Rudolf Virchow: „Studiosus Tischendorf wird ihnen nun eine präzise Beschreibung dieser Lunge geben.“
Tischendorf: „Ausgedehnte Lungentuberkulose mit Befall beider Lungenflügel und frischen, verkästen Herden.“
Virchow: „Galoppierende Schwindsucht, also.“
Rudolf Virchow, gespielt von Ernst Stötzner, war 1888 der Altstar an der Berliner Charité. „Jeden Tag ein Präparat“, lautete sein Motto. Über 23.000 Ausstellungsstücke des menschlichen Körpers sammelte der Arzt im Laufe seiner langen Karriere. Dazu war er auch sozialpolitisch sehr engagiert.
„Aber was hat denn ursächlich zu seiner Erkrankung und damit zu seinem Tod geführt? Nichts anderes als seine elenden Lebensbedingungen. Seine Unbildung, sein Hunger, sein Leben in einer feuchten Hinterhofwohnung, in der jedes Bett doppelt und dreifach an Schlafburschen vermietet wird und sich 40 Personen ein Plumpsklo teilen.“
Es ist ein interessanter Serienschauplatz, den „Charité“ über viereinhalb Stunden zeigt. Regisseur Sönke Wortmann.
„Die Zeit, die, wie ich finde völlig untererzählt ist in der deutschen Geschichte, die wilhelminische Zeit – mit drei Kaisern und eben auch die Medizingeschichte.“
Gesellschaftlicher Mikrokosmos
1888 ist Robert Koch, gespielt von Justus von Dohnányi, der Medizin-Star aus Deutschland. Nach dem Erreger des Milzbrands hat er gerade auch das Tuberkulose verursachende Bakterium im Labor nachgewiesen – damals eine Weltsensation. Bald setzt ein Massentourismus gen Berlin ein, weil man sich von Kochs vermeintlichem Heilmittel Tuberkulin Rettung vor der Krankheits-Geisel jener Zeit erhofft.
Charité wäre natürlich keine Serie in der Primetime eines großen deutschen Fernsehsenders, wenn nur von Medizin und Zeitgeschichte die Rede wäre. Da gibt es noch die 18-jährige Ida, Alicia von Rittberg, ein junges mittelloses Mädchen, das an der Charité am Blinddarm notoperiert wird.
Durch die staunenden Augen der fiktiven jungen Heldin wird diese Serie erzählt, denn Ida beginnt sich für Medizin zu interessieren, ja, am liebsten würde sie studieren, was 1888 in Deutschland Frauen noch nicht erlaubt war. Grimmepreisträgerin Dorothee Schön hat die Serie gemeinsam mit der Medizinerin Sabine Thor-Wiedemann geschrieben.
„Es war so ein bisschen die Idee, dass das Krankenhaus als gesellschaftlicher Mikrokosmos widerspiegeln soll, im Prinzip die Epoche. So, ich sag mal, „Downton Abbey“ hat den herrschaftlichen Haushalt eines Earls, und es geht runter bis zum Küchenmädchen. Bei uns ist es quasi die wilhelminische Gesellschaft vom einfachen Patienten bis zum Kaiser, so haben wir eigentlich alle da versammelt an diesem besonderen Ort.“
Weil die Gebäude der Charité des Jahres 1888 nicht mehr stehen, wird in Prag gedreht. Sönke Wortmann gibt seiner Serie einen hochwertigen, wenn auch etwas zu aufgeräumten Look. Blutige Operations-Szenen gibt es zwar, aber sie sind ebenso dezent und kurz, wie der Dreck und das Elend der Armen jener Zeit, von denen das Drehbuch mehr erzählt, als dann in der Serie zu sehen ist.
Ein wenig mehr Schmutz wäre hier durchaus realistisch gewesen, schließlich waren Krankenhäuser 1888 alles andere, als ein steriler Ort. Auch die Operationsmethoden von damals erscheinen uns heute ziemlich brutal, in der Serie sieht man wenig davon. Ein durchschnittlicher „Tatort“ ist blutiger als eine Folge „Charité“.
„Es war eine schwierige Zeit, eine harte Zeit. Das wollten wir eigentlich realistisch darstellen. Und dann aber gleichzeitig auch so, dass man noch gerne hinguckt.“
Fesselnde Geschichte
Auch wenn Erzählweise und Optik von „Charité“ dem typischen Format einer klassischen, ordentlich ausgestatteten deutschen Fernsehserie entsprechen: Die Schauspieler überzeugen, das von Dorothee Schön zusammengestellte Gesellschafts-Panoptikum ist präzise und seriös aufgeschrieben, die erzählte Medizingeschichte fesselt.
Der naheliegende Vergleich zwischen „The Knick“ und Charité“ zeigt fast exemplarisch die Unterschiede zwischen derzeitiger US- und deutscher TV-Serienkultur: „The Knick“ hat einen sperrig-schwierigen, aber faszinierenden Helden – „Charité“ das junge, strahlende Mädchen Ida.
„The Knick“ ist so düster und blutig wie das arme New York von 1900 wohl auch war. „Charité“ hat ein bisschen Angst vor dieser Radikalität. Und die Musik? In „Charité“ ist es das typische Seriengeklimper mit Piano und Geigen, in „The Knick“ ein elektronischer Sound-Kontrapunkt aus der Feder von Cliff Martinez, der früher mal bei den Red Hot Chili Peppers trommelte.
„Charité“ ist nicht die moderne Qualitätsserie aus Deutschland, die international Furore machen wird. Sie ist ein ordentlicher, interessant zu schauender Kompromiss für die ARD-Primetime, der vor allem didaktisch-unterhaltend überzeugt.