Gewalt in Kolumbien

Kein Frieden in Sicht

25:18 Minuten
Menschen liegen mit rot beschmierten Tüchern bedeckt scheinbar tot auf einer Straße.
Die Proteste in der Metropolenregion Cali richten sich auch gegen die massive soziale Ungleichheit im Land. © imag images / Agencia EFE / Ernesto Guzman Jr.
Von Viktor Coco · 24.06.2021
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In Kolumbien kommt es seit April zu Demonstrationen. Der Frust der jungen Menschen richtet sich gegen die Regierung und die zunehmende Polizeigewalt. Zentrum des Protests ist die Salsa-Hochburg Cali. Von Friedensverhandlungen will dort niemand etwas wissen.
"Wir haben ein Volleyballfeld angelegt, damit nachmittags Familien hier spielen können. Am Abend sind dann Kulturveranstaltungen mit Tanz oder Musik. Es ist wirklich ein sehr, sehr angenehmer Ort, an dem unterschiedliche Menschen zusammenkommen. Kinder, Jugendliche, Erwachsene."
Sagt Juan David Ruiz, den alle nur "Buñuelo" nennen. So nennt man auf Spanisch frittierte Teigbällchen und ihn, weil er wohl als Kind kugelrund war. Heute mit 35 hat er eine sportliche Figur, trägt coole Turnschuhe, eine enge Jeans, darüber Trikot und Jacke von seinem Lieblingsklub América.

Puerto Resistencia – "Hafen des Widerstandes"

Wir sind im Südosten von Cali und Buñuelo spricht über Puerto Resistencia, eine von zeitweise über 20 Straßenblockaden in der Stadt und Umgebung. Warentransport verläuft in Kolumbien fast ausschließlich über die Straße. Die Region ist Zentrum der Lebensmittelindustrie. Auch Lkw vom größten Hafen des Landes in Buenaventura müssen hier zwingend vorbei.
Hier, an diesem für ihn "sehr angenehmen Ort", ist in den letzten Wochen auch Blut geflossen. Das Volleyballfeld war Anfang Mai ein Schlachtfeld. Warum, das erklärt Buñuelo so:
"Puerto Resistencia liegt auf einer der Hauptstraßen von Cali. Es ist ein Knotenpunkt und damit strategisch für Straßenblockaden. Hier treffen eine riesige, zweispurige Straße in Süd-Nord-Richtung und eine von Ost nach West im Kreisverkehr aufeinander. Wir hoffen, dass Puerto Resistencia als Ausgangsort der kolumbianischen Revolution in die Geschichte eingeht."
Barrikaden und Bauschutt versperren die Straßen in Puerto Resistencia, es ist kein Durchkommen. Ende April begann hier der Aufstand, der längst das ganze Land erfasst hat.

"Hinter uns ist die ehemalige Polizeiwache. Demonstranten haben sie abgebrannt aus Wut über den ersten Mord der Proteste. Am 28. April wurde hier ein Jugendlicher aus meinem Viertel erschossen. Diese und viele andere Polizeiwachen, die gestürmt wurden, hat man in Bibliotheken umgewandelt."
Ein junger Mann mit Basecap steht vor einer besprühten Wand.
Buñuelo: "Wir hoffen, dass Puerto Resistencia als Ausgangsort der kolumbianischen Revolution in die Geschichte eingeht."© Deutschlandradio / Viktor Coco
Das Opfer war ein 17-jähriger, der im Tumult gegen ein Polizeimotorrad getreten hatte. Der Beamte erwiderte die Aggression mit Schüssen. Der erste von Dutzenden Toten. Über 50 Menschen starben seitdem allein in Cali, sagen lokale NGOs. Buñuelo kannte vier persönlich: "Vier von der Barra von América sind tot. In den ersten Tagen der Proteste starb Yinson nach einem Kopfschuss am Paso del Comercio."

Als Barra bezeichnet man in Südamerika den harten Kern der Fußballfans. Buñuelo ist einer der Anführer der Barra von América de Cali. Dazu gehört auch David Anaya. Er erinnert sich am Rande einer Musikprotestveranstaltung im Norden der Stadt.
"Einer der ersten Toten hier in Cali war einer von uns, aus der Fanszene von América de Cali. Und der, der versucht hat, ihm das Leben zu retten, war von unserem Rivalen Deportivo Cali. Und das haben sie erst in dem Moment bemerkt. Die Polizei hat geschossen, sie waren auf der Flucht. Und als der Junge sich umdrehte, lag unser Freund im roten Trikot schon auf dem Boden. Ein Kopfschuss aus einem Gewehr. Der Fan von Deportivo rennt zurück, riskiert sein Leben und wird in der Wade getroffen. Er hat versucht, ihm das Leben zu retten!"

Welthauptstadt der Salsa ist Protestzentrum

Die Proteste lassen alle Feindschaften und Animositäten vergessen – man gehört zusammen, man kämpft zusammen. Derzeit vor allem gegen die Regierungspolitik, gegen soziale Ungleichheit und gegen Polizeigewalt. Der 40-jährige Anaya ist Sozialarbeiter in den Armenvierteln von Cali. Er begrüßt hier viele aus der Fanszene. Junge Erwachsene, meist aus den unteren Einkommensschichten. Sie stehen in der "Primera Línea", in der vordersten Linie des Widerstandes der Straßenblockaden, die sich mit selbst gebauten Schutzschildern der Polizei gegenüberstellt.
Sozialarbeiter Anaya: "Die Pandemie hat uns von der Tribüne vertrieben, aber der soziale Aufstand hat uns auf der Straße wieder vereint. Heute sieht man Jungs aller Vereine in der 'ersten Linie'. Und das war spontan. Niemand hat dazu aufgerufen!"
Warum wurde ausgerechnet Cali zum Zentrum der Proteste? Schon vor der Pandemie stand man wirtschaftlich unter Kolumbiens fünf Millionenstädten am schlechtesten da. Im Vergleich zur prosperierenden Innovationsmetropole Medellín hat Cali auch die Gewalt der Drogenkartelle der 80er und 90er langsamer überwunden.

Die Infrastruktur und der Service öffentlicher Einrichtungen sind schlechter als in Medellín oder Bogotá. Nirgendwo schrumpfte dann im letzten Jahr die sowieso kleine Mittelschicht so sehr wie hier. Heute sind die Straßenblockaden dort, wo die Arbeitslosigkeit am höchsten ist.
Demonstrierende schützen sich auf einer Straße mit einer Matratze vor den Geschossen der Polizei.
Auch nachts eskaliert die Gewalt zwischen Demonstrierenden und der Polizei immer wieder, wie hier Mitte Juni in Cali.© imago images / UIG / Mauricio Romero / Long Visual Press
Cali ist auch ein Ort der Nachtschwärmer, gilt als Welthauptstadt der Salsa Tanzenden. Nach einem Jahr Lockdown ohne Fußball und Musik, dafür aber mit existenziellen Problemen wurde die Situation in der Stadt erdrückend.
"Es gibt Informationen, nach denen in Cali etwa eine Million Menschen nur ein oder zwei Mahlzeiten am Tag haben. Sehr viele sind arbeitslos. Viele, die informell arbeiten, als Parkwächter, im Nachtleben, in Restaurants haben in der Pandemie ihre Einnahmen verloren."

"Das sind Kriminelle"

So Carlos Soler Parra, neuer Leiter des Dezernats für Sicherheit und Justiz. Die rechtskonservative Nationalregierung hat ihn nach Cali geschickt. Er versteht die Probleme, hält sie aber größtenteils für vorgeschoben. "20 Prozent der Teilnehmenden gehören zu Schutzgeldeintreibern, Drogenhändlern oder Auftragskillern. Diese bewegen viel Geld, haben Interesse an Demonstrationen, boykottieren den Dialog. Sie sagen den Jugendlichen: 'verhandelt nicht!'"
Als ehemaliger Militär mit einem Mastertitel in Menschenrechtspolitik soll Soler Parra zwischen Politik, Streitkräften und Menschenrechtsorganisationen die Wogen glätten. "Und weitere 20 Prozent sind Migranten oder Drogenabhängige. Diese werden mit Stoff versorgt und dann im berauschten Zustand zum Randalieren geschickt", so Soler Parra weiter.
Das Verteidigungsministerium vertritt zudem die These, es handele sich landesweit um orchestrierte Aktionen linker Guerillas, die in Kolumbien nach wie vor aktiv sind. Insider beschreiben das als unwahrscheinlich. Auch Buñuelo in Puerto Resistencia weist all dies zurück: "Das hier wird nicht von der Guerilla finanziert! Auch nicht von kriminellen Banden oder politischen Parteien. Nein, mein Freund! Das ist ein Kampf des Volkes."

Protest muss wehtun

Was Juan David Ruiz nicht abstreitet: Vandalismus gegen Banken und andere Institutionen, der in Cali viel heftiger ausfiel als in anderen Protestzentren. Jede fünfte Haltestelle des Metrobussystems wurde zerstört, mindestens 16 Busse abgebrannt.
"Warum haben wir den Nahverkehr angegriffen? In Kolumbien ist die Regierung in den letzten 40, 50 Jahren nie auf Forderungen von Demonstranten eingegangen. Niemand hört dir zu, wenn du auf dem Bürgersteig ein Schild hochhältst. Damit man uns wahrnimmt, mussten wir Fakten schaffen."
Sozialarbeiter Anaya teilt diese Ansicht und rechtfertigt sie. Es habe sich längst gezeigt, dass man mit warmen Worten nicht weiterkomme: "Ein Protest muss wehtun. Das muss wehtun! Natürlich gibt es Straßenblockaden, die die Mobilität einschränken. Aber die Menschen werden ja auch seit Jahren durch den Staat blockiert."

Bewaffnete Zivilisten auf der anderen Seite

Unverständnis ernten die Demonstrierenden dafür besonders in Calis wohlhabendsten Stadtteil Ciudad Jardín, der "Gartenstadt". Julián Berón ist pensionierter Ingenieur und lädt zum Gespräch in sein Eckhaus. Riesige Vasen, Kerzen und massive Büsten dekorieren die Sitzecke um den glänzend polierten Tisch. Kolumbiens Gesellschaft ist gespalten in reich und arm, die soziale Ungleichheit zählt zu den größten auf der Welt.

"Hier in der Gartenstadt werden wir seit über einem Monat belagert. Sie wollen kommen, um zu randalieren. Um Geschäfte und Banken anzuzünden. Die Leute hier haben sich vorbereitet, um ihren Besitz und ihr Leben zu verteidigen", so Berón.
Bewaffnete Soldaten patrouillieren auf einem Platz.
Seit Mai ist Cali militarisiert und Soldaten zeigen Präsenz im öffentlichen Raum.© Deutschlandradio / Viktor Coco
Als am zweiten Sonntag im Mai Indigene in einer Karawane das Viertel passieren, um an Demonstrationen im Stadtzentrum teilzunehmen, blockieren Anwohner die Straße. Es kommt zur Konfrontation. Im Schutz der Pick-ups feuern Männer mit Schusswaffen auf die Protestierenden.

Bürgerwehr und Polizei arbeiten Hand in Hand

Es kursieren im Netz viele Videos, in denen Zivilisten auf Demonstranten schießen. Polizisten stehen teilnahmslos dabei. Bürgerwehren formieren sich und werden von der Polizei geschützt.
"Wir sind hier im Viertel im permanenten Kontakt mit der Polizei. Jetzt haben sie uns um mehr Unterstützung gebeten. Wir, die Bürger, die nicht in kriminelle Machenschaften verwickelt sind, glauben an die Polizei, unterstützen sie und sie unterstützen uns."
Aggressive Übergriffe von vermeintlichen Privatpersonen kennzeichnen die Proteste und haben auch Tote zur Folge. In Cali agieren Kleingruppen in Zivil und schießen bei Nacht auf Demonstrierende.

Im letzten Drittel des Audios spricht Kolumbien-Experte Burkhard Birke mit Ellen Häring über die dunkle Geschichte der Paramilitärs im Land und über die Vermittlungsversuche eines Vertreters der katholischen Kirche. "Selbst Monsignore Fabio Héctor Henao ist inzwischen zunehmend genervt. Die Regierung zeigt keine Bereitschaft zum Verhandeln." Die Wurzel des Protestes liegt in der ungeheuren sozialen Ungleichheit, die sich in der Pandemie brutal zeigt. "Es wird auf absehbare Zeit explosiv bleiben", so Burkhard Birke.

In der Stadt Pereira rief der Bürgermeister zu einer "breiten Sicherheitsfront der Bürgerschaft" auf. Kurz darauf erschießen Zivilisten einen Demonstranten. Der Menschenrechtlerin Berenice Celeita von der Organisation Nomadesc bereitet das große Sorge.
"Nach unseren Ermittlungen sind das keine Zivilisten, denn ein Zivilist darf nicht bewaffnet sein. Außerdem sind sie organisiert und die Aktionen sind scheinbar systematisch. Und wenn es systematisch ist, steckt da Politik dahinter. Polizei und die Bewaffneten agieren gemeinsam. Das zeigen Videos und sagen auch Zeugen. Sie kommen zusammen! Das ist paramilitärisch. Paramilitär ist, wer dem Militär hilft!"

Sorge vor paramilitärischen Strukturen

In Kolumbien ist man sensibel gegenüber dem Thema. Ende des 20. Jahrhunderts bekämpften paramilitärische Organisationen die Guerillas. Finanziert durch Großgrundbesitzer, kollaborierten sie häufig mit dem Staat, wie es just in diesen Tagen angeklagte Anführer eingestehen. Im bewaffneten Konflikt waren sie für die meisten Morde und Vertreibungen verantwortlich.
Helfen also aufgerüstete Bürgerwehren dem Militär? Gibt es neue paramilitärische Einheiten? Darauf angesprochen flüchtet sich der Sicherheitschef der Stadt in spitzfindige Definitionen.
"Das Wörterbuch bezeichnet den Paramilitarismus als Unterstützung des Militärs durch bestimmte Gruppen. Also sind paramilitärische Gruppen zum Beispiel der Zivilschutz, die Pfadfinder und andere. Das ist sprachlich sehr interessant", so Sicherheitschef Soler. "Bei den Protesten haben wir es aber mit Gruppen zu tun, die Selbstjustiz üben, und das lehnen wir natürlich strikt ab."
Die Aufarbeitung des Paramilitarismus seitens des Staates ist dünn. Ähnlich wie die Aufklärungsquote bei Morden an sozialen Aktivist:innen, von denen es seit dem Friedensvertrag mit der FARC-Guerilla 2016 über ein Tausend gab.

Kein Vertrauen in Verhandlungen

"Absolut nichts wird eingehalten", sagt Menschenrechtlerin Celeita. "Weder der Friedensvertrag wird erfüllt, noch die Vereinbarungen nach dem Hafenstreik in Buenaventura 2017, noch die Abkommen nach Protesten in der Provinz Chocó oder mit indigenen Gruppen. Das generiert bei den Bürgern ein Misstrauen gegenüber dem Staat und seinen Institutionen."
Demonstrierende wie Buñuelo trauen nicht einmal dem Streikkomitee, das gerade dazu aufruft, die Demonstrationen auszusetzen. Das Bündnis besteht aus Gewerkschaftern und Studentenvertretern, vertritt aber nicht alle an den Protesten beteiligten Gruppen.
"Das Streikkomitee verhandelt zwar, aber eigentlich ist uns Demonstranten klar, dass sie uns nicht repräsentieren. Sie vertreten persönliche Interessen. Die Regierung hat kein Interesse, mit den Demonstrierenden oder mit der 'ersten Linie' zu verhandeln und zuzuhören. Sie haben mit dem Streikkomitee gesprochen, aber die vertreten uns eigentlich gar nicht."

Die Regierung hat zwar Steuer- und Gesundheitsreformen vorerst zurückgenommen, aber eine langfristige Abschaffung der Studiengebühren – eine der wichtigsten Forderungen – wurde bereits abgelehnt. Zudem verbietet ein neues Dekret ab sofort Straßenblockaden als Protestform.
Berenice Celeita von Nomadesc macht einen erschöpften Eindruck. Zuviel Brutalität hat sie in den letzten Wochen miterlebt und dokumentiert. Sie reibt sich die feuchten Augen, plustert vor der letzten Antwort die Backen auf: "Eine Auflösung der Polizei-Sondereinheit ESMAD, eine Entmilitarisierung der Stadt und eine Sozialhilfe wären Schritte, um das Vertrauen in die Institutionen zu stärken und um dann weitere sozialpolitische Veränderungen einzuleiten. Ansonsten sind wir auf dem sicheren Weg in einen Bürgerkrieg."
Protestierende Menschen laufen mit einem Banner auf einer Straße.
Wo sind die verschwundenen Menschen, fragen Demonstrierende bei einer Protestaktion in Cali.© Deutschlandradio / Viktor Coco
Die Menschenrechtsorganisation sitzt in einem angenehm luftigen Kolonialhaus in Cali. Die Wände sind geschmückt mit bunten Bildern und Handwerkskunst aus allen Ecken des Landes. Das Ambiente ist ausgesprochen sympathisch. Aber die Stimmung ist gedrückt.
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