Dienstag, 30. April 2024

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Deutsch-deutscher Familienroman
Drei Generationen zwischen Ost und West

"Das halbe Haus" heißt das Debüt von Gunnar Cynybulk. Es erzählt die Geschichte einer Jugend in Leipzig Anfang der 1980er-Jahre, die Geschichte einer Familie, deren Weg 100 Jahre zurückführt und mit der Ankunft im Westen Ende 1984 endet. Kunstvoll spiegelt sich Zeitgeschichte im Mikrokosmos der Figuren.

Von Detlef Grumbach | 30.06.2014
    Der Karl-Marx-Platz mit dem Neuen Gewandhaus, dem Universitätshochhaus, dem Universitäts-Hauptgebäude sowie dem Opernhaus (v.l.n.r.), aufgenommen um 1987 in Leipzig.
    Der elfjährige Jakob lebt allein mit Großmutter Polina und seinem Vater Frank, einem Ingenieur, in Leipzig. (Universität Leipzig / dpa)
    Gunnar Cynybulk: "Jakob ist eine von drei Hauptfiguren und er steht mir glaube ich am nächsten. Er ist der echte Held dieses Romans, würde ich sagen: Am Ende tanzt er eng mit einem Mädchen, er kann verzeihen, er wird erwachsen, er kann küssen, aber kann vor allen Dingen Frieden schließen. Er hat sehr, sehr viel verloren und trotzdem verzweifelt er nicht."
    Eine halbe Familie, ein halbes Haus, ein halbes Land
    Jakob ist elf, wenn die Erzählung einsetzt. Er ist Sportler, trainiert für die Spartakiade und träumt von einer Teilnahme an Olympia. Die Mutter ist früh gestorben, er lebt allein mit Großmutter Polina und seinem Vater Frank, einem Ingenieur, in Leipzig. Eine halbe Familie, ein halbes Haus, ein halbes Land. Das erste Kapitel erzählt davon, wie der Junge morgens in aller Herrgottsfrühe aufsteht und sich im Zwielicht auf den Weg zum Training macht. Konflikte mit dem Vater deuten sich an: Nach den Thälmann-Pionieren sei Schluss, keine FDJ! Es folgt ein Ausflug mit dem Vater nach Thüringen, wo dieser die Grenzanlagen ausbaldowert. Er will in den Westen! Schließlich eine Selbstverpflichtung von IM Seele. Seele wird über den Vater berichten. "Das halbe Haus" nennt Gunnar Cynybulk seinen Roman – der Einstieg wirkt zögerlich wie der frühe Morgen. Anfangs bleibt es bei den Bezeichnungen "der Junge" und "der Vater", langsam erst klaren die Verhältnisse auf, werden die Namen genannt, bekommen die Figuren Konturen.
    Gunnar Cynybulk: "Es gibt eine große Distanz der Jahre, die zwischen der Geschichte und der Gegenwart liegt, und die ist zu überbrücken. Und es ist in Ordnung, wenn ein Buch diese Distanz auch vorzeigt, die Distanz zu den Figuren. Für mich war das Buch zu schreiben so, aus einem Traum allmählich aufzuwachen. Und die Figuren agieren ja auch wie Traumfiguren. Die haben Bezeichnungen, sind der Vater, sind der Junge und erst allmählich wachen sie aus ihrem Traum auf, nehmen immer mehr Gestalt an. Diese Figuren können sich erst im Verlauf der Geschichte ihre Namen anziehen und ihre Identität."
    Eigene Wege im Windschatten der Erwachsenen
    Die erzählte Zeit des Romans beginnt im August 1981 und endet im September 1984. Großmutter Polina siedelt in die Bundesrepublik über und soll von dort die Ausreisepläne Franks unterstützen. Der schon lange alleinstehende Frank wird von seinen Arbeitskolleginnen per Kontaktanzeige verkuppelt, er verliebt sich in Eva aus Berlin, die beiden heiraten und Eva bringt ihre Tochter Leo mit in die Ehe. Obwohl Eva nie mitkommen würde, stellt Frank einen Ausreiseantrag. Seine Fluchtpläne werden aktenkundig, es folgen eine Hausdurchsuchung, Verhöre und eine Gefängnisstrafe. Eva steht mit den Kindern alleine da, am Ende wird Frank in den Westen abgeschoben. Jakob schlängelt sich durch, geht seine eigenen Wege im Windschatten der Erwachsenen. Der Autor wurde 1970 geboren, wuchs in Leipzig auf und hat der DDR mit 14 den Rücken gekehrt. Ich bin nicht Jakob, erklärt er auf der einen Seite, auf der anderen ist der Roman stark geprägt von der eigenen Geschichte.
    Gunnar Cynybulk: "Ich habe mir immer gewünscht, dass meine Figuren auch etwas Exemplarisches haben. Jakob ist der Cousin von allen Jungs, die vierzehn sind. Und die Großmutter Polina ist eine Trümmerfrau und teilt die Geschicke ihrer Generation und der Vater, der in der Mitte seines Lebens steht, macht Krisenerfahrungen wie viele Männer in der Mitte des Lebens. Also ich wollte auch etwas Exemplarisches erzählen, ein Zeitgefühl wiedergeben, ich wollte Zeugnis ablegen über eine Zeit und etwas Allgemeinmenschliches, bei allem Individuellen und Detailgetreuen, wiedergeben."
    Wer war Franks Vater?
    Eng verknüpft mit den drei an Erfahrung satten und ereignisreichen Jahren zwischen Fluchtgedanken und Abschiebung entfaltet Gunnar Cynybulk die Geschichte der Familie. Die Dramatik der Gegenwart lässt längst verschüttete Erinnerungen lebendig werden. Frank denkt an seine verstorbene Frau, die Mutter Jakobs, und mit Macht drängt das dunkle Geheimnis Polinas an den Tag: Das unruhige Leben einer starken, aber einsamen Frau in den letzten Jahren des Kriegs und den ersten danach, ihre unübersichtlichen Männergeschichten und die wie ein Damoklesschwert über der Familie schwebende Frage, wer wirklich Franks Vater war. In Ruhe erzählte Passagen wechseln mit pointierten Dialogen, die Figuren werden angerufen, bedrängt, und wenn sich die Wirklichkeit immer stärker einem direkten Zugriff entzieht, stockt der Erzählfluss und geht über in die Montage kurzer Momentaufnahmen und Erinnerungsfetzen. Der Rhythmus der Sprache erzeugt Dynamik, die Vielschichtigkeit des Erzählens fordert eine aufmerksame Lektüre.
    Gunnar Cynybulk: In seinem letzten Drittel ändert sich der Aggregatzustand der Sprache. Überhaupt ändern sich die Vorkommnisse, es wird sehr dunkel um diese Figuren. Und ich habe festgestellt, dass kein gemächliches Erzählen, dass kein völlig konsistentes Erzählen mehr möglich ist. Das Erzählen wird zersetzt und dem entsprechend muss die Sprache sich auch verändern."
    Keine These zur DDR
    Aufgebrochen wird die Erzählung durch eingestreute Berichte von IM "Seele" und den Protokollen der Stasi. Wer sich hinter "Seele" verbirgt, bleibt lange verborgen, direkt ausgesprochen wird es gar nicht. "Seele" führt ein Doppelleben, ist gegenwärtig als vertraute Figur im engsten Umfeld Franks – und in den Berichten und den Protokollen der Stasi. Es sind nur Halbsätze, oder das Fehlen eines Namens in einem Bericht, die den Leser auf die Spur bringen. Trotz dieser heimlichen und unheimlichen Präsenz der Stasi, der Fluchtpläne Franks und seiner Verhaftung formuliert der Autor keine These zur DDR, schreibt er keinen Roman, der sich darauf reduzieren ließe, die Verhältnisse zu illustrieren. Cynybulk zeichnet seine Figuren ebenso authentisch wie zurückhaltend, entwickelt ihre Haltungen aus dem konkreten Erleben heraus: Frank steckt in einer alles umfassenden Krise eines Mannes in der Mitte seines Lebens, der außerdem noch alleinerziehender Vater ist. "Und was ist mit Freundschaft und Liebe", fragt Cora, die ihn halten will. Eva war sogar schon einmal im Westen und hat ihre Gründe, warum sie dort nicht leben will. Jakob lebt für den Sport, steckt mitten in der Pubertät und erkundet zusammen mit seinem Freund Falk das Leben. Seine Großmutter schickt aus dem Westen die "Bravo", seine Halbschwester Leo schenkt ihm zu Weihnachten Dieter Nolls Roman "Die Abenteuer des Werner Holt". Als literarische Bezugspunkte nennt Cynybulk Autoren wie Johannes Bobrowski, Uwe Johnson oder Wolfgang Hilbig.
    Zeitgeschichte im Spiegel des Mikrokosmos' der Figuren
    Gunnar Cynybulk: "Ich empfinde mich als Miterzähler an einem Zeitstoff, und es gibt andere Miterzähler. Es gibt nicht nur andere Schriftsteller, die darüber erzählen, es gibt auch normale Leute, es gibt Stasi-Dokumente, aus denen zitiert wird. Es gibt einen Roman von Uwe Johnson, der heißt "zwei Ansichten" und er hat es verstanden, in seinem Schreiben die Dinge gegeneinander zu setzen und es dem Leser zu überlassen, zu urteilen."
    Um die großen, symbolträchtigen und politischen Ereignisse macht der Autor einen Bogen, Zeitgeschichte und gesellschaftliche Verhältnisse spiegeln sich im Mikrokosmos seiner Figuren. So liefert Cynybulk knappe 600 Seiten wunderbares Lesefutter, einen Roman, der seine Spannung bis zuletzt hält, der anregend und nie belehrend wirkt. Da bleibt am Schluss nur die Frage, warum er, der seit über 15 Jahren im Literaturbetrieb zuhause ist, erst jetzt, mit Mitte vierzig, dieses gelungene, aber späte Romandebüt vorlegt.
    Gunnar Cynybulk: "Stoffe werden nach einer gewissen Zeit erst erzählbar, wenn man Lebenserfahrung gesammelt hat, wenn man auch erst in der Lebensmitte steht und alle Lebensalter überblicken kann und vielleicht auch besser versteht. Ich habe selber Kinder und kann mich aufgrund dieser Tatsache besser an meine eigene Kindheit erinnern. Ein Stoff kommt irgendwann zur Sättigung und dann macht man es oder man macht es nicht und jetzt war die Zeit."
    Gunnar Cynybulk: Das halbe Haus.Roman.
    DuMont Verlag 2014, 575 Seiten, 22,90 Euro