Habermas‘ „Neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit“

Digitale Plattformen: Manipulation statt Diskussion?

39:36 Minuten
Jürgen Habermas steht an einem Rednerpult und blickt nach oben
Der Soziologe Jürgen Habermas im Jahr 2013: Vor 60 Jahren analysierte er den "Strukturwandel der Öffentlichkeit". Jetzt legt er ein Update vor. © imago / GlobalImagens
Sebastian Sevignani und Anna-Verena Nosthoff im Gespräch mit Simone Miller · 11.09.2022
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Jürgen Habermas legt nach: 60 Jahre nach dem Klassiker erscheint nun sein „Neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit“. Wie hat die Digitalisierung unsere Öffentlichkeit verändert? Und steht die Demokratie auf dem Spiel?
Eine funktionierende Demokratie braucht eine politische Öffentlichkeit, in der möglichst frei, gleich und vernünftig über politische Probleme diskutiert wird. Wie fragil eine solche Öffentlichkeit ist, sehen wir nicht erst seit der Corona-Pandemie.
Vor genau 60 Jahren veröffentlichte der junge Jürgen Habermas seinen „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ – heute sein meistgelesenes Buch –, in dem er untersuchte, wie sich unsere bürgerliche Öffentlichkeit seit der Aufklärung entwickelt und verändert hat. Und wie das Aufkommen der Massenmedien ihre Grundlagen bedroht.

Was heißt digitale Öffentlichkeit für Demokratie?

Seit dem Erscheinen ist viel passiert: Erst hat das aufblühende Fernsehangebot die Öffentlichkeit revolutioniert, dann das Internet mit all seinen digitalen Medien und Möglichkeiten. Habermas hat diese Entwicklungen aufmerksam beobachtet – und nun, 60 Jahre später ist ein zweites Buch erschienen: „Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit“.
Wie hat sich die Öffentlichkeit seit den 1960er-Jahren verändert – und was bedeuten diese Veränderungen für die Demokratie? Das diskutieren wir ausgehend von Habermas‘ Analyse mit Sebastian Sevignani und Anna-Verena Nosthoff.

Kein Raum für gesellschaftliche Entwicklung

Sebastian Sevignani forscht zum Verhältnis von Kapitalismus und Medien und ist Mitherausgeber eines Leviathan-Sonderbandes zum „Neuen Strukturwandel“ der Öffentlichkeit, in dem Habermas Überlegungen diskutiert und weitergedacht werden.
Sebastian Sevignani, ein Mann mit dunklen Haaren, Brille und kurzem Bart, in T-Shirt und blauem Sakko, schaut mit schiefem Lächeln in die Kamera.
Sebastian Sevignani ist Soziologe und Kommunikationswissenschaftler an der Universität Jena. (Dort forscht er unter anderem zu Kommunikation im digitalen Kapitalismus.© privat
Sevignani sieht die Vormachtstellung digitaler und privatwirtschaftlicher Plattformen in unserer gegenwärtigen Öffentlichkeit kritisch, weil diese wenig Raum für gesellschaftliche Entwicklung ließen, indem sie vorrangig versuchten, unsere persönlichen Präferenzen zu identifizieren, um uns etwas verkaufen zu können:

„Sie machen uns keine Anreize, dass wir lernen, unsere Präferenzen verändern. Das wäre aber wichtig, wenn wir zu Erkenntnissen kommen wollen, wenn wir auch versuchen wollen, die Dinge zu verändern, die das Zusammenleben schwierig bis unmöglich machen können.“

Öffentlich und privat verschwimmen

Anna-Verena Nosthoff forscht zu Digitalisierung und Demokratie, insbesondere zur Rolle von Facebook, und ist eine der Autorinnen im Sonderband. Das Verschwimmen von privater und öffentlicher Sphäre, das Habermas mit Blick auf die Digitalisierung diagnostiziert, ermögliche es, Nutzerinnen und Nutzer gezielt emotional zu adressieren und ihr Verhalten zu manipulieren – auch für politische Einflussnahmen, wie etwa der Fall Cambridge Analytica gezeigt habe.
Anna-Verena Nosthoff, eine junge Frau mit dunklen langen Haaren, blickt lächelnd über die Schulter.
Anna-Verena Nosthoff ist politische Theoretikerin und Ko-Direktorin des Data Politics Lab der HU Berlin.© privat
Problematisch sei auch die hohe privatwirtschaftliche Machtkonzentration bei Entscheidungen darüber, wer Zugang zum Diskurs habe und wer nicht. Das Unternehmenskonzept der digitalen Plattformen widerspreche dem informierten Austausch unter Bürgerinnen und Bürgern und damit dem Konzept der demokratischen Öffentlichkeit selbst.

Braucht es öffentlich-rechtliche Alternativen?

Wie lässt sich den Herausforderungen der demokratischen Öffentlichkeit durch die Digitalisierung am besten begegnen? Reicht es, die Digitalkonzerne rechtlich besser zu regulieren, ihnen eine stärkere Moderation der Inhalte abzuverlangen, wie es Habermas fordert?
Oder müssen wir vielmehr die privatwirtschaftliche Organisation digitaler Öffentlichkeit grundsätzlich in Frage stellen – bräuchte es eine öffentlich-rechtliche Alternative? Zwei der Fragen, die wir im Gespräch mit Sevignani und Nosthoff diskutieren.
(ch)

Jürgen Habermas: „Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik“
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022
108 Seiten, 15,99 Euro

Martin Seeliger, Sebastian Sevignani (Hg.): „Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit?“
Sonderband Leviathan 37/2021
498 Seiten, 99 Euro

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