Schweizer Schriftsteller gestorben

Peter Bichsel, Meister der kurzen Form

Der Schriftsteller Peter Bichsel: Ein älterer Mann mit runder Brille und weißem Haar.
War vor allem für seine Kurzgeschichten und Kolumnen bekannt: Peter Bichsel. © picture alliance / Peter Schneider
Nachruf von Anja Hirsch |
Mit seinen sogenannten Kindergeschichten wurde er in den Sechzigern bekannt. Die Form der Kolumne, von denen er an die Hunderte schrieb, ist untrennbar mit seinem Namen verbunden. Jetzt starb der Schweizer Schriftsteller Peter Bichsel.
Geboren am 24. März 1935 in Luzern als Sohn eines Malermeisters, entdeckt Peter Bichsel die Literatur in der örtlichen Stadtbibliothek. Fußball wie die anderen spielte er nicht. Dazu war er noch Linkshänder. Was blieb da anderes übrig?

„Man liest ja, wenn man liest, das eigene Leben. Man liest kein anderes. Man liest das Eigene. Man ist da mit drin.“

Genau so konnte es auch seinen Lesern ergehen. Man war sofort mittendrin. „Kindergeschichten“ nannte er manche. Aber waren sie das wirklich? Geschichten für Kinder? Die Autorin dieses Nachrufs, die selbst in der dritten Klasse beim Vorlesewettbewerb seine Geschichte „Ein Tisch ist ein Tisch“ lesen musste und sich daran fast die Zunge zerbrach, erinnert sich jedenfalls noch gut an das damit verbundene seltsame, nicht nur schöne, vielmehr irritierende Gefühl.

„Es ist eine sehr langweilige Geschichte übrigens, die Geschichte von einem alten Mann, der allein ist, keine Frau hat, keine Kinder mehr, der mit niemandem spricht, selten ein Wort sagt, der ein müdes Gesicht hat, zu müd zum Lächeln und zu müd, um böse zu sein – und es lohnt sich fast nicht, ihn zu beschreiben.“

Geschichten von Kauzigen, Normalen und Erschöpften

So ehrlich und rundheraus hatte damals niemand zu Kindern das Alter und die damit verbundene Einsamkeit beschrieben. Die Geschichte vom alten Mann, der aus lauter Langeweile beschließt, das Bett fortan „Bild“ zu nennen und den Tisch „Teppich“ und den Stuhl „Wecker“, ist eigentlich eine traurige Geschichte. Aber hinreichend verrückt erzählt:

„Am Morgen verließ also der Mann das Bild, zog sich an, setzte sich an den Teppich auf den Wecker und überlegte, wem er wie sagen könnte.“

In die Siebzigerjahre mit ihrem pädagogischen Impetus wollte Peter Bichsel nicht richtig hineinpassen. Wer dem leisen Schweizer auf den Grund kommen wollte, musste aufnehmen wollen, was nicht erzählt wird: die tiefe Melancholie ebenso wie die absurde Freude, die momentweise aufblitzt. Peter Bichsel machte es einem eigentlich leicht:

„Aber ich glaube, es ist doch besser, wenn ich mit meinem halben Hochdeutsch spreche und nicht Schweizerdeutsch. Wenn ich Schweizerdeutsch spreche, versteht ihr wohl überhaupt nichts mehr. Also, seht, geh'n wir wieder zurück zu der Geschichte.“

Peter Bichsels Geschichten handeln von Kauzigen und Normalen und Erschöpften. Sie beschreiben – moralisieren aber nie. Eine Hoffnung verband Peter Bichsel aber doch mit seinem Schreiben:

„Ich glaube, man kann mit Schreiben nicht sehr viele belehren, aber man kann vielleicht Einzelne vor der totalen Verzweiflung retten, indem man ihnen sagen kann: Hier ist einer, der denkt auch so.“

Sein Name steht für die kurze Form

Wenn er erzählte, wie er Schriftsteller wurde, wirkte das immer etwas lapidar. „Hineingerutscht“ sei er, unter anderem auch deshalb, weil es noch kein Wort gab für das, worunter er als Schüler litt: der Legasthenie.
Der Volksschullehrer sah ohnehin darüber hinweg und lobte seine Aufsätze. Als Bichsel dann selbst Lehrer wurde und, wie er es so schön ausdrückte, „von den Besitzlosen zu den Besitzenden“ hinüberwechselte, war die letzte Angst vor dem Schreiben getilgt:

„Es hat mir dann schon Spaß gemacht, eventuell Schriftsteller zu werden, ich bin da halt reingerutscht, und jetzt bin ich's halt. Ein bisschen stolz auf meine Sachen bin ich schon, und ein bisschen schäm ich mich auch, dass es so wenig Sachen sind.“

In den Fünfzigern erschienen bereits erste Gedichte in der Zeitschrift „Augenblick“ von Max Bense. Danach Prosa im Privatdruck. 1963 nahm er an der frisch gegründeten Lesewerkstatt in Berlin teil. Zum ersten Mal war der 28-jährige Bichsel im Ausland und unter Deutschen. Walter Höllerer, Peter Weiss, Günter Grass hießen die Lehrer. Deren Werke kannte er. Seine Erfahrung beschrieb er 1997 im Gespräch mit Helmut Böttiger, Literaturkritiker und Autor eines Buches über die legendäre Gruppe 47:

„Dass es ein paar Leute gab, die selber schreiben und die interessiert waren, dass andere auch schreiben. Und das Zweite, das ich nicht wusste, ich hab‘ schon mit zwölf angefangen versucht, Gedichte zu schreiben – dass man darüber reden kann. Im Grunde war dieses Colloquium meine Vorstellung von einer möglichen Gruppe 47. Nämlich eine Gruppe von Leuten, die miteinander sprechen.“

„Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennen lernen“: Der Geschichtenband mit dem ungewöhnlichen Titel erschien ein Jahr später und war sofort ein Erfolg. In Berlin las Peter Bichsel dann aber aus seinem Romanmanuskript „Die Jahreszeiten“. Kiesinger hieß die Hauptfigur, was bald in „Kieninger“ geändert wurde, um Anspielungen an den gleichnamigen Bundeskanzler zu vermeiden.

„Jemand sagte, in diesem Haus könnte ich nicht wohnen. Es ist so schrecklich tomatenfarbig angestrichen. Dagegen gibt es nichts zu sagen. Das Haus ist auch viel zu hoch, zu schmal und zu hoch und der Garten zu klein. Im Badezimmer nebenan ist eine Leitung leck, und nun sickert das Wasser in die Mauer, und von der Wand des Zimmers blättert die Farbe.“

 „Seine Landsleute gönnten ihm den deutschen Preis der Gruppe 47. Was noch hinzukam: Er war Volksschullehrer und kostete die Gesellschaft wenig“, witzelte Max Frisch im Rückblick. Die Gruppe 47 zeichnete ihn 1965 für sein Romanmanuskript aus. Der Literaturkritik hingegen gefielen schon damals Bichsels Geschichten besser, was vorausschauend war: Es ist die kurze Form, für die sein Name heute steht. 1968 quittiert der Primarlehrer den Dienst und fängt an, für Zeitschriften zu schreiben. Die Weltwoche, den Tagesanzeiger, die Schweizer Illustrierte oder die Gewerkschaftspresse. Gegen Boulevard hat er nichts.

„In ein Buch stolpert mir niemand hinein. In die Schweizer Illustrierte stolpern mir Leute hinein.“

Retter der Kolumne

In der Schweiz erfreut man sich an den Texten, die er selbst gerne „Politschnulzen“ nennt. In Deutschland liest man sie als Literatur. „Übers Wetter reden“ hieß einer der vielen Bände, in denen sie in Buchform erscheinen. Schon die Eröffnungsgeschichte bestimmt die für Bichsel-Texte typische Gangart. Sie erzählt von einem Schmied, der Stanzen fertigt und bewundernd seine Hände anschaut. Auch Bichsels Kolumnen wirken wie kunstvolle Handarbeit, leicht und zugleich tief, mit Ruhe gefertigt, aber innerhalb eines festen Rahmens. Länge und Abgabetermin standen fest, was Bichsel sehr gefiel. Etliche hundert hat er geschrieben.
Wie kaum einer machte er aus dem scheinbaren Nichts Nachdenkenswertes und Philosophisches – etwa aus der Betrachtung eines kränkelnden Avocadostrauchs eine Geschichte über Vergänglichkeit; aus der Fahrt mit dem Paternoster eine Geschichte über Freiheit; aus der Erfahrung, Beethoven auf dem Smartphone in Wiederholungsschleifen hören zu können, eine melancholische Geschichte über „das kaltschnäuzige Wissen des Internets“. Technikfeindlich war er aber offensichtlich nicht.

„Von Hand schreiben, das konnte ich nie. Irgendwie muss ich die Buchstaben sehen, und ich habe sehr gelitten, weil ich meine riesige Schreibmaschine überall rumschleppen musste und hab‘ mir immer eine sehr leichte und vor allem leise Schreibmaschine gewünscht. Und eines Tages denke ich, Idiot, das gibt es – ein Laptop.“

Wer 1969 das Radio anschaltete, konnte Peter Bichsel schon auch mal als ziemlich trockenen DJ erleben, der gelehrig Beatle-Songs vorstellte.

„Viele der Songs der Beatles sind Hymnen. Sie sind geeignet, Gemeinschaften zu bilden, Gefühle einer Gemeinschaft auszudrücken, ohne den Einzelnen auf etwas zu verpflichten.

Seine eigentliche Stärke blieb die kurze Form. Peter Bichsels Kolumnen handeln vom Menschen. Muße und Langeweile sind erwünscht und produktiv. Das sogenannte Bichselwatching existiert sogar als griffiges Wort: schauen wie Bichsel. Das heißt auch: Warten können und dem Zufall vertrauen.

„Ich mag Feuilleton. Und ich weiß auch, dass, wenn ich Kolumnen schreibe, dass ich eine antiquierte, längst nicht mehr brauchbare Form, also 19. Jahrhundert hier weiter pflege – und ich möchte die Kolumne wirklich ins 21. Jahrhundert hinüber retten.“

Bichsel als Retter der Kolumne – das war schon das Äußerste an euphorischer Selbstbeschreibung. Sich selbst nicht so wichtig zu nehmen, von schräg unten die Welt zu betrachten in Robert Walserscher Manier, das lag dem Autor mehr. Trotzdem wurde er zunehmend politischer und seine Texte immer deutlicher von Kritik durchzogen – etwa am Bildungssystem. Schüler, explizierte er einmal, seien „Vollzogene“, Lehrer hingegen „Bildungsvollzugsbeamte“. Seine aktive Zeit Ende der Siebziger blieb allerdings eine Episode: Sieben Jahre lang beriet er bis 1980 Willi Ritschard, damals Schweizer Bundesratsmitglied, obwohl das Verhältnis zum eigenen Land durchaus zwiespältig war. 1981, als Peter Bichsel Stadtschreiber von Bergen-Enkheim war, gab er kund:

„Es ist ein fürchterlich kleinbürgerliches Land, die Schweiz. Und wissen Sie, in dieser Schweiz ist noch nie etwas schief gelaufen – nach der Meinung der Spießer. Das ist diese Unschuld. Diese völlige Unschuld. Und wir Schweizer sind ein Volk von Herrenmenschen geworden.“

Max Firsch über Bichsel: Er ist ein Poet

„Peter Bichsel ist ein Poet.“ Das sagte sein Landsmann Max Frisch, der die Laudatio auf den frisch gekürten Stadtschreiber hielt. Kürzer kann man es nicht fassen. Selbst in den theoretischeren Frankfurter Poetikvorlesungen von 1982 klingt Bichsel nie dogmatisch, vielmehr lebensklug.

„Leser sind mitunter Leute, die mit Fragen umgehen können, ohne gleich nach der Antwort zu rufen: in Fragen leben, nicht in Antworten.“

Manchen galt er wegen solcher Äußerungen gar als subversiv. Dabei hat er nur genau hingeschaut und das tägliche Leben gehäutet.

„Ich verzweifle nicht darüber, dass ich kein Lebenswerk habe. Mein Ehrgeiz ist nicht ein zwanzigbändiges Gesamtwerk.“

Peter Bichsel, der sich amüsiert gerne „Wenigschreiber“ nannte, hat immer noch genug Text zum Entdecken hinterlassen. Fast Gespräche, die einladen, sich dazuzusetzen und mitzustaunen. In Fragen leben, nicht in Antworten. Das zu beherzigen hat Peter Bichsel gelehrt.
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