Dienstag, 30. April 2024

Archiv


Goldene Knolle

Im Anschluss an seinen Roman gibt Tim Pears einige seiner Quellen preis, darunter Bücher wie Dunkelheit in El Dorado, Die Kartoffel, Herkunft und sozialer Einfluss der Kartoffel oder Die Geschichte der Kartoffel.

HArtmut Kasper | 09.04.2004
    Soviel Kartoffelkunde musste freilich sein, denn John Sharpe, die Hauptfigur, John Sharpe, der während des ganzen Romans in seinem Auto die Stadt London auf ihrer berühmten Ringstraße umkreist, ohne sich zum Abfahren entschließen zu können, John blickt auf ein Leben als Kartoffelhändler zurück; und er hat, wenn man den Kalauer gestattet, in der Knolle sein El Dorado gefunden. Bislang jedenfalls.

    Zusammen mit seinem Bruder Greg hatte er das Obst- und Gemüsegeschäft seines Vaters übernommen, den Handel ganz auf dieses amerikanische Nachtschattengewächs spezialisiert und so das Familienunternehmen zu großer Blüte geführt.

    Bei dem Versuch aber, die an sich schon nahrhafte Kartoffel auch noch ein wenig zu modernisieren und biogenetisch zum Arzneimittel aufzupeppen, ist etwas schief gegangen. Zwei der Versuchspersonen haben das Experiment nicht überlebt, und nun denkt John darüber nach, wie er das seinem Geschäftsbruder beibiegen soll. Und weil er noch nicht weiß, wie, biegt er auch nicht von der Ringautobahn ab und erzählt statt dessen uns sein bis dahin so erfolgreiches Leben.

    Nicht ganz aufrichtig, übrigens, wie man bald merkt. Seine spätere Frau will er einmal beim Trampen, das andere Mal beim Fußballspielen kennengelernt haben; und auch sonst wirken seine Geschichten mehr oder weniger retuschiert.

    Je länger aber der Kreisverkehr um London dauert, desto tiefer dringt man unter die Oberfläche dieser Kartoffelhändlerexistenz ein, gewissermaßen in ihr Wurzelwerk. Und man erfährt, dass die Familiengeschichte derer von Sharpes an Verworrenheit und Monstrosität dem finstersten Byzanz kaum nachsteht.

    Da wäre zum Beispiel Johns Vorliebe für Mätressen, für kostenlose wie für gemietete. In Berlin, das ihm sonst nur als die Stadt aufgefallen wäre, in der "Hundeleinen (...) gesetzlich verboten" zu sein scheinen, vermerkt er mit Kennerblick, dass der Mauerfall und der Niedergang des sowjetischen Imperiums überhaupt wenn schon nichts sonst, so doch eine spürbare Hebung des Niveaus der Prostituierten bewirkt habe.

    Da wäre die Geschichte seiner geradezu erschreckend schönen Schwester Melody, die ihn, wie man beiläufig erfährt, in Teenagerjahren verführt hat. Oder er sie. Nun sind beide in den Vierzigern und so glücklich verheiratet, wie es sich gehört; ihre mehr als geschwisterliche Intimität miteinander aber haben sie deswegen noch lange nicht aufgegeben.

    Johns Plauderei über all das, was er an Leichen und anderen Früchten seiner Arbeit eingekellert hat, wirkt weniger selbstdenunziatorisch als vielmehr selbstzufrieden. Munter schwadroniert er über die wesentlichen Dinge des Lebens: über das Essen und Verdauen und die anschließenden Ausscheidungsprozeduren, über Kapitalismus, Kunst und den damit zusammenhängenden Insulinspiegel, und immer wieder über familiäre Erlebnisse.

    Und was sich in dieser Familie zuträgt, liest sich mehr und mehr so, als wären die Sharpe-Brüder eine Konkurrenz zu den Marx Brüdern oder als entwickelte sich die Biographie von John zum Aufnahmegesuch für Monty Pythons Flying Circus.

    Die zunehmend grotesken Szenen zeigen John als Hypochonder beim Arzt, John bei einer Bergbesteigung, John, der sich auf dem Flughafen fühlt, als sei er in eine M.C. Escher-Zeichnung geraten.

    Höhepunkt der ganzen Folge aber ist ein Konzert in der Kirche des Dorfes, in das John sich und seine Familie neuerdings und neureich eingekauft hat. John übernimmt hierbei den Part des Pausengastgebers und füttert die kunstsinnige Dorfgesellschaft mit leckeren Bio-Erdbeeren. Angeblichen Bio-Erdbeeren, denn deren Fruchtfleisch ist in Wahrheit so wenig biologisch-dynamisch wie die der Sharpeschen Pharmaziekartoffel, und ihre Wirkung auf den Verdauungstrakt nicht viel weniger desaströs. Weswegen das so verpflegte Publikum noch während Chopins Klaviersonate Nr. 3 unter Umgehung aller Verdauung unverzüglich zum Ausscheiden übergeht und dazu alle Öffnungen nutzt, die ein Körper dafür hergibt. Und da auch John von den Erdbeeren genascht hat und sein Magen entsprechend revoltiert, steht er jetzt zum ersten Mal im Dorf nicht abseits.

    Es braucht eine Weile, bis Tim Pears die schwarze Komödie freigelegt hat, die sich im Untergrund dieses Gemüsehändleridylls abspielt. Dann aber wird sie geradezu nachtschwarz, und lässt John Sharpe wie einen Schlafwandler durch sein Leben steuern, als wäre er auf traumhafte Art der Ungeheuerlichkeiten un-bewusst, die er denkt, anrichtet und erzeugt.
    Denn er zeugt zwar, eine Art Sohn nämlich, doch sogar dieser John junior ist weniger Frucht eines Leibes als eines genetischen Kunstgriffs.

    Es ist seine Frau Lily, die John im Laufe des Romans immer wieder ruft "Wach auf!".
    Aber der Spaß wäre ja vorbei für ihn wie für uns, würde er sie erhören.

    Tim Pears
    Wach auf!
    Berlin Verlag, 252 S., EUR 19,90