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Virginie Despentes: "Das Leben des Vernon Subutex"
Ein Sozialpanorama in Breitwandformat

Virginie Despentes schreibt rotzig, politisch unkorrekt und amüsant – ihren Figuren kriecht sie erzählerisch unter die Haut. Die französische Gesellschaft werde in ihrem Roman "Das Leben des Vernon Subutext" gründlich auf die Couch gelegt, finden Kritiker.

Von Antje Deistler | 17.12.2017
    Buchcover: Virgine Despentes: "Das Leben des Vernon Subutex"
    "Das Leben des Vernon Subutex" von Virginie Despentes ist unser "Buch der Woche". (Buchcover: Kiepenheuer & Witsch, Foto: EFE)
    "Wenn man über 40 ist, gleicht die ganze Welt einer bombardierten Stadt."
    Diesen Satz denkt der Titelheld von Virginie Depentes irgendwann, und er fasst ziemlich gut zusammen, was "Das Leben des Vernon Subutex" ausmacht: Die Handlung des Buchs. Die Haltung des Hauptdarstellers. Und das Talent seiner Schöpferin, komplexe Zusammenhänge knapp, scharfsinnig und bildhaft auf den Punkt zu bringen. Und das mit einer ordentlichen Portion garstigen Humors.
    "Das Leben des Vernon Subutex" war und ist eine literarische Sensation in Frankreich. Ein Parforce-Ritt durch alle gesellschaftlichen Themen, eine Bestandsaufnahme der nationalen Ängste, ein Sozialpanorama in Breitwandformat. Deshalb wird die Trilogie häufig mit Balzacs "Die menschliche Komödie" verglichen. Virginie Despentes dagegen bekam den Stempel "weibliche Houellebecq". Dabei polarisiert sie mit ihrem Vernon Subutex nicht halb so sehr wie Michel Houellebecq mit seinen Büchern. Im Gegenteil: Ihre Abstiegsgeschichte in drei Teilen wird von Kritik und Publikum einhellig gefeiert. Und das völlig zu Recht. Aber von Anfang an.
    Vernon Subutex – den seltsamen Namen hat sich der Titelheld wahrscheinlich selbst gegeben: Subutex ist eine Ersatzdroge für Heroin. Sein Leben lang war Vernon Subutex ein cooler Hund, plötzlich aber gehört er zu den Verlierern der Digitalisierung. 20 Jahre lang führte er einen angesagten Plattenladen in Paris, das "Revolver". Als Ex-Punkmusiker und Vinyldealer war Subutex wer in der Subkultur von Paris. Ein geachteter Vertreter von Sex, Drugs and Rock’n’Roll. Dann kam das Internet, Musik wurde ab sofort heruntergeladen, der Plattenladen starb einen schnellen, grausamen Tod. Vernon verkaufte seinen Besitz auf Ebay. Jetzt ist er Ende 40, arbeits- und mittellos.
    Zitat: "Im Angesicht der Katastrophe hält sich Vernon an einen Grundsatz "So tun, als ob nichts wäre". Er hat zugesehen, wie alles den Bach runterging, erst war es wie in Zeitlupe, dann legte der Absturz an Tempo zu. Aber Vernon hat weder die Gleichgültigkeit noch die Eleganz aufgegeben."
    Gesellschaftsroman über die Besiegten der neuen Zeit
    Erst bekommt Subutex noch Stütze, aber die wird ihm gestrichen. Er schlägt sich durch. Nicht mit verzweifeltem Überlebenswillen, sondern eher gleichgültig, schon weil er das alles kaum fassen kann. Er versucht, sich seine alte Lässigkeit zu bewahren. Vielleicht kann er gar nicht anders, wahrscheinlich aber versteht er wirklich nicht, was ihm da passiert. Damit steht er genauso verdattert und ungläubig da wie seine gesamte Generation.
    Zitat: "Man sieht ihm an, dass er keinen Cent mehr hat. Aber er ist noch nie im Geld geschwommen. Zu seiner Zeit stärkte das die Glaubwürdigkeit. Das war vor dem neuen Jahrtausend, heute trägt im Konzertpublikum jeder ganz selbstverständlich neue und teure Latschen, die richtigen Marken, die angesagte Uhr am Handgelenk, feine Jeans, die genau passen und deren Schnitt bezeugt, dass sie in diesem Jahr gekauft sind. Seit Voltaires Zadig hat das Elend die poetische Aura verloren – nachdem es den Künstler jahrzehntelang aufgewertet hat, den echten, der seine Seele nicht verkauft hat. Heute heißt es Tod den Besiegten, sogar beim Rock."
    Ein weiterer Besiegter, sogar beim Rock, ist der Musiker Alexandre Bleach. Der ist schon am Anfang des Buchs tot, aber er spielt eine wichtige Rolle, nicht nur in, sondern vor allem für diesen Roman. Alex Bleach war der einzige von Vernon Subutex’ vielen alten Bekannten aus der Punkzeit, der tatsächlich mit der Musik Erfolg hatte. Ein berühmter Popstar ist er geworden, und genau das wurde ihm zum Verhängnis.

    Zitat: "Alex war der Typ, dem man mitteilte, er habe hunderttausend erste Singles verkauft, und der deswegen in den Abgründen der Depression versank. Er war ein echter Proletensohn und hatte panische Angst vor dem Erfolg. Er war ein Mann, der sich schämte. Anstand nannte er das."
    Die Autorin Virginie Despentes; Aufnahme aus dem Jahr 2010
    Die Autorin Virginie Despentes; Aufnahme aus dem Jahr 2010 (AFP / Thomas Samson)
    Dieser Alex Bleach stirbt einen typischen Rockstartod in der Hotelbadewanne. Ob Drogen oder Selbstmord, weiß man nicht so genau. Eine Welle der Trauer geht auf Facebook-Seiten nieder, dann ist schnell wieder alles beim Alten. Außer für Vernon Subutex, denn Alex Bleach hatte ihn finanziell unterstützt, ohne ihn fliegt er auch noch aus seiner Wohnung. So setzt der Tod des berühmten Freundes Vernon Subutex’ Reise durch die Wohnungen, Gästezimmer und über die Schlafsofas von alten Kumpels und Geliebten und damit quer durch die Gesellschaft Frankreichs in Gang. Eine Reise, die immer schneller ins Elend führt.
    Treffend, auf den Punkt, komisch
    Aber so wie Virginie Despentes von Vernon Subutex und seiner Abwärtsspirale erzählt, packt einen als Leser nicht ebenfalls das Elend. Als "harter Stoff" wird Vernon Subutex öfter bezeichnet, und natürlich enthält das Buch einiges an Beängstigungspotential für das akademische Prekariat, das auch die Cafés in deutschen Großstädten bevölkert. Doch Subutex’ moderne Odyssee steckt so voller treffender Beobachtungen der verschiedensten Menschentypen, dass sie trotz des traurigen Inhalts auch immer wieder extrem komisch ist. Mühelos bringt Despentes Dinge auf den Punkt, die andere nur diffus denken oder fühlen.
    Nehmen wir Emelie. Die erste in diesem Reigen von Mittvierzigern, bei der Vernon Subutex unterschlüpft.
    Zitat:"Sie hat Gläser rausgeholt, Bierdeckel hingeworfen und mit schroffen Bewegungen eine Schüssel mit gebrannten Mandeln gefüllt, hat die Rituale der Gastfreundschaft befolgt, aber demonstrativ unwillig, damit es unangenehm bleibt. Sie hat aufgepasst, dass Vernon den schwedischen Couchtisch nicht anrührt, sechshundert Euro im Sonderangebot bei Sentou. Emilie ist pingelig geworden in Sachen Sauberkeit. Früher war ihr das total egal. Heute könnte sie wegen ein paar Krümeln unter dem Tisch oder Kalkspuren am Wasserhahn zur Mörderin werden."
    Emelie war Bassistin bei den "Nazi Whores", der Punkband, der auch Subutex mal angehörte. Inzwischen macht sie irgendeinen Angestelltenjob und lebt ein Spießerleben, weil ihre Eltern das gutheißen. Sie fühlt sich seit langem verraten von den alten Kumpels, hadert mit den zusätzlichen Kilos, die die Jahre mit sich brachten, und sie vermisst einen Mann in ihrem Leben. Aber eigentlich … - auch wieder nicht.
    Zitat: "Männer ihres Alters stoßen sie ab, ihre Eier hängen runter wie sklerotische Schildkrötenköpfe."
    Das ist die große Kunst von Virginie Despentes: Ein einziger Satz, und die gesamte Erschöpfung dieser beinahe 50-jährigen Frau wird spürbar. Die Autorin schreibt rotzig, politisch unkorrekt, amüsant. Und doch gelingt ihr das Kunststück, keine einzige Gestalt in ihrer Ansammlung von tragischen Gestalten lächerlich zu machen. Als personale Erzählerin kriecht sie ihren Charakteren unter die Haut, formuliert deren Gedanken. Ein vielstimmiger Stream of Consciousness ist das, ein Chor der Desillusionierten, jedes Solo authentisch und lebendig.
    Zitat: "Sie hasst Männer, die beim Vögeln kurzatmig sind oder sich nach fünf Minuten auf den Rücken legen müssen, weil sie nicht mehr können, und die Partnerin den Rest allein machen lassen. Sie hasst ihren dicken Wanst und die kleinen grauen Schenkel."
    Bei Emelie kann Vernon Subutex aus offensichtlichen Gründen nicht landen und daher nicht lange bleiben. Aber er lässt ein paar Habseligkeiten bei ihr, darunter etwas, von dessen Wert er noch gar nichts ahnt. Sein Popstar-Freund Alex Bleach hatte bei der letzten gemeinsamen Drogenparty in Vernons Wohnung ein Video von sich selbst aufgenommen, das jetzt, nach seinem Tod, als Vermächtnis gilt.
    Während Vernon Subutex sich von Couch zu Couch hangelt, läuft im Netz eine Suchaktion nach ihm, hashtag subutex. Der obdachlose Verlierer weiß nicht, dass er eigentlich ein gefragter Mann ist.
    Diese Ebene – die Jagd auf den Ahnungslosen, verleiht der Geschichte Spannung und Ziel. Virginie Despentes inszeniert ihre Thrillerspannung gekonnt und mit den narrativen Mitteln von modernen Fernsehserien. Wie es sich gehört beim seriellen Erzählen, endet "Vernon Subutex", die erste Staffel, mit einem cliffhanger. Davor lernt man – genau wie bei "Game of Thrones" oder "Stranger Things" – eine Reihe von schillernden Figuren ausführlich kennen. Sie sind alle miteinander vernetzt – wie sehr, überblicken sie selbst nicht, die Leser irgendwann schon. Eine Figur im Zentrum jedes Kapitels, respektive jeder Episode. Jede Figur hat, ähnlich wie in Nick Hornbys Romanen, ihren eigenen Soundtrack, wird charakterisiert durch die Bands, die sie hört oder ablehnt.
    Roman mit den narrativen Mitteln von Fernsehserien
    Dabei behandelt Virginie Despentes alle ihre Charaktere gleich. Die Sympathischen bekommen ebenso viel Raum und Rederecht wie die Unsympathischen. Noch die fiesesten Zeitgenossen werden aus Despentes personaler Erzählperspektive zumindest ein wenig zugänglich. Sogar jemand wie Xavier, früher Punk, heute ein Rechter, dessen unterschwellige Wut einen so direkt trifft wie ein Faustschlag ins Gesicht.
    Zitat: "Nach fünf Minuten im Supermarkt könnte Xavier den ganzen Laden in die Luft jagen. Im Monoprix seines Viertels haben Idioten das Sagen. Der Wahnsinn hat Methode: Sie warten, bis der Laden richtig voll ist, dann lassen sie die Mitarbeiter Ware auffüllen. Sehen zu, dass der Durchgang für die Einkaufswagen maximal behindert wird. Genau so gut könnten sie es morgens, vor Ladenöffnung, machen oder wenn nichts los ist. Nein, es müssen die
    Spitzenzeiten sein: Los, stell drei Paletten zwischen die Regale, wenn die bescheuerten Konsumenten einkaufen wollen, sie sollen leiden.
    Xavier ist Drehbuchautor, vor 15 Jahren hatte er mal einen erfolgreichen Film, danach nur noch "Projekte", aus denen nie irgendwas wird. Aber er ist mit einer erfolgreichen Frau aus wohlhabendem Haus verheiratet. Glück gehabt also. Sonst wäre er wahrscheinlich ähnlich schlecht dran wie Vernon. Das würde Xavier so wohl nie zugeben. Aber sein Hass auf Ausländer, vor allem auf Moslems, zeugt von einigem Frust und Selbsthass.
    Zitat: "Der fetten verschleierten Araberin, die sich vor ihm durch den Gang wälzt, würde Xavier am liebsten in den Arsch treten. Kann man überhaupt noch zweihundert Meter die Straße langgehen, ohne dass man ihre Schleier, die Hand der Fatima an jedem Rückspiegel und die Aggressivität ihrer Bälger ertragen muss? Widerliche Rasse, kein Wunder, dass niemand sie ausstehen kann! Er steht hier und kauft ein, anstatt zu arbeiten, weil Madame nicht will, dass man sie für ein Dienstmädchen hält, aber die dreckigen Faulenzer von Kanaken hängen draußen rum, ohne einen Finger krumm zu machen; haben die ein Schwein! Zusammen mit den Arbeitslosen, denen die Stütze in den Arsch geschoben wird, sitzen sie den ganzen Tag im Café, während ihre Weiber schuften. Die machen nicht nur alles im Haus, ohne zu jammern, und gehen arbeiten, um ihre Kerle durchzufüttern, sie müssen sich auch noch einen Schleier umhängen, um ihre Unterwerfung zu demonstrieren.
    Die zutiefst verunsicherte französische Gesellschaft sei seit Ewigkeiten nicht mehr so gründlich auf die Couch gelegt worden sei wie in diesem großen Gesellschaftsroman, heißt es. Das ist sicher wahr, aber es greift gleichzeitig zu kurz. Was die ehemalige Punkerin, ehemalige Plattenverkäuferin, ehemalige Prostituierte und ehemalige Pornodarstellerin Virginie Despentes in "Vernon Subutex" beschreibt, ist viel universeller. Die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Umwälzungen sind auch bei uns passiert. Natürlich hat Despentes Erzählung etwas sehr Französisches, und die Großstadt Paris mit all ihren Besonderheiten ist als Ort präsent und unverwechselbar. Aber auch als deutsche Leserin kennt man die Typen, die sie beschreibt – die gibt es in allen urbanen Zentren in ganz Europa, wenn nicht überall im Westen.
    Leicht erschrocken erkennt man sich selbst
    Und nicht nur das. Man erkennt sich immer wieder auch leicht erschrocken selbst – erst recht, wenn man wie Vernon Subutex - und wie Virginie Despentes selbst - ebenfalls plötzlich über 40 ist, und wenn einem die gleichaltrigen Freunde schon wegsterben, bevor man überhaupt begriffen hat, dass man nicht mehr jung ist.
    Zitat: "Tot. Noch einer. Vernons Körper verkrampft sich, irgendwas grollt in ihm, versetzt ihn in Panik. (...) Jede Erinnerung ist vermint. Eine Decke, die er sorgfältig über der Angst ausgebreitet hatte, rutscht weg – sie berührt die Haut. Seine Blase war wasserdicht, beruhigend und gut ausgestattet. Er lebte in Formalin, in einer Welt, die jetzt auseinandergebrochen ist – er hatte sich an Menschen geklammert, die nicht mehr da sind."
    Virginie Despentes Figuren leiden an der politischen Situation, der wirtschaftlichen Misere, an den Folgen ihres sozialen Ab- oder sogar Aufstiegs. Vor allem aber leiden sie am Alter. Erst recht als Vertreter der Generation Punk, die zusehen muss, dass die heute Jungen entweder angepasst, total materialistisch oder reaktionär sind. Oder alles zusammen. Oder aber: Verschleiert. Wie Aicha, die als Teenager herausfindet, dass ihre verstorbene algerische Mutter unter dem Namen "Vodka Satana" als Pornostar arbeitete. Das Mädchen zieht sich in den islamischen Fundamentalismus zurück, zum Entsetzen ihres gebildeten, laizistisch orientierten Vaters.
    Sylvie, Edelgroupie und eine Ex-Freundin von Alex Bleach, muss sich damit abfinden, dass ihr soeben ausgezogener Sohn ein Rechter geworden ist. Céleste, die hübsche Tochter eines ehemaligen Kunden im Plattenladen von Vernon Subutex, fragt ihn allen Ernstes, ob er seinen Namen aus Harry Potter habe.
    Virginie Despentes Personal umfasst mehrere Generationen und Angehörige jeder sozialen Schicht, jeder politischen Orientierung und Desorientierung, jeden Geschlechts. Vom koksenden Börsenmakler, der sich als Mäzen aufführt und Vernon eine Weile als DJ in seinem Penthouse beschäftigt, bis zur verprügelten Obdachlosen, an deren Seite er schließlich hart aufschlägt, ganz unten, auf dem Trottoir. Es ist ein anrührendes Detail, dass es die Liebe ist, die ihm am Ende den Rest gibt. Der cool-distanzierte Vernon verliebt sich leidenschaftlich in Marcia, eine brasilianische Transsexuelle, und das geht nicht gut aus.
    Eine der interessantesten Figuren in Virginie Despentes urbaner Freakshow aber ist sicher die Hyäne. Sie ist eine von denen, die sich auf die Suche nach Vernon Subutex und seinen Videos von Alex Bleach machen. Die Hyäne – einen anderen Namen hat die lesbische Zynikerin nicht - trat schon in Despentes Roman "Apokalypse Baby" auf. Früher Dealerin, heute Gelegenheitsdetektivin und vor allem: Professioneller Internettroll. Spezialität: Cyber-Lynchmorde.
    "Niemand kapiert irgendwas, aber jeder will sein Nugget"
    Zitat: "Auf Wunsch macht sie einen Künstler, einen Gesetzesentwurf, einen Film oder eine Elektroband zur Schnecke. Ganz allein zieht sie in vier Tagen wie eine ganze Armee gegen den Feind zu Felde. Sie hat ihr Repertoire falscher Identitäten deutlich erweitert, und sie will ja nicht angeben, aber ihr Schwachsinn ist viral. In achtundvierzig Stunden verpestet sie das Netz. Soweit sie weiß, hat in Paris kein anderer diese Effizienz. Danach läuft es von selbst – die Journalisten lesen Twitter und die Kommentare und fühlen sich verpflichtet, auf den Schwachsinn einzugehen, den sie dort finden. (...) in der heutigen Kultur der »Likes« ist ihre Strategie extrem einträglich – es ist wie ein Goldrausch, niemand kapiert irgendwas, aber jeder will sein Nugget. Das ist der bescheuertste Job, den sie je gemacht hat. Aber er ist gut bezahlt, wenn man sich überlegt, wie gering der Aufwand ist. Sie hat ihre Auftraggeber bei den Eiern – wer genug Kohle hat, zahlt jeden Preis, um der Konkurrenz zu schaden."
    "Niemand kapiert irgendwas, aber jeder will sein Nugget" – ein typischer Despentes-Satz. Einfach und treffend: Mehr muss man über die Schattenseiten der Digitalisierung eigentlich nicht sagen, um sie in vollem Umfang zu beschreiben. Sentenzen wie diese finden sich überall in "Vernon Subutex". Man braucht den Roman nur irgendwo aufzuschlagen, um einen klarsichtigen Absatz zu finden, sich sofort wieder festzulesen und dabei bitter zu lächeln.
    Virginie Despentes, die Skandalschriftstellerin der 1990er Sie tritt weiterhin dafür ein, Pornografie zu enttabuisieren und läuft Sturm gegen den Rechtsruck und die Wirtschaftsliberalisierung in Frankreich. Aber sie schreibt anders als früher. Weniger aggressiv, dafür umso pointierter und sicherer. Mit "Das Leben des Vernon Subutex" ist sie in den Olymp der französischen Literatur aufgestiegen. Despentes wurde in die Jury des Prix Goncourt berufen, der Verkauf ihrer Bücher hat ihr ein gutes Einkommen beschert.
    Es sei sehr angenehm, gibt sie immer wieder nur leicht ironisch zu Protokoll, in der Bourgeoisie angekommen zu sein. Dass sie großes Glück hatte, weil man als Kulturschaffende ebenso gut in Armut und Verzweiflung landen könnte, weiß die Schriftstellerin genau – davon zeugt ihr Buch.
    Virginie Despentes: "Das Leben des Vernon Subutex"
    Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
    Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2017
    400 Seiten, 22 Euro

    Als mp3-Hörbuch erschienen bei DAV, ungekürzte Version von 10 Stunden und 57 Minuten, gelesen von Johann von Bülow.