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Sparen allein hilft nicht

Kulturpolitik erscheint in der gegenwärtigen Debatte primär als Haushaltspolitik. Dieter Kramer dagegen fordert in seinem Buch "Kulturpolitik neu erfinden" eine inhaltliche Diskussion über ihre Funktion als lebenswichtige, gesellschaftspolitische Aufgabe. Statt den Bürger als Konsument von Kultur zu betrachten, sieht er ihn als Akteur und Ressource.

Detlef Grumbach | 18.06.2012
    Kulturpolitische Diskussionen werden immer dann akut, wenn Länder und Gemeinden sparen müssen. Stadtteilzentren und freie Projekte schielen auf die Fördermittel der traditionellen Institutionen, Theater, Oper und Museen verschlingen Riesen summen. Kulturpolitik erscheint als Haushaltspolitik. Über Inhalte wird kaum gesprochen. Dieter Kramer dagegen beschreibt die Krise der Kulturpolitik als eine substanzielle:

    "Kulturpolitik ist in einer Inhaltskrise, weil sie auf die Herausforderungen nicht genügend reagiert, denen sich die Lebenswelten der "westlichen" Industriegesellschaften stellen müssen. Sie befindet sich in einer Adressatenkrise, weil das gewohnte Publikum aufgrund der demografischen Entwicklung, der Migrationsbewegungen und der neuen Medien immer kleiner wird und neue Milieus vor allem auch der jüngeren Generationen nicht zureichend gewonnen werden. Und sie ist wieder einmal in einer Finanzierungskrise, die diesmal in der Krise des neoliberalen Staates besonders bedrohlich ist."

    Der 1940 geborene Dieter Kramer arbeitete in den achtziger Jahren im Kulturdezernat der Stadt Frankfurt, als Hilmar Hoffmann dort als Kulturdezernent sein Programm "Kultur für alle" entwickelte. Kramer, Titular-Professor am Institut für europäische Ethnologie der Universität Wien, war unter anderem Oberkustos im Museum für Völkerkunde in Frankfurt und gehörte der Enquete Kommission "Kultur in Deutschland" des Deutschen Bundestages an. Er nennt die Finanzierungskrise erst an dritter Stelle, setzt völlig andere Akzente.

    "Der Staat hat sich arm gemacht und die öffentlichen Hände haben sich arm gemacht, und in dieser Situation steht Kulturpolitik vor der Frage: Kann man sparen' Wo muss man sparen. Ich habe die Frage ein bisschen umgestellt. Ich frage nicht: Wo kann man sparen? Ich frage: Wo sind die Ressourcen?"

    Die Menschen brauchen Kultur, sie entwickeln sie aus eigenem Antrieb und im eigenen Interesse. So lautet Kramers Grundthese. Kultur bedeutet Genussleben, Geselligkeit und Vorstellungen vom guten Leben. Die Menschen entwickeln Arbeits-, Ess- und Streitkultur, bilden moralische Maßstäbe heraus und suchen nach Wegen, wie sie mit der Veränderung der Gesellschaft oder beispielsweise dem Klimawandel umgehen können:

    "Sie müssen, um ihr Leben gestalten zu können, aus der Fülle der Möglichkeiten, die sie haben, bestimmte Strukturen auswählen. Das nennt man Kultur. Sie sind gezwungen, kulturelle Werte, Normen, usw. zu setzen, um miteinander umgehen zu können."

    Die sich um den Marburger Soziologie-Professor Dieter Haselbach gruppierenden Autoren des viel diskutierten Buchs "Der Kulturinfarkt", konzentrieren sich auf die Institutionen der Hochkultur und unterbreiten radikale Sparvorschläge. Dem gegenüber stellt Dieter Kramer einen weiten Kulturbegriff zur Diskussion und fordert eine inhaltliche Debatte über die Funktion der Kulturpolitik als eine lebenswichtige, umfassende gesellschaftspolitische Aufgabe. Er schreibt:

    "Kulturpolitische Entscheidungen müssen in den entsprechenden Gremien immer wieder neu gefällt werden. Sie beziehen sich auf Institutionen, Personal, Investitionen und Programme."

    Doch dürfe es dabei eben nicht nur darum gehen, wie Kulturpolitik mit den vorhandenen Institutionen umgehen kann.

    "Die Neuerfindung der Kulturpolitik aber gewichtet vor allem auch das neu, was außerhalb der Institutionen geschieht."

    "Also in der Kultur, in der Art und Weise, wie wir leben und arbeiten, wird formuliert oder muss eine Perspektive enthalten sein, wie wir leben wollen. Qualität! Standards des guten und richtigen Lebens. Die Grundwerte sind festgeschrieben, aber ihre Interpretation nicht. Zum Beispiel haben wir neu in das Alltagsverhalten aufgenommen gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften. Das war früher nicht drin, aber wir interpretieren die Grundwerte jetzt so, dass das mit drin ist. Und bei dieser Neuinterpretation der Grundwerte wirken auch die Migranten zum Beispiel mit. Und dieser Prozess – der muss stattfinden."

    Der Autor holt weit aus in den neun lohnenden Kapiteln seines Buchs. Er analysiert die gegenwärtige Lage der Kultur, definiert die Ziele von Kulturpolitik und arbeitet die Linien kultureller Entwicklung in der Geschichte und in verschiedenen sozialen Milieus heraus. Er beschäftigt sich auch mit der Funktion der Künste und fragt, wo diese, so seine Formulierung, "ihren Sitz in der Gesellschaft" haben. Auf dieser Grundlage wendet er sich wieder der Kulturpolitik im engeren Sinn zu.

    "Kulturpolitik soll dazu beitragen, den Menschen Lebensqualität zu ermöglichen. Und vieles davon machen die Leute sowieso schon selbst, zum Beispiel in der Vereinsarbeit, das müssen wir anerkennen und deswegen muss die Kulturpolitik auch sich von dieser wertenden Unterscheidung verabschieden von Hochkultur und Populärkultur. Und dabei ihnen zu helfen und dieses zu vermitteln mit den gesellschaftlichen Problemen, die wir haben, also ihr Genussleben, ihre Lebensqualität zu vermitteln mit den allgemeinen Lebensproblemen von Integration bis hin zum Ressourcenverbrauch, da müssen wir Brücken bilden. Und diese Brücken muss die Kulturpolitik bilden."

    Wie eine neue Kulturpolitik dies tun soll, ist so neu dagegen nicht. Kramers Vorschläge kommen aus der Zeit, in der Hilmar Hoffmanns Programm "Kultur für alle" entwickelt wurde. Doch statt den Bürger als Konsument von Kultur zu sehen, sieht Kramer ihn heute vor allem als Akteur, verschiebt er die Akzente auf die Ressource "Bürger". Für die Kommunen greift er die alte Idee des Kulturbüros auf, das jedoch mehr leisten soll als Sponsoren zu suchen oder Adressen zu vermitteln. Es soll Ort einer gesellschaftspolitischen Vermittlungs- und Vernetzungsarbeit werden. Auch auf Ebene der Länder verweist er auf vorhandene Ansätze:

    "Also für mich vorbildlich ist zum Beispiel nach wie vor das Sächsische Kulturraumgesetz, mit dem erzwungen wird, dass Gremien gebildet werden, in denen Menschen unterschiedlichster Herkunft und unterschiedlichster Interessen sitzen und die müssen gemeinsam jetzt entscheiden, was soll gefördert werden."

    Anders als die Autoren des "Kulturinfarkts" beschäftigt Kramer sich mit den historisch gewachsenen Gegenständen, Möglichkeiten und Zukunftsaufgaben von Kulturpolitik. Denn für ihn wurzelt deren "Neuerfindung" in der Geschichte, nicht in knappen Fördergeldern. Mit seinem Buch gelingt es Dieter Kramer, die Fenster aufzureißen, hinter denen über Kulturetats verhandelt wird. Und es gelingt ihm, der kulturpolitischen Debatte die frische Luft und streitbare Ideen zuzuführen, die sie dringend nötig hat.

    Dieter Kramer: Kulturpolitik neu erfinden.
    Die Bürger als Nutzer und Akteure im Zentrum des kulturellen Lebens

    Klartext-Verlag, Edition Umbruch, Bd. 28, 234 Seiten, 19,95 Euro
    ISBN: 978-3-837-50710-2