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Salafismus
Prozess gegen "Abu Walaa" vor dem Ende

Unterstützung einer terroristischen Vereinigung lautet der Vorwurf gegen die vier Männer, die in Celle vor Gericht stehen, darunter der Prediger "Abu Walaa". Über drei Jahre dauert der Prozess schon, in dem auch der V-Mann des Attentäters Anis Amri eine Rolle spielte. Noch in diesem Jahr könnte ein Urteil fallen.

Von Alexander Budde | 19.11.2020
Der Angeklagte (r) unterhält sich im Oberlandesgericht Celle mit seinem Verteidiger durch eine Glasscheibe am 28.01.2020
Der Prozess gegen "Abu Walaa" könnte noch dieses Jahr zu Ende gehen (dpa/Ole Spata)
Frank Rosenow kennt sich aus mit Rechtssachen, die sich etwas hinziehen. Der Blitzlicht-erfahrene Richter hat einst im Korruptionsprozess gegen Alt-Bundespräsident Christian Wulff die Ruhe bewahrt. An diesem Morgen im schwer gesicherten Schwurgerichtssaal des Oberlandesgerichts Celle lässt Rosenow den Blick über die Zuschauerbänke schweifen. Es ist der 230. Verhandlungstag – und seit Stunden verliest einer der vier Angeklagten, Boban S. seine Einlassung – mehr als 500 handgeschriebene Seiten, gespickt mit Verweisen auf die im Saal aufgestapelten Ermittlungsakten.
Über 200 Verhandlungstage
"Die Chat-Protokolle und die Quellenvernehmungen sind Gegenstand der Anklage und der Vorwürfe, die meinen Mandanten gemacht werden. Deswegen will er hier auch endlich mal Stellung nehmen dazu, aus seiner Sicht, wie sich alles abgespielt hat."
Erläutert der Rechtsanwalt von S. Michael Murat Sertzös. Boban S. und der ebenfalls angeklagte Hasan C. sollen ihre jungen Rekruten neben der arabischen Sprache auch radikal-islamische Inhalte gelehrt haben. Ideologischer Feinschliff quasi für zukünftige Aufgaben als Kämpfer beim "IS". Mahmoud O. wird vorgeworfen, die Ausreisen ins syrische Krisengebiet mit organisiert zu haben. Ahamad Abdulaziz Abdullah A., alias "Abu Walaa", soll der Kopf dieses Netzwerks mit besten Verbindungen ins damalige Herrschaftsgebiet der Terrormiliz gewesen sein. Treue Gefolgsleute? Unsinn, hält Anwalt Sertsöz dagegen. In Glaubensfragen sei die Gruppe der Angeklagten schon länger unrettbar zerrüttet.
Angeklagte seien zerstritten
"Das kann man kaum noch nachvollziehen, wenn man sieht, dass schon im Jahr 2015, wo also auch diese ganzen Anklagevorwürfe zeitlich beginnen, eigentlich schon so ´ne Diskrepanz zwischen den Angeklagten bestand, dass man sich gegenseitig als aus dem Islam ausgetreten bezeichnete, als Abtrünnige." Detaillierte Einblicke in das Innenleben der deutschen Islamisten-Szene wollen die Fahnder durch einen Ex-Spitzel des Landeskriminalamts Nordrhein-Westfalen erhalten haben. Unter dem Codenamen "VP01" hatte dieser die Gruppe um Abu Walaa observiert. "Murat Cem", so sein Tarnname, war aber auch auf den Attentäter vom Berliner Breitscheidplatz, Anis Amri, angesetzt. Auch Amri soll von Abu Walaa beeinflusst gewesen sein. Die Verteidigung erkennt in "VP01" einen zwielichtigen Zeugen und Provokateur: Weil das Leben des ehemaligen V-Manns in Gefahr sei, verweigert das nordrhein-westfälische Innenministerium dessen Aussage in Celle – und damit auch die Befragung durch die Verteidigung. Verteidiger Sertsöz kann das nicht verstehen:
V-Mann darf nicht aussagen
"Nun ist es natürlich in vielen Verfahren so, dass ´ne VP auftritt und aufgrund der Gefährdungslage nicht habhaft zu machen ist für die Verteidigung. Allerdings ist das hier so: VP01 hat ein Buch geschrieben. Er ist im Fernsehen aufgetreten. Im Weiteren auch per Videovernehmungen im Landtag NRW. Warum soll er verdammt noch mal nicht bei uns aussagen? Das ist nicht mehr rechtsstaatlich!" Die Anklage stützt sich vor allem auf die Aussagen des Kronzeugen Anil O.. Als IS-Sympathisant war er mit seiner Frau nach Syrien ausgereist. Der Traum vom gottesfürchtigen Leben im Kalifat hielt dann aber angesichts der erlebten Kriegsgräuel nicht stand. Anil O. sagte sich los, konnte fliehen – und packte gegen einen ordentlichen Rabatt in Form einer zweijährigen Bewährungsstrafe bei den deutschen Sicherheitsbehörden aus. Im Verfahren schilderte Anil O. seinen Werdegang vom begabten Musterschüler zum fanatischen Islamisten und belastete die Angeklagten schwer: Abu Walaas´ Anwalt Peter Krieger nennt Anil O. einen notorischen Lügner, der seine eigene Verantwortung für Verbrechen kleinredet und sich der Justiz mit fabrizierten Geschichten als Kronzeuge gegen seine früheren Glaubensgenossen angeboten hat.
"Dieses Verfahren leidet nach wie vor an seinem Geburtsfehler. Die Anklage, die Behauptungen der Strafverfolgungsbehörden sind gestützt auf die Angaben von Schwerstkriminellen, von Hochstaplern - die zudem noch alle in einer Situation Angaben gemacht haben, wo sie ein erhebliches Interesse hatten, etwas von den Strafverfolgungsbehörden zu bekommen."
Vorwurf: Anklage beruhe auf den Aussagen Krimineller
Nach drei Jahren Verhandlung rang sich im April der Mitangeklagte Ahmed F. zu einem umfassenden Geständnis durch. Der 30-Jährige räumte ein, neben Anil O. auch einem zweiten Mann Kontaktnummern zur Ausreise übermittelt zu haben. Abu Walaa habe einen direkten Draht zum IS gehabt. Der Familienvater erhielt für seinen Beitrag zur Aufklärung im Gegenzug eine vergleichbar milde Strafe, durch die dreijährige Untersuchungshaft verbüßt. Die Bundesanwaltschaft sieht durch das zuvor abgetrennte Verfahren gegen F. zentrale Ermittlungshypothesen bestätigt. In dem Urteilsspruch gegen F. habe das Gericht keine Zweifel gehabt, sagte Gerichtssprecher Rainer Derks,
"… dass sowohl die Angaben des Kronzeugen als auch die der Vertrauensperson richtig und glaubhaft seien. Diese stünden in keiner Weise im Widerspruch zu den geständigen Angaben des Angeklagten. Auch die Angaben des Kronzeugen und die der Vertrauensperson seien in Einklang zu bringen."
Gefahr aktuell, trotz Gebietsverlusten des "IS"
Nach dem militärischen Zerfall des IS falle es radikalen Salafisten heute sehr viel schwerer, Freiwillige für den Dschihad zu rekrutieren, sagt Peter Neumann. Er ist Professor für Sicherheitsstudien am King´s College in London. Die Gefahr existiere aber nach wie vor, warnt Neumann:
"Weil natürlich diese Leute schon dazu beigetragen haben, dass sich die Ideen des IS verbreitet haben. Und dass es jede Menge Anhänger nach wie vor gibt. Die können sich zwar jetzt nicht mehr der Organisation anschließen so einfach – aber die können natürlich auf eigene Faust noch Dinge tun. Und das ist, glaube ich, die aktuelle Gefahr, die wir auch in den letzten Wochen und Monaten in Österreich, in Deutschland, in Frankreich gesehen haben."
Der Prozess gegen Abu Walaa und die drei verbliebenen Mitangeklagten biegt unterdessen in die Schlussphase ein. Nach augenblicklichem Stand der Dinge könnten Anklage und Verteidigung noch in diesem Jahr ihre Plädoyers halten.