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Endlich mal erklärt
Was machen eigentlich Dramaturgen?

Was ein Dramaturg macht, weiß er wahrscheinlich selbst nicht so genau. Auf alle Fälle ist es viel zu viel und in zu kurzer Zeit. Und oft das Gegenteil von dem, was er eigentlich vorhatte. Doch ohne ihn geht nichts am Theater. Er ist der Kopf, das Hirn - wenn es gutgeht.

Von Christian Gampert | 18.04.2020
Ein leerer Stuhl steht auf einer Theaterbühne.
Ein leerer Stuhl steht auf einer Theaterbühne. (Arno Burgi/dpa-Zentralbild)
Ein Dramaturg macht (immer in Zusammenarbeit mit anderen, das ist ja das Problem) den Spielplan, er findet neue Stücke und Autoren, die man unbedingt spielen müsste, er streicht diese Stücke dann für die Uraufführung auf ein menschenmögliches Maß zusammen und muss sich dafür vom Autor beschimpfen lassen. Er hält den Regisseur bei den Klassikern vom gröbsten Unsinn ab oder ermutigt ihn, genau diesen Unfug jetzt zu probieren, weil das ja der große Wurf sein könnte. Er tröstet die Schauspieler, die schon wieder zu klein besetzt wurden, und verspricht ihnen, dass bald alles besser wird. Er streichelt die Starschauspieler und sagt ihnen, wie großartig sie sind. Er ist immer auf der Probe. Er ist viel zu selten auf der Probe. Er gehört zum Leitungs-Team und muss den Kopf für alles hinhalten, das schiefgeht (denn für die Erfolge ist der Intendant zuständig). Er darf beim Schlussapplaus meistens nicht mit auf die Bühne. Er hat ein schönes Programmheft gemacht, aber keiner liest es. Er kurbelt große Debatten über politische Themen an. Aber bei der Podiumsdiskussion ist er bestenfalls der Moderator. Er füttert die Regisseure mit Wissen, das er selber sich gerade angelesen und meistens nur halb verstanden hat. Er kennt Gott und die Welt. Er schüttelt Hände, auch von Politikern. Er deeskaliert Konflikte im Ensemble. Er eskaliert Konflikte im Ensemble. Er hat ein gutes Verhältnis zur Technik. Er sitzt in der Kantine und trinkt. Er geht zu spät nach Hause. Er sagt: gut, dass wir darüber gesprochen haben. Nachts fragt sich oft, was er hier überhaupt tut. Ob es Sinn macht. Ob er gebraucht wird.
Auf einem aufgeschlagenen Kunstlexikon liegt eine Brille
Spezialwissen der Kultur - Endlich mal erklärt Postdramatik? Dystopie? Keine Ahnung. Jede Kulturszene pflegt ihre Fachausdrücke, weil sie griffig sind. Wir erklären endlich mal die Begriffe der Spezialsprachen und antworten auf Fragen, die man sich vielleicht nicht zu stellen traut. Denn Arroganz war gestern.
Ja, er wird gebraucht. Ohne ihn geht nichts am Theater. Er ist der Kopf, das Hirn. Wenn es gutgeht. Schon im höfischen Theater war der Theaterdirektor sein eigener Dramaturg – er entschied, was wie auf die Bühne kam, häufig schrieb und spielte er auch noch selber und führte Regie. Shakespeare und Molière waren Dramaturgen, Goethe war Dramaturg, aber man musste nicht groß darüber reden. In den 1920er Jahren waren Brecht und Piscator natürlich Dramaturgen – neben allem anderen, das sie auch noch machten. Der Dramaturg ist einfach ein intelligenter (in ungünstigen Fällen: ein modischer) Mensch, der etwas in Gang setzt. Aber erst mit der Moderne, mit der zunehmenden Arbeitsteilung auch am Theater hat sich seine Rolle genauer herausgebildet: als die des intellektuellen, politisch bewanderten Hintergrundarbeiters.
Dramaturgen sorgen für die intellektuelle Zufuhr
Die Hochphase der Dramaturgie am deutschen Theater war die Zeit der APO und ihre Nachwehen, die wilden 1970er. Jeder der Regie-Gurus, die nun die Macht übernahmen, hatte seine Lieblings-Dramaturgen, die für intellektuelle Zufuhr sorgten. Peter Stein, Peter Zadek, Claus Peymann sind nicht denkbar ohne Botho Strauß, Dieter Sturm, Urs Jenny, Hermann Beil. Wenn die Schaubühne ein Antiken-Projekt probte, dann fuhr man erstmal sechs Wochen nach Griechenland, und Dieter Sturm dozierte. Wenn Claus Peymann ein neues Stück von Thomas Bernhard inszenierte, dann war stets Hermann Beil zugegen, der jede Nuance des Textes abschmeckte und jede Aktion von Bruno Ganz oder Bernhard Minetti mit kritischer Sympathie beäugte. Es geht die Sage, dass Dieter Sturm in Berlin mehrere Wohnungen gemietet hatte, um all seine Bücher unterzubringen. Das wäre heute wohl nicht mehr möglich, aber es zeigt den intellektuellen Anspruch des Theaters der Alt-68er.
Mit dem postdramatischen Theater verliert der Dramaturg nun wieder an Bedeutung – weil die Klarheit der Form, der Dramaturgie gar nicht mehr gefragt ist, sondern man lieber wild collagiert. Das können (Jung-)Regisseure ganz alleine, sie brauchen keinen Mastermind im Hintergrund. Trotzdem wäre Frank Castorf zu bestimmten Zeiten ohne Carl Hegemann wohl aufgeschmissen gewesen, so ein bisschen Dialog ist dann doch ganz schön.
Der Dramaturg ist König, Bettler und Psychotherapeut
Die große Frage aber ist, ob "Dramaturg" denn ein Beruf ist oder eher eine Durchgangsstation für anderes und Höheres. Die "Deutsche Dramaturgische Gesellschaft" wird dazu eine eindeutige Meinung haben: Dramaturgie ist was Wunderbares. Die Wahrheit aber ist: Viele, die meisten Dramaturgen streben nach Größerem. Viele beginnen, Stücke zu schreiben (wie Botho Strauß oder Roland Schimmelpfennig) und werden Schriftsteller. Manche führen später Regie (wie der Berserker Ernst Wendt).Wieder andere werden auf quasi zwangsläufige Art zum Intendanten befördert, denn sie kennen ja den ganzen Laden. Manche werden (wieder) Kritiker, weil es am Schreibtisch doch etwas überschaubarer zugeht als in der Schlangengrube Theater. Viele gehen auch als Lektoren zu Verlagen – oder gleich ganz an die Uni oder an die Schauspielschule. Es soll auch Dramaturgen geben, die Kellner wurden oder Taxifahrer und an der Welt (und am Theater) verzweifelten. Jedes Jahr fallen Schauspieler, Regisseure, Bühnenbildner und eben auch Dramaturgen über die Kante, sie fallen aus dem großen Karussell heraus. Niemand spricht über sie – aber sie verdienen unsere Solidarität.
Ist Dramaturgie ein Beruf? Wenn ich das wüsste. Der Dramaturg ist ein kleiner König, denn ohne ihn läuft am Theater nichts. Und er ist ein Bettler, ständig angewiesen auf das Wohlwollen und die Kooperation anderer, denn er kann im Grunde nichts vorweisen. Ein guter Dramaturg ist wie ein Psychotherapeut: er kann – in den Inszenierungen – das Schlimmste verhüten und die anderen auf gute Ideen bringen. Er kann – im Ensemble – die größten Kräche glätten, er kann – in Zeiten intellektueller Ödnis und Melancholie – Mut machen und Anregungen geben. Er ist ein Altruist. Und er muss lernen, an sich selbst zu denken.