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Sabine Schönfellner: „Draußen ist weit“
Wovon man nicht sprechen kann

In Sabine Schönfellners erstem Roman „Draußen ist weit“ macht die Erzählerin Bekanntschaft mit drei Angehörigen der Kriegskindergeneration. Sie verkörpern drei Typen des Schweigens über das, was ihr Leben geprägt hat.

Von Julia Schröder | 08.09.2021
Sabine Schönfellner: "Draußen ist weit" Zu sehen sind die Autorin und das Buchcover
In Sabine Schönfellners Romandebüt zieht es einen der Protagonisten immer wieder in den Wald (Cover: Droschl Verlag / Foto: Werner Robitza)
"Die rabattengesäumten Plattenwege im Garten des Seniorenheims reichen Herrn Dober nicht aus. Ihn zieht es in den Wald, wo die Füchse wohnen. Wo er sich früher versteckt hat. Aber nicht zu weit in den Wald, denn da ist irgendwo der Zaun. Oder er ist da irgendwo gewesen. Dieser Zaun, hinter dem die Männer waren. Die fremden Männer und ihre Aufpasser."
In den Wald zieht es in Sabine Schönfellners Roman "Draußen ist weit" auch die Ich-Erzählerin. Nach der ersten Zufallsbegegnung mit dem alten Herrn beginnt die offenkundig junge Frau, ihn zu besuchen – ein ungleiches Paar, das den Argwohn der Pflegekräfte hervorruft.

Lang abgesunkene Vergangenheit

Wenn sie nicht gemeinsam einen Bildband mit Tierfotos betrachten, begleitet sie ihn auf seinen Waldgängen, die er nur mühsam absolviert. Bei seinen bruchstückhaften Einlassungen scheinen Herrn Dober die Gegenwart und eine lang abgesunkene Vergangenheit ineinander zu verschwimmen. Aber auch für die namenlos bleibende Ich-Erzählerin scheint ihr Platz im Leben nichts Selbstverständliches zu sein, wie sich früh andeutet:
"Ich sah auf meine Schuhe hinunter, deren Spitzen ganz abgerieben waren. An der ausgefransten Hose hing eine Klette. Vielleicht sah ich ein wenig verwahrlost aus."

Traumatische Kriegskindheit

Um sich den Versuchen der Pflegedienstleitung zu entziehen, sie in die Besuchsroutinen einzubinden, gibt die Erzählerin sich für die Großnichte des alten Mannes aus. Nach und nach erfährt sie von seiner traumatischen Kriegskindheit, den Misshandlungen durch seine ältere Schwester und deren Verhältnis mit einem Aufseher in einem nahegelegenen Kriegsgefangenenlager. Die halbherzigen Anläufe der Erzählerin, dieses Lager aufzuspüren, führen zu nichts. Für Herrn Dober endet der Versuch, sich wie als Kind in der Nacht im Wald zu verstecken, fatal.
An diesen ersten Teil des Romans "Draußen ist weit" schließen sich zwei weitere an, die miteinander zunächst nur lose verbunden scheinen. Nach dem Tod des alten Mannes engagiert sich die Ich-Erzählerin beim ehrenamtlichen Besuchsdienst und kümmert sich um Frau Leitner, eine ebenso alte Dame, die allerdings nur zu gern aus ihrem Leben plaudert – mal munter, mal grantig, und immer wieder davon, dass sie sich einst wegen ihrer Liebesgeschichte mit einem tschechischen Schmuggler von ihrer Familie entfremdet hat. Nur, was aus ihrem unehelichen Kind geworden ist, erzählt sie nicht.

Drei Schweigetypen

Diese Art des Verschweigens wird der Erzählerin irgendwann zu viel. Statt mit Frau Leitner auf der Suche nach dem ehemaligen Liebhaber nach Tschechien zu reisen, lässt sie sich von ihrer betagten Nachbarin engagieren, sie nach Skandinavien zu fahren. Frau Vessely verkörpert einen dritten Schweigetyp, den selbstbewusst-dünkelhaften. Warum deren beide Töchter nichts mehr von ihrer Mutter wissen wollen, kann die Erzählerin nur vermuten. Doch nach Frau Vesselys rätselhaftem Verschwinden in Norwegen ahnt sie, was diese Zufallsbegegnungen für sie selbst bedeuten:
"Ich dachte daran, dass ich allein war. Die ganze Zeit über hatte ich nur darauf geachtet, dass Herr Dober allein war, auch bei Frau Leitner war ich so lange geblieben, weil sie mir einsam vorkam. Dass ich selbst niemanden hatte, dem ich von den alten Leuten erzählen konnte, fiel mir erst jetzt auf."

Karge Sprache, unbehagliche Szenen

Sabine Schönfellner hat sich, ihrem Gegenstand entsprechend, für eine karge Sprache entschieden und schildert lauter unbehagliche Szenen voller Dunkelheit, Nässe oder Kälte. Ausführlich beschreibt sie die Skulpturen des norwegischen Bildhauers Vigeland im Osloer Frognerpark, monumentale, nackte Menschenleiber aller Altersstufen, die ihrer Erzählerin vollkommen unzugänglich bleiben.
Ebenso vielsagend ist die Referenz an Ibsens Peer Gynt, der sich mit einer Zwiebel vergleicht, die man Schicht um Schicht schält, bis kein Kern übrigbleibt. Auch die Erzählerin vergleicht die Lebensgeschichten der alten Menschen, denen sie begegnet, mit Zwiebeln – bei denen jedoch die Schichten sich vom Kern nicht trennen lassen:
"Von Frau Vesselys Geschichten könnte ich keine Schichten ablösen, bin ich sicher. (…) Ich schließe die Geschichten ein, Schicht um Schicht, presse sie zusammen zu einem Kern (…). Woher die Bilder kommen, frage ich mich. Stammen sie von mir, habe ich sie mir wirklich selbst ausgedacht? Oder will ich mich nur nicht daran erinnern, woher sie sind?"

Schicht um Schicht

Damit verrät Sabine Schönfellner nicht nur etwas über ihre Figuren, sondern auch über ihr eigenes poetisches Programm. Wie die Ich-Erzählerin ihre Vermutungen Schicht um Schicht verdichtet, so gewinnt die Autorin aus dem, was das kollektive Gedächtnis verschweigt, und zugleich aus dem Umgang damit – dem Verschweigen – den Stoff ihrer Erzählung.
Über das nicht zu schweigen, wovon man nicht sprechen kann, hat bekanntlich oft Spekulation oder Lüge zur Folge. Aber es muss nicht zwangsläufig so kommen. Dieses Debüt handelt davon, wie Schweigen und Einsamkeit durch Generationen weiterwirken. Zur derzeit so beliebten Identifikation lädt das nicht ein. Aber dazu, die Lage zu erkennen.
Sabine Schönfellner: "Draußen ist weit"
Literaturverlag Droschl, Graz, 176 Seiten, 20 Euro.