum älter als Ike selbst, steht zwei Jahre später neben einem roten Camaro an der Strasse und bringt schlechte Nachrichten von der Küste: Angeblich ist Ellen mit dubiosen Kerlen nach Mexiko gefahren und nicht wieder zurückgekommen. Möglicherweise ist sie tot. Also macht Ike sich auf die Suche nach Ellen, ohne Plan und mit nichts als einem Zettel, auf dem die Namen von drei Surfern stehen - und der Ort, an dem er diese Männer finden kann, wenn er mehr erfahren will: morgens, ganz früh, am Pier von Huntington Beach.

    Das ist die Ausgangssituation in Kem Nunns "Wellenjagd" - und wer nun einen Krimi mit Lokal- und Szene-Kolorit erwartet, der liegt nicht ganz falsch, aber auch nicht richtig. Dem Roman, der 1984 in den USA unter dem Titel "Tapping the source" erstmals erschienen ist, eilt in einschlägigen Gemeinden eher der Ruf voraus, das definitive Buch über die kalifornische Surfer-Subkultur zu sein - und das ist in diesem Fall eben doch mehr und anders als nur ein Plot über Drogen, Rocker und abgehalfterte Sportskanonen.

    Man sollte auch nicht erwarten, das man eine Geschichte in der Hand hält, wie sie Kathryn Bigelow in ihrem zehn Jahre alten Film "Point Break" erzählt hat - Kem Nunns Literatur ist sperriger als solche Reißer, und deshalb ist es auch kein Zufall, dass die Filmrechte von mehreren seiner Romane zwar verkauft sind

    dass aber noch kein einziges Drehbuch geschrieben zu sein scheint.

    Es gibt bei Kem Nunn nämlich keine eindeutigen Helden, keine Guten und Bösen -- es gibt nur die Graustufen zwischen Weiß und Schwarz; und es gibt die Schicksale, die Menschen so haben werden lassen, wie sie geworden sind: Niemals ganz freiwillig, aber auch nicht nur durch äußeren Zwang. "Wellenjagd" macht viele Anleihen bei den Erzählmustern klassischer Bildungs- oder Gesellschaftsromane - und reicht damit weit über jede Genre-Nische hinaus.

    Das bisherige Schicksal dieses Romans im deutschen Sprachbereich spiegelt diese merkwürdige, exterritoriale Situation des Buches und des Autors: "Tapping the Source" erschien 1990 als Paperback bei Ullstein, übersetzt von Herbert Schuster unter dem wenig verlockenden Titel "Nacht über Surf City" - und wurde kaum beachtet. Nun wagt sich der literarisch ambitioniertere DUMONT-Verlag an das Werk des Autors und legt die Geschichte von Ikes Initiation in die Surfer-Subkultur noch einmal vor - in einer überarbeitete Fassung der alten Übersetzung und unter dem neuen Titel.

    Im Kern geht es in "Wellenjagd" um das Erwachsenwerden, in diesem Fall unter Bikern mit dicken Oberarmen und derben Tätowierungen, unter durchtrainierten Surfern, unter Szene-Gurus und Dealern. Es geht um die Einsamkeit von Ike, der ausgerechnet an diesem unseligen Ort die Chance erhält, endlich einmal irgendwo dazu zu gehören; aber auch um die Einsamkeit von müden Helden, die als junge Männer, Mitte der Sechziger Jahre, als Sportler groß heraus gekommen waren - und die dann, vielleicht fünfzehn Jahre, später alle Freiheiten und Chancen verspielt haben; sie sehen aus wie die Outlaws, aber sie sind die Gefangenen ihrer Leidenschaften und kriminellen Machenschaften. Sie sind cholerisch und ständig betrunken, sie predigen abgedroschene Philosophien und rekrutieren eigentlich nur junge Mädchen als Darstellerinnen für Pornofilme oder als Drogenkonsumentinnen. Sie erinnern sich an das, was sie einmal waren - aber sie wissen auch zuviel übereinander, also sind ihre Freundschaften zerbrochen.

    Ike steht zwischen ihnen allen - und am Anfang weiß er nur eins: Er wird hier nichts erfahren, wenn er es nicht ganz geschickt anstellt. Aber wo soll diese Geschicklichkeit herkommen, wenn er doch nichts und niemanden kennt?

    Der Zufall hilft ihm - und mehr noch sein Geschick beim Reparieren von Motorrädern. Er kann zwar kaum fahren, aber er weiß, wie man einen Vergaser einstellt - und das verschafft ihm Zutritt. Von da an geht es sehr schnell - Huntington Beach nimmt ihn auf, aber diese Gesellschaft beobachtet ihn auch, weiß wahrscheinlich mehr als er ahnt -- und vor allem: mehr als ihm lieb sein kann. So wird er nach und nach an den Motiven irre, die ihn hergeführt haben. Er findet die Männer, die auf seinem Zettel verzeichnet sind, aber sie sind nicht so, wie er sie sich vorgestellt hat - nur seine Schwester, die findet er nicht - er findet noch nicht einmal eine konkrete Spur.

    Ike durchlebt eine Initiation: als Surfer, als Dealer und auch als zynischer Teilnehmer - aber sehr schnell geht er auch wieder auf Distanz, nimmt innerlich Abschied von dieser Welt, die anfangs zu grob für ihn ist und am Ende nur noch deprimierend eng. Kem Nunn erzählt das langsam und mit großem psychologischem Einfühlungsvermögen. Es gibt genügend Action-Elemente in diesem Roman, um ordentliche Spannung zu garantieren - aber mehr als das macht die Durchdringung aller Charaktere "Wellenjagd" zu eine packenden Studie über verschlissene Mythen, über die Gefühle von Halbwüchsigen, die zu schnell erwachsen werden und über altgewordene Idole mit der Figur von Zwanzigjährigen und verräterischen Falten um die kalten toten Augen.