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"In die Nesseln setzen" als Lebensmaxime

ls eine der eigenwilligsten und bedeutendsten Autorinnen der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur hat Luise Rinser die zeitkritischen Debatten stets mit bestimmt. 1971 beteiligte sie sich am Wahlkampf Willy Brandts und ließ sich 1984 sogar von den Grünen als Kandidatin für das Bundespräsidentenamt aufstellen.

Von Carola Wiemers | 30.04.2011
    Ich bin überhaupt nicht glücklich angelegt. Ich bin ein depressiver Mensch. Und dass ich nicht schwer neurotisch geworden bin, ist überhaupt ein Wunder. Wahrscheinlich hat mich nur das Schöpferische, das Schreiben können gerettet.

    Die Bilanz einer solchen Rettung kann sich sehen lassen: in sechs Schreibjahrzehnten erscheinen 35 Bücher in Millionenauflage. Getrieben von gedanklicher Unrast bereist die bekennende Chiemgauerin, alle Kontinente, liest und hält Vorträge. Ob in Rostock, München oder im italienischen Rocca di Papa - wo Rinser wohnt, führt sie ein offenes Haus, das zu Gesprächen einlädt.


    Man kann sagen, ich hab sehr viele Reisen gemacht. Und eigentlich war alles eine Reise - zu mir selber.

    Die Reise beginnt früh. Geboren am 30. April 1911 in Pitzling am Lech, verlässt Rinser als Dreizehnjährige das streng katholische Elternhaus und geht an das Münchner Seminar für Volksschullehrerinnen, studiert Pädagogik und Psychologie. Von Anbeginn sozial und politisch engagiert, weigert sie sich, Mitglied der NSDAP zu werden und tritt 1939 aus dem Schuldienst aus. Rinser ist überzeugt, dass sie Schriftstellerin werden muss. Wenn sie spricht, erzählt sie Geschichten. Bevor 1941 ihr Romandebüt "Die gläsernen Ringe" erscheint, hat die von Sprache Besessene bereits Gedichte veröffentlicht. Dass sie in einem die deutsche Jugend als des "großen Führers verschwiegene Gesandte" beschwört, ist Kritikern Grund genug, ihr literarisches Werk abzulehnen.


    Was mich wirklich interessiert, ist der Mensch. Das Leben im Hier und Jetzt ist es, was mich trägt. Ich riskiere mich.

    Rinser ist in allen literarischen Gattungen zu Hause. Mit ihrer brillant erzählten Novelle "Jan Lobel aus Warschau" von 1948, in der ein polnischer Jude aus dem KZ flieht, thematisiert sie früh den Holocaust. 1950 erscheint ihr großer Erfolgsroman "Mitte des Lebens", den sie als "ersten feministischen Roman" bezeichnet. Sie verfasst philosophische und psychologische Abhandlungen und klagt 1967 mit ihrem Essay "Zölibat und Frau" den "mörderischen Zölibat" an. Obwohl Rinser ab 1959 in Italien lebt, mischt sie sich mit ihrer offensiven Streitkultur weiter in die politischen Debatten ein und exponiert sich als Pazifistin in der Friedensbewegung. Mit ihren existenziellen Themen und einer sensibel arrangierten Rhetorik fasziniert die auch in Musik gebildete Frau ihre Leser. Kritiker bezeichnen sie aufgrund ihres moralisch-religiösen Denkens hingegen als "Erbauungs-Schriftstellerin" und greifen sie als Sympathisantin des Terrorismus und enge Vertraute des nordkoreanischen Präsidenten Kim Il Sung an.

    Also zu meinem, wenn man so will, Programm gehört: geh in die Länder, wo man jemand braucht, der sie nicht verteufelt.

    Dem Utopiegedanken Ernst Blochs verpflichtet, - sie trifft den Philosophen 1967 in Rom - , schärfen Rinsers literarische Texte den Blick für den Alltag und sind einer kommunikativen Ästhetik verpflichtet. Jenseits von Sprach- und Formexperimenten wählt die Autorin gern Erzählperspektiven, in denen Geschichte verfremdet wird: in "Mirjam" von 1983 erzählt Maria Magdalena als Vertraute Jesus ihre Version der Geschichte und im Roman "Abaelards Liebe" führt der aus der Liebe zwischen Abaelard und Heloïse stets ausgeblendete Sohn Astralabius seine historische Klage.

    In eurem Leben zählte ich nicht. Neben euch Großen und euern hohen Aufgaben verschwand ich ins Nichts.

    Zwischen Eros und Thanatos spannt Rinser ein narratives Seil, auf dem sie ihre Figuren balancieren lässt. Süchtig nach Ungeborgenheit, wie die Autorin selbst, droht ihnen jederzeit der Absturz.


    Wenn ich von Glück rede, dann ist es ein sehr schwieriges Glück, ein Glück auf der Balance.

    Mit missionarischem Eifer sucht Rinser lebenslang in allen Denk- und Glaubensrichtungen den Dialog. Ihr Lebensweg scheint manchem arg verschlungen. Bei genauer Betrachtung markiert er eine zerklüftete poetische Topografie, die von der Sehnsucht des Nachhausekommens zentriert ist und am 17. März 2002, ihrem Todestag, gerundet erscheint.

    Ich hab' jedenfalls meine Straße nie verlassen. In bin meinen Weg gegangen. Und wenn man auf dem Weg geblieben ist, wenn man das Gelöbnis gehalten hat, das man abgelegt hat, dann ist es ein happy ending.