"Querdenken" in Leipzig

Streit um ein Demo-Desaster

06:58 Minuten
"Querdenken"-Demonstration in Leipzig.
"Querdenken"-Protest in Leipzig: Es ist nicht zu erwarten, dass bei der nächsten Demonstration die Gesundheitsauflagen respektiert werden. © picture alliance / dpa / Sebastian Kahnert
Teresa Koloma Beck im Gespräch mit Anke Schaefer · 09.11.2020
Audio herunterladen
In Leipzig ist eine Demonstration der "Querdenker" eskaliert, der Gesundheitsschutz spielte so gut wie keine Rolle unter den Protestierenden. Wird hier eine gesellschaftliche Spaltung sichtbar? Die Soziologin Teresa Koloma Beck warnt vor einer solchen Interpretation.
Eine "Querdenken"-Demonstration ist in Leipzig aus dem Ruder gelaufen - es gab unzählige Verstöße gegen Hygieneregeln, Angriffe auf Pressevertreter und Rangeleien mit der Polizei. Die folgte während der Demonstration einer defensiven Strategie und muss sich nun ebenfalls Kritik gefallen lassen. In der Politik wird der Ruf nach Konsequenzen laut.
Am Samstag hatten im Zentrum von Leipzig mindestens 20.000 Menschen gegen die Corona-Beschränkungen demonstriert. 90 Prozent der Teilnehmer trugen laut Polizei keine Masken. Die Demonstranten erzwangen einen Gang über den Leipziger Ring, obwohl das ausdrücklich nicht gestattet war. Das Oberverwaltungsgericht Bautzen hatte den Aufmarsch in der Innenstadt erst am Samstagmorgen erlaubt, eine Begründung steht noch aus.

Die Polizei nicht aus der Verantwortung lassen

Bundesinnenminister Horst Seehofer stellte sich vor die Polizei und warnte vor vorschneller Kritik. Die Soziologin Teresa Koloma Beck widerspricht dem CSU-Politiker an diesem Punkt deutlich: Die Polizei sei sicherlich in keiner einfachen Situation gewesen, betont sie. Man könne sie aber deswegen nicht einfach so aus der Verantwortung entlassen.
Neu am Streit um die Demonstrationen der "Querdenker" ist, dass hier wichtige Grundrechte gegeneinander abgewogen werden müssen - Gesundheitsschutz spielte bei Demonstrationen in der Vor-Corona-Zeit keine wesentliche Rolle. Man brauche vor diesem Hintergrund nun einen "neuen Blick" auf die Frage, ob, wann und wo Demonstrationen erlaubt werden oder nicht, sagt Beck:
"Wahrscheinlich ist die Frage, wie legitim es ist, von früheren Ereignissen bei Demonstrationen dieser Bewegung auf das zu schließen, was bei der nächsten Demonstration passiert. Ist das zulässig, ist das nicht zulässig? Im Augenblick verdichten sich doch die Hinweise, dass mit Gesundheitsschutz auf Querdenken-Demonstrationen nicht zu rechnen ist und mit einer unbehelligten Arbeit der Presse auch nicht."
Man könne sachlich feststellen, dass solche Demonstrationen der extremen Rechten in Deutschland nützten, betont die Soziologin. Und es sei ein Problem, dass sich das Querdenken-Milieu nicht genug damit auseinandersetze, sagt Beck.

Das Konsensmodell hat sich überholt

Von einer gesellschaftlichen Spaltung will sie aber nicht sprechen. "Die Gesellschaft besteht aus sehr vielen verschiedenartigen Menschen und Gruppen. Vielleicht ist es einfach an der Zeit, die Idee von der Einheitlichkeit der Gesellschaft zu überdenken."
Man müsse Wege finden, Diversität zu denken, "ohne jedes Mal, wenn es einen manifesten Konflikt gibt, sofort von Spaltung zu reden", meint Beck. Sie habe die Befürchtung, dass man die Spaltung auch herbeireden könne, wenn man immer wieder vor ihr warne - "dass das eine Art selbsterfüllende Prophezeiung werden könnte".
Politisch bestehe die Herausforderung darin, Abschied vom Konsensmodell zu nehmen, das seit der Nachkriegszeit das Land geprägt habe, meint Beck. Denn dieses bröckele an allen Ecken und Enden. "Da ist Kreativität gefragt, neue Formen der Kooperation in die Wege zu leiten, die nicht mehr auf dieser Vorstellung 'Wir sind einheitlich' beruhen."
Zumindest politisch ist derzeit nicht viel von Einheitlichkeit und Konsens zu spüren - es beginnt die Suche nach dem Schuldigen für das Demo-Desaster. Linke, Grüne und SPD in Sachsen verlangen eine Aufarbeitung der Geschehnisse in einer Sondersitzung des Innenausschusses, es ist von einem "Planungsdesaster" und der Kapitulation des Staates gegenüber den "Feinden der Demokratie" die Rede.

Kritik am Oberverwaltungsgericht Bautzen

Heftige Kritik gibt es auch an der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Bautzen, die Demo überhaupt zuzulassen - der sächsische Innenminister Roland Wöller (CDU) äußerte sich beispielsweise dementsprechend.
Und die "Querdenker" wiederum beschweren sich in einer Pressemittelung, von der Stadt Leipzig und den Polizeikräften "nach Kräften sabotiert" worden zu sein. So habe man keine Tontürme aufbauen dürfen, um die gesamte Versammlungsfläche zu beschallen.
(ahe)
Mehr zum Thema