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Heimlich geduldet

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion füllt rechtsextreme Ideologie zunehmend die schmerzende Identifikationslücke der Russen. Ausländerfeindlichkeit zeigt sich immer offener, und nur eine Minderheit stellt sich dagegen.

Von Isabella Kolar | 20.06.2006
    Große Lautsprecher machen große Stimmung. Ein sonniger Frühlingssonntag Mitte Mai auf den Vorobjovije Gori, den Sperlingsbergen über den Dächern von Moskau. Ein Meer von roten Fahnen mit weißem Kreuz reckt sich in den knallblauen Himmel auf dem weiten Platz vor der Staatlichen Lomonossov-Universität. Getragen von über tausend meist jungen Menschen, die in der anderen Hand das Plakat mit dem Jugendfoto "ihres" Veteranen halten, der sich wiederum stolz und ordenbehängt von ihnen führen lässt. Die vom russischen Präsidenten Putin erfundene Jugendorganisation Naschi hat heute hierher geladen. Sie feiert den Sieg über den Faschismus vor über 61 Jahren, auch als Warnung vor den neuen russischen Faschisten. Der Veteran Alexander Vassilijevitsch:

    "Wir haben früher in der multinationalen Sowjetunion gelebt, wir wurden im internationalistischen Geist erzogen, wir sind gegen diese so genannten Glatzköpfe, denen Menschen mit anderer Hautfarbe oder anderer Nationalität nicht gefallen. Wir verurteilen Leute, die unschuldige Menschen umbringen."

    Die Studentin Anastasija Igorjevna hat heftig mitgeklatscht. Keine Chance den Skinheads, die in Russland Ausländer morden - das ist auch ihr Motto:

    "Wir müssen heute nicht mit dem Faschismus, sondern gegen dessen Anfänge und Keimzellen kämpfen. Wer die Geschichte des Faschismus kennt, merkt, dass unsere derzeitige Lage das Entstehen faschistischer Tendenzen begünstigt. Rassismus bedeutet menschliche Dummheit. Das größte Problem nach dem Zerfall der Sowjetunion ist, dass sich die soziale Lage der Bevölkerung sehr verschlechtert hat und viele Menschen arbeitslos geworden sind."

    Es kann nicht sein, was nicht sein darf - Rassismus in Russland, dem Land, das mit einer grandiosen Kraftanstrengung und riesigen Menschenopfern Adolf Hitler und die deutschen Nationalsozialisten stoppte - in diesem Land kann es keine Neonazis, Faschisten oder Rassisten geben, das war lange Zeit Plan A, die offizielle Linie der um ihre Reputation besorgten russischen Regierung und ihrer Beamten. Rassistische Straftaten wurden - wenn sie sich nicht mehr verschweigen ließen - als Rowdytum klassifiziert, ihre Zunahme als Übertreibung und Stimmungsmache der Medien dementiert. Doch die steigende Zahl von Angriffen auch auf westliche Ausländer in den vergangenen Jahren rief die Botschaften und damit die Öffentlichkeit auf den Plan. Und der Kreml erfand Plan B. Nikolaj Petrov, Innenpolitik-Experte des Moskauer Carnegie-Zentrums:

    "Die Parlamentswahlen 2007 und die Präsidentschaftswahlen 2008 rücken näher, und für Wahlen braucht man einen Aufhänger, einen Feind, gegen den man kämpfen kann. 1996, als Jelzin wiedergewählt wurde, waren das die Kommunisten, aber die sind jetzt zu schwach. Die Idee einer faschistischen Bedrohung schafft ein bequemes Feindbild und Instrument gegen jeden beliebigen politischen Feind."

    Längst überfällig war auch ein deutliches Signal für das besorgte Ausland. Wladimir Putin nutzte den 9. Mai, den 61. Jahrestag des Weltkriegsendes, um erstmals Stellung zu nehmen zu der dramatisch steigenden Zahl rassistischer Gewalttaten im Russland der vergangenen Monate:

    "Heute müssen wir daran denken, dass in diesen harten Jahren die reale Gefahr der Versklavung der Welt bestand. Und sie entstand aus der Unterschätzung der vernichtenden Gefahr der nationalsozialistischen Ideologie. Die, die die besiegten Fahnen des Nationalsozialismus wieder herausholen wollen, die, die Rassismus, Extremismus und Xenophobie säen, führen die Welt in die Sackgasse sinnlosen Blutvergießens. Die Niederlage des Faschismus soll uns eine Lehre sein, dass die Strafe darauf folgen muss."

    Kampf dem Rassismus - eine Devise, mit der Russland, derzeit zugleich G 8- und Europaratsvorsitzender, international nur Pluspunkte sammeln kann. Doch nach innen verfolgt der Kreml damit auch ein ganz anderes Ziel: Der politische Gegner soll als Extremist diskreditiert werden. Ein erstes politisch opportunes Opfer gab es beim Feldzug gegen den Rassismus schon. Der immer populärer werdende Dmitrij Rogosin, Chef der nationalistischen Partei Rodina und potenzieller Konkurrent um die Putin-Nachfolge in zwei Jahren, musste im Januar dieses Jahres zurücktreten und wurde durch eine gehorsame Marionette ersetzt. Dass Parteien wie Rodina, die LDPR des regierungstreuen Ultranationalisten Vladimir Schirinovski und die neofaschistischen Nationalbolschewisten unter Eduard Limonov hin und wieder mit den demokratischen russischen Parteien Jabloko und der Union Rechter Kräfte, SPS, auf Veranstaltungen auftreten, liefert dem Kreml willkommene Wahlkampfmunition. Der Kampf gegen den Rassismus verkommt so zum Trumpf im Kampf um die politische Macht, bei dem die Notwendigkeit, die Wurzeln des Übels zu beseitigen, zur Nebensache wird.

    Dabei ist die Statistik alarmierend genug: Seit Anfang der 90er Jahre schnellt die Zahl vor allem junger Rechtsextremer in Russland in die Höhe. Parallel dazu nimmt die Zahl rassistisch motivierter Überfälle nach Angaben des Moskauer Informations- und Analysezentrums Sowa im Schnitt um 30 Prozent pro Jahr zu, und die Dunkelziffer dabei ist hoch. 18 Morde und 87 Gewalttaten aus rassistischen Gründen gab es laut Sowa bereits in diesem Jahr. Amnesty international zählte 2005 28 Tote, doch die Menschenrechtsorganisation geht davon aus, dass es nur die Spitze des Eisberges ist, von der sie erfährt, da sie angewiesen ist auf die Zusammenarbeit mit russischen Behörden, bei denen Verharmlosung oberste Priorität hat.

    Russland ernte das, was jahrelang gesät wurde, meint Peter Franck, Russland-Experte von amnesty international. Es räche sich jetzt,

    "dass man im internen Bereich immer sehr stark die nationalistische Karte gespielt hat. Man hat sich zwar besonders nach dem 11. September 2001 in der Außenpolitik dem Westen zugewandt, im Inneren hat man sich aber immer sehr stark abgegrenzt. Man meinte, es sei eine Katastrophe, dass Russland entstanden ist, ein Schaden, der aus dem Zerfall der Sowjetunion entstanden ist. So verursacht man extremen Nationalismus und ein Wiederanstreben von Großmacht. In diesem Schatten können sich solche Leute in stillschweigendem Konsens fühlen."

    Fast jede Woche vermelden die Medien rassistisch motivierte Überfälle aus irgendeinem Teil des Landes, das Grauen wird zur Gewohnheit: Erst Anfang Juni wurden fünf aus Tadschikistan stammende Studenten von einer Gruppe Polizisten in einem Moskauer Wohnheim krankenhausreif geschlagen. Zwar berichten auch die staatlich zensierten Medien darüber, doch öffentlicher Protest rührt sich kaum: Vereinzelte antifaschistische Demonstrationen mit ein paar 100 oder in den Metropolen maximal 1000 Menschen können quantitativ nicht konkurrieren mit den Massenprotesten gegen Renten- und Wohnungsreform. Und im November letzten Jahres durften fast 3000 Rechtsextreme mit der Losung "Russland den Russen" durch die Straßen von Moskau ziehen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ersetzt die rechtsextreme Idee die Staatsidee und füllt die schmerzende Identifikationslücke. Gemeinsam mit dem kommunistischen System hat sich damit auch die zumindest offiziell propagierte Idee von Internationalismus und Völkerfreundschaft für immer verabschiedet. Ein Drittel der russischen Bevölkerung, so Alexander Verchovskij, Direktor von Sowa, unterstütze mittlerweile rassistische Losungen. Der Grund:

    "Seit dem Ende der 90er Jahre und auch in diesem Jahrzehnt gibt es tatsächlich ein Problem mit der Massenimmigration. Sie gab es früher so nicht, denn die quantitativ enorme Immigration nach Russland zu Beginn und Mitte der 90er war entweder sowieso russisch, oder aber selbst wenn es Georgier oder Tadschiken waren, dann waren sie genauso sowjetisch wie die Menschen hier: Sie hatten an sowjetischen Schulen gelernt und sprachen Russisch. Seit dem Ende der 90er kamen schon ganz andere Leute: Sie sprachen kaum Russisch, kamen aus einem ganz anderen sozialen Umfeld, und es kamen immer mehr von jenseits der Grenzen der ehemaligen Sowjetunion. Darauf war diese Gesellschaft überhaupt nicht vorbereitet."

    Im Land der wenigen sehr Reichen und der vielen Armen, schauen letztere neidisch und missgünstig auf die, die fremd sind, und trotzdem oft mehr Geld und Perspektive haben als sie selbst. Russland fremdelte, Neid schlug um in Hass auf den fremden angeblichen Dieb: Der Mythos vom unbedingt kriminellen, mit Drogen handelnden Immigranten, der dem hochanständigen Russen auch noch Arbeit und Frau wegnimmt - hält sich bis heute hartnäckig. Vor allem überforderte Jugendliche reagieren in einer Gesellschaft, die ihr altes soziales Netz verloren und ein neues noch nicht gefunden hat, auf den weit verbreiteten Raubtierkapitalismus mit Gewalt: Beliebte Treffen zum gemeinsamen Draufschlagen sind Rockkonzerte und Fußballspiele. Der Politologe Nikolaj Petrov:

    "Es sind in erster Linie Jugendliche, arbeitslose Jugendliche, auch Rückkehrer aus der Armee - also junge Menschen, die sich noch nicht oder nicht ausreichend im Leben eingerichtet haben. Sie müssen nicht organisiert sein, lockere Grüppchen ohne Losungen und Manifestationen, die einfach ab und zu den Wunsch haben, jemanden zusammenzuschlagen, der anders aussieht als sie, der schutzlos ist und an dem sie ihre Gefühle gegenüber ihrer Umgebung und der Gesellschaft zum Ausdruck bringen können."

    och das Schlagen als pures Ventil für angestaute Aggressionen wurde im Laufe der Zeit mehr und mehr zum Schlagen mit Idee, die Fäuste suchten sich ihre Ideologen und umgekehrt. Der russische Rassismus wurde theorie- und damit salonfähig, mittlerweile schlagen immer öfter auch Studenten mit behüteter Kindheit und hoffnungsvoller Perspektive zu. Mitverursacht und weiter ständig geschürt wird der Rassenhass durch die Folgen von über zehn Jahren russischem Terror, Mord und Folter in Tschetschenien - und durch die Antwort von tschetschenischen Terroristen darauf: Anschläge in Moskau oder Geiselnahmen wie in Beslan. Der Tschetschene in den Bergen von Grosny wird gleichgesetzt mit dem Tschetschenen in der Moskauer U-Bahn, der kontrolliert, abgeführt und schikaniert wird. Ermutigend für rassistisch motivierte Täter in Russland war lange Zeit, dass sie nur wenig riskierten: Bis zum letzten Jahr bekamen die, die beim Schlagen und Morden erwischt wurden, lediglich Bewährungsstrafen wegen Rowdytums. Erst seit dem letzten Jahr gibt es dafür zum Teil auch harte Gefängnisstrafen und Urteile, in denen der Straftatbestand Rassismus auftaucht. Noch größer als die Zahl der Schläger und ihrer Ideologen ist die ihrer stillschweigenden Sympathisanten, die sich nicht nur systemtypisch in Polizei und Militär, sondern hinauf bis zur Regierungsebene finden.

    Alexandra Karpova, die Vorsitzende des Komitees für internationale Zusammenarbeit der Gesellschaftskammer von Voronesch über einen peruanischen Studenten, der im vergangenen Oktober in ihrer Stadt als siebter Ausländer von Skinheads zu Tode geprügelt wurde:

    "Es gibt absolut keinen Rassismus in Voronesch. Ich denke, dass der Peruaner selbst schuld war. Sein Universitätsgebäude liegt im Wald, und in der Stadt sagt man, dass die Studenten, die Dollars haben, sich irgendwelche Mädchen kaufen und mit ihnen in den Wald gehen. Das war schlichte Alltagskriminalität."

    Der Englisch-Student James Alan Dsuku aus dem Kongo und sein Kommilitone Tiberi aus Equador-Guinea, die seit Jahren im Studentenwohnheim Nummer vier in der Friedrich-Engels-Straße in Voronesch leben, wissen es besser. Sie verlassen ihr kleines Zimmer mittlerweile nur noch Richtung Universität:

    "Wir versuchen irgendwie zu leben, gehen zum Unterricht und danach gleich nach Hause ins Zimmer. Wir wissen doch, wie gefährlich das ist, und dass wir nicht raus können. Wie können wir spazieren gehen, wenn sie morden."

    "Wenn ich irgendwo hin gehe, muss ich mich immer umdrehen und schauen, wer sich mir nähert. Ich habe Angst rauszugehen, und zugleich schäme ich mich für diese Leute: Ich hätte nicht gedacht, dass es in unserer Zeit so etwas noch gibt, das ist einfach schrecklich."

    Von vermehrten rassistischen Übergriffen sind auch Juden in Russland betroffen, doch im Vergleich zum Hass gegen Menschen mit nichtslawischem Äußeren, spielt der in Russland traditionell starke Antisemitismus heute nicht die größte Rolle. Für Aufsehen sorgte allerdings die Tat eines 20-jährigen Russen, der zu Beginn des Jahres in einer Moskauer Synagoge neun Gläubige mit einem Messer zum Teil schwer verletzte, aus - wie er später gestand - antisemitischen Motiven. Im März dann das Urteil: 13 Jahre Haft.

    Patriarch Alexej II. zelebriert am 11. Juni im Dreifaltigkeitskloster Sergiev Possad eine Messe zu Ehren des russischen Heiligen Sergej Radoneschskij. Einen Tag später zeichnet ihn der russische Präsident Wladimir Putin im Kreml mit dem erstmals verliehenen Staatspreis für Verdienste im humanitären Bereich aus. Die Vertreter der russisch-orthodoxen Kirche, schon immer eher engagiert beim Bau neuer Kirchen als beim Schutz von Verfolgten und Minderheiten, halten die Diskussion über rassistische Straftaten in Russland für völlig übertrieben, eine Zunahme - so heißt es - sei nicht feststellbar. Auch Homosexuelle dürfen nicht auf Schutz in orthodoxen Kirchen hoffen, den sie allerdings brauchen könnten. Denn eine Variante des grassierenden Fremdenhasses in Russland ist die Homophobie und die Jagd auf Homosexuelle. Noch bis 1993 stand die gleichgeschlechtliche Liebe hier unter Strafe. Nulltoleranz gegenüber sexuellen Minderheiten kommt auch in einer in diesem Monat durchgeführten Umfrage zum Ausdruck: Fast 50 Prozent der Russen verurteilt Homosexualität als Sünde.

    Wladimir Jegiljanski, der Sprecher des Patriarchen, hat vollstes Verständnis dafür, dass Moskaus Bürgermeister Luschkov im vergangenen Monat eine Demonstration von Homosexuellen verbieten ließ. Der deutsche Grünen-Bundestagsabgeordnete Volker Beck war bei der trotzdem stattfindenden Kundgebung von neofaschistischen Schlägern angegriffen und verletzt worden, ohne dass die Sicherheitskräfte einschritten. Unter den Zuschauern auch: radikale orthodoxe Eiferer. Wladimir Jegiljanskij:

    "In der Bibel musste eine ganze Stadt die kollektive Verantwortung übernehmen. Dort haben nicht nur Homosexuelle gelebt: Dort gab es Kinder, alte Menschen und Frauen. Doch sie sind in Sodom und Gomorrha alle umgekommen, weil sie das unterstützt haben. Das heißt, es gibt eine kollektive Verantwortung der Gesellschaft für die Sünde. Wir haben eine sehr negative Einstellung zu dieser Erscheinung. Außerdem: In einer kultivierten Gesellschaft über seine sexuelle Orientierung zu sprechen, das ist nicht anständig! Warum tut man so etwas? Das ist kulturlos! Deshalb gibt es diese manchmal auch aggressive Einstellung zu ihnen. Sie haben die Gewalt provoziert. Man hat sie davor gewarnt, dass es zu Gewalt kommen würde."

    Die Jugendlichen der kremltreuen Organisation Naschi feiern einträchtig mit ihren Veteranen auf den Bergen über Moskau den Sieg über den Faschismus - als Mahnung aus der Vergangenheit wachsam zu sein auch in der Gegenwart. Es ist immer noch eine Minderheit, die in Russland offen schreit: "Schlagt die Juden" oder "Tötet die Neger". Gefährlicher sind die getarnten Ideologen der Bewegung wie der Ultranationalist Swjatoslav Ivanov aus Voronesch. Öffentlich verurteilen sie die rassistischen Verbrechen, doch ihre Losung "Russland den Russen" scheint den heutigen Erniedrigten und Beleidigten des Landes gleichermaßen Verheißung und Ausweg in der Not. Adolf Hitler habe bis 1939 alles richtig gemacht, sagt Ivanov leise, und lächelt dabei:

    "Wir leben alle in Russland, wir sind alle Russen. Doch wenn man berücksichtigt, dass die Russen mehr als 80 Prozent stellen - jedes andere Land würde man bei einer solchen Prozentzahl als mononational einstufen, wir haben eine künstliche Föderation geschaffen. Heute gibt es die Hoffnung, dass Putin Russland allmählich russisch macht. Die antifaschistische Hysterie will nur verhindern, dass die Russen sich vereinigen. Das russische Internet ist zurzeit sehr spannend mit vielen patriotischen Seiten. Die liberale Herrschaft, der liberale Gedanke geht seinem Ende zu. Eine stille Revolution läuft ab. Die Russen übernehmen die Schlüsselpositionen im Staat, in der Wirtschaft und in der Politik."