Schön an der Schönhauser Allee ist das, was Wladimir Kaminer über sie schreibt. Herrliche Miniaturen, selten mehr als zwei, drei Seiten lang, über den verzweifelten Lebensmut vietnamesischer Großfamilien und den Maler, dem selbst die Verbildlichung des Internets als Wandschmuck für einen Schnellimbiß gelingt. Da ist Kaminers Tante, die kein Wort Deutsch kann und den Fernsehmonteur mit einem Kardiologen verwechselt, der - sehr russische Idee! - angeblich mit einem transportablen EKG unterwegs sei. Des Autors Freundeskreis bewegt sich an der Grenze zum Panoptikum, und wehe, Kaminer entdeckt jemanden mit pittoresken Zügen auf der Straße. Er kann ganz sicher sein, im nächsten Buch Erwähnung zu finden. Das Ganze ist hochkomisch, unterhaltsam und von liebevoller Hinwendung zu den Benachteiligten dieser Welt geprägt. Es hat nur einen Makel: Man darf es nicht mit der Wirklichkeit verwechseln, obschon Markennamen, Örtlichkeiten und vermutlich auch Personen der realen Welt entlehnt sind. Kaminers "Schönhauser Allee" ist die Hommage an ein Soziotop, das sich in der Literatur anheimelnd warm und menschlich ausnimmt, in der Realität aber von Resignation geprägt sein dürfte. Wer wählen kann, zieht die Lektüre dem Leben vor und passiert die Schönhauser Allee in der U-2 vom Bahnhof Zoo nach Pankow hinter schützendem Fensterglas.
Schönhauser Allee
Schönheit liegt im Auge des Betrachters. Das zerklüftete Gesicht eines wettergegerbten Bauarbeiters kann attraktiver sein als das makellose Antlitz eines Fernsehmoderators. In schönen Städten lebt es sich meistens ziemlich furchtbar; man gehört gewissermaßen zum denkmalgeschützten Mobiliar dazu und muss freundlich in jede Touristenkamera lächeln. Mittelalterliche Stadtviertel sind die schlimmsten, während Wohnen im jungfräulich ruinösen Mauerwerk - Alter achtzig bis hundert Jahre - durchaus Spaß machen kann. Durch undichte Fenster pfeift der Wind, im Bad schimmelt es, aus der Dusche rinnt rostbraunes Wasser, im Winter schmeckt die Atemluft nach Ofenasche, aber die Zimmerdecken sind vier Meter hoch, und die Nachbarschaft ersetzt jeden Kinobesuch. Im Osten Berlins gibt es diese Areale überreichlich, und einst war die Schönhauser Allee, die vom Alexanderplatz hinaus ins villenreiche Pankow führt, eine prächtige Magistrale. Auf eisernen Stelzen fährt die Hochbahn durch die Wohnzimmer, und Hamburger Gäste fühlen sich an ihren noblen Stadtteil Eppendorf erinnert. Von dessen Prosperität fehlt freilich jede Spur.
Schön an der Schönhauser Allee ist das, was Wladimir Kaminer über sie schreibt. Herrliche Miniaturen, selten mehr als zwei, drei Seiten lang, über den verzweifelten Lebensmut vietnamesischer Großfamilien und den Maler, dem selbst die Verbildlichung des Internets als Wandschmuck für einen Schnellimbiß gelingt. Da ist Kaminers Tante, die kein Wort Deutsch kann und den Fernsehmonteur mit einem Kardiologen verwechselt, der - sehr russische Idee! - angeblich mit einem transportablen EKG unterwegs sei. Des Autors Freundeskreis bewegt sich an der Grenze zum Panoptikum, und wehe, Kaminer entdeckt jemanden mit pittoresken Zügen auf der Straße. Er kann ganz sicher sein, im nächsten Buch Erwähnung zu finden. Das Ganze ist hochkomisch, unterhaltsam und von liebevoller Hinwendung zu den Benachteiligten dieser Welt geprägt. Es hat nur einen Makel: Man darf es nicht mit der Wirklichkeit verwechseln, obschon Markennamen, Örtlichkeiten und vermutlich auch Personen der realen Welt entlehnt sind. Kaminers "Schönhauser Allee" ist die Hommage an ein Soziotop, das sich in der Literatur anheimelnd warm und menschlich ausnimmt, in der Realität aber von Resignation geprägt sein dürfte. Wer wählen kann, zieht die Lektüre dem Leben vor und passiert die Schönhauser Allee in der U-2 vom Bahnhof Zoo nach Pankow hinter schützendem Fensterglas.