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Ein kleiner Ami in Groß-Glienicke

Ein kleiner Ami in Groß-Glienicke, im Dunstkreis der geteilten Stadt Berlin, dem die Dorfkinder das Berlinern beibrachten und wie man mit dem Katapult Vögel schießt. Joel Agee, Sohn des US-Pulitzerpreisträgers John Agee, blickt zurück.

Vorgestellt von Wolfgang Stenke | 27.08.2009
    "Es war einfach das Land meiner Eltern, das Land meines Vaters – ich dachte an ihn als meinen Vater. Und allmählich eignete ich mir natürlich die Vorstellungen, die politischen und ideologischen Vorstellungen an, die mich umgaben."

    Von Ostdeutschland ist die Rede, von der sowjetischen Besatzungszone, die wenig später zur DDR wurde. Als Achtjähriger kam Joel Agee 1948 aus Mexiko hierher – mit seiner Mutter Alma, dem kleinen Bruder Stefan und seinem Stiefvater, dem Schriftsteller Bodo Uhse. Für den Antifaschisten Uhse war es die Rückkehr aus dem Exil in ein besseres, ein sozialistisches Deutschland. Für den Adoptivsohn Joel Agee, der die ersten Lebensjahre in Mexiko als "Gringo" verbracht hatte, wurde es der Versuch, heimisch zu werden in einem politischen System, dessen Werte ihm die Eltern vermittelten:

    "Ich glaubte an die Sache, dass sie eine gute war, dass sie die eigentlich menschliche war – und was sonst irgendwie nicht richtig war, das waren irgendwie Fehler und das lag einfach an der Unfähigkeit der Menschen, die gute Sache richtig zu begreifen, so glaubte ich, eine ganze Weile."

    Ein kleiner Ami in Groß-Glienicke, im Dunstkreis der geteilten Stadt Berlin, dem die Dorfkinder das Berlinern beibrachten und wie man mit dem Katapult Vögel schießt. Fußball und Sommertage am Badesee, aber auch das privilegierte Dasein der DDR-Kulturelite mit Chauffeur und Dienstmädchen. Im Hause des Volkskammermitglieds Bod Uhse, Chefredakteur des "Aufbau" und eine große Nummer im Schriftstellerverband, verkehrten Stephan Hermlin, Pablo Neruda und Ilja Ehrenburg. Flügel im Wohnzimmer, dazu eine Bronzeskulptur von Fritz Cremer und Bücher von der Art, die dem DDR-Normalbürger vorenthalten blieb. Die Mutter, die sich gerne bunte Bänder ins Haar flocht und ein Reitpferd hielt, kam nicht nur den Dorfbewohnern ungemein exotisch und zigeunerhaft vor.

    Für Joel Agee, den leiblichen Sohn des US-Pulitzerpreisträgers John Agee, begann der Zusammenstoß mit der Realität des Arbeiter- und Bauernstaates in der Pubertät. Der Junge schrieb Gedichte, schaute den Mädchen in die Bluse und interessierte sich einen Dreck für die Schule. Er sei "stinkend faul", bescheinigten ihm die Lehrer.

    "Die Schwierigkeit bestand darin, dass die Schule mich total langweilte. Es war langweilig – und ich kam aus einer Familie, wo es zu Hause so viel interessanter war, was es da an Büchern und Gesprächen gab. Da zeigte sich mir eine intellektuelle und künstlerische Welt, die den Lehrern unbekannt oder völlig uninteressant war. Das war nicht die Sache der Schule, also, sie sprach mich nicht an."

    Das Drama des begabten Kindes. Es hätte sich nicht nur im autoritären Erziehungssystem der DDR zutragen können. – Joel Agee:

    "Also, ein amerikanischer Rezensent meinte, das wäre mir in New Jersey, oder wie er witzig sagte, in East Frenchtown New Jersey, nicht anders gegangen. Das ist also die Situation einer dichterischen, künstlerischen Anlage in einem total pragmatisch ausgerichteten Land. Dass das die Situation war und dann die Menschen mit mir und ich mit ihnen Schwierigkeiten hatte."

    Diagnose: individuell geschuldetes, totales Schulversagen. Aber die politischen Verhältnisse, die ins Familiäre hineinspielten, darf man nicht außer Acht lassen. Der ehemalige Spanienkämpfer Bodo Uhse, so berichtet Joel Agee, bereute nach den Enthüllungen des 20. Parteitages sein stalinistisches Engagement. Er habe "diesem Schweinehund Stalin seine Seele verkauft", sein schriftstellerisches Talent vergeudet, bekannte Uhse – ein Geständnis allerdings unter dem Einfluss von acht bis zehn Bieren. Mit anderen Worten: Uhse pflegte seine politische Frustration im Alkohol zu ertränken, nachdem er seine kommunistischen Ideale durch eine Funktionärsexistenz verraten hatte. Ein unsicherer Kantonist war er auch in Beziehungsdingen. Dass seine Geliebte ein Kind von ihm erwartete, das gab der Ehe mit der amerikanischen Gattin den Rest. Agees Mutter machte den älteren Sohn in dieser schwierigen Situation zu ihrem Vertrauten – eine Rolle, die ihn bei Weitem überforderte. Er schwänzte immer öfter die Schule, fantasierte sich in eine Traumexistenz als genialischer Dichter. Das ging nicht gut. Vor weiteren schulischen Misserfolgen flüchtete er in eine Maurerlehre und wurde dann "Schwerarbeiter" auf der Warnower Werft.

    "Das hatte ja einen gewissen Status in der DDR, also ein Arbeiter zu sein. Es war ja der Arbeiter- und Bauernstaat - und vage schwebte mir die Vorstellung vor, dass ich so es irgendwie den Intellektuellen und Bonzen – all den Leuten, in deren Gesellschaft ich ja aufwachsen sollte und gegenüber deren Maßstäben ich total verfehlte – dass ich es denen jetzt als Arbeiter irgendwie zeigen würde. Eigentlich eine schwachsinnige Idee, ich war kein Proletarier, ich wusste gar nicht, wie ich mit den Werkzeugen umgehen sollte, die mir gegeben wurden."

    Des Nachts las dieser als Proletarier verkleidete Jugendliche im Arbeiterwohnheim Freud, dessen Werke die Stadtbibliothek nur mit Sondergenehmigung auslieh. Ansonsten: Knochenarbeit, Skat und Bier.

    "Ich wurde dann Teil dieser Brigade, in der ich war, und ich fand es ganz schön, dieses knappe Jahr, das ich dort arbeitete. Und dann plötzlich schieden sich meine Eltern und dann war das aus. Und auch aus mit meiner Zukunft in der DDR. Was mir ganz gelegen kam."

    Zusammen mit ihren beiden Söhnen kehrte die Mutter zurück in die USA – wo Joel Agee nie gelebt hatte. 1960 war das, noch vor dem Mauerbau. Mit dem Abschied am Bahnhof Friedrichstraße endet Agees amerikanische Jugend in Ostdeutschland. Und auch dieses Buch, das keine politische Abrechnung mit der frühen DDR ist, sondern eher eine realsozialistische Variation über "Unordnung und frühes Leid", die freilich Einblick gibt in das Leben der Nomenklatura. Eben deshalb durfte der Bericht, der erstmals 1982 erschien, jenseits der Mauer nicht gelesen werden.

    Joel Agee, der als Jugendlicher den Schriftsteller mimte, tauchte in den wilden 60er- und 70er-Jahren ein in die amerikanische Gegenkultur. Und wurde dann doch ein Intellektueller. Er übersetzt Kleist, Dürrenmatt und Canetti ins Amerikanische und arbeitet auch als Journalist. Die DDR hat er schon wenige Jahre nach dem Mauerbau wiedergesehen, wobei der Staatssicherheitsdienst versuchte, ihn als Agenten anzuwerben. 1989 war Agee wieder in Berlin, im Auftrag der "New York Times": Reportage über die Bürgerrechtsbewegung der DDR. Noch während er daran schrieb, fiel die Mauer – und die Redaktion sagte ab.

    "Ich rief einen Freund, einen ehemaligen Ostberliner Freund, der geflüchtet war und jetzt in Westberlin lebte, an und sagte: 'Was soll ich denn jetzt machen?' Und der sagte dann: 'Hör mal zu, es gibt einen schönen Satz von Karl Marx, einen Ausdruck: der Tanz der Widersprüche. Das ist das, was hier jetzt geschieht: der Tanz der Widersprüche. Und jetzt klingelt es bei mir, es ist mein Sohn, den habe ich seit 15 Jahren nicht mehr gesehen, weil er im Osten war. Und jetzt muss ich auflegen. Mach mal ne Flasche auf. Trinken wir zusammen!' Und das war dann der Schluss dieses Artikels, das fand die Times prima und so ging der noch."

    Joel Agee: Zwölf Jahre. Eine amerikanische Jugend in Ostdeutschland. Aus dem Amerikanischen von Joel Agee und Lolo Gruenthal. München 2009 (Carl Hanser Verlag); 400 S., 24,90 Euro