Einzelhaft im Kopf

01.11.2013
Mit keinem Wort zu viel erzählen Stephen King und Steward O'Nan die verstörende Geschichte um ihren Helden Dean Evers, der von verdrängten Erinnerungen gequält wird, als er Totgeglaubte im Fernsehen sieht. Das Gerät kann er ausschalten, die Gedanken nicht.
Die Novelle ist aus der Mode, jene Erzählform, die sich durch ihre Kürze auszeichnet und dadurch, dass sie ein besonderes Ereignis, laut einem vielzitierten Goethe-Wort "eine sich ereignete unerhörte Begebenheit", zum Gegenstand hat. Unerhört ist es allemal, was dem Witwer Dean Evers in der wohl amerikanischsten aller Lebenslagen, mit TV-Dinner vor einer Baseballübertragung, widerfährt. Nach dem Schlaganfalltod seiner Frau ist Evers nach Florida gezogen, wo er niemanden kennt. Höhepunkt und Konstante seines eintönigen Daseins ist das Abendessen vor dem Baseball. Und da passiert es. In der Zuschauermenge hinter dem Spielfeld taucht Deans ehemaliger Zahnarzt auf. Dabei ist der seit Jahren tot. Spielt dem Einsamen die Fantasie einen Streich? Oder hat er einfach ein Bier zu viel getrunken?

Der Zahnarzt bleibt nicht der einzige Tote, den Dean in der Menge ausmacht. Fernsehwelt, Jenseits und Lebenswelt fließen ineinander. Schließlich hat Dean einen Apparat, "der so topmodern war, dass Evers manchmal das Gefühl hatte, er bräuchte bloß das Bein anzuheben und den Kopf einzuziehen und könnte direkt ins Bild steigen." Mit den Toten tauchen die Sünden der Vergangenheit auf. Der Leser erfährt eine Menge über diesen Dean Evers, wenig Gutes, einiges schockierend. Dinge, an die er selbst lieber nicht denkt und lange nicht gedacht hat. Doch einmal zurückgekehrt, verschwinden die Erinnerungen nicht mehr. Den Fernseher kann Evers ausschalten. Die Gedanken bleiben. "Spät in der Nacht, gegen drei, begriff Evers mühelos, warum sich Sträflinge ausgerechnet am meisten vor Einzelhaft fürchteten. Prügel hörten irgendwann auf, doch ein Gedanke konnte ewig weitergehen und sich immer wieder von Schlaflosigkeit nähren."

Spannung auf den Punkt
Stephen King, das literarische Schwergewicht fürs Unheimliche, hat zusammen mit dem Schriftstellerkollegen Stewart O´Nan einen konzentrierten, verstörenden Text geschrieben, punktgenau, sehr professionell und dabei zutiefst literarisch. Da stimmt alles, da ist kein Wort zu viel. Jede Information, wie beiläufig sie auch gestreut sein mag, löst beim Leser eine Erwartung aus, etwa das Wort "Videosimulation". Doch Stephen King entlässt einen bekanntlich erst aus der Spannung, wenn man am Ende angekommen ist. "Lachen mochte die beste Medizin sein, aber Dean Evers war davon überzeugt, dass seine Feinde überleben die beste Rache war." Wenn er sich da mal nicht täuscht.

Auf knapp 60 Seiten rehabilitieren King und O´Nan das Genre Novelle. Man will mehr davon und das, obwohl es viel um Baseball geht, das Lieblingsthema der Autorenfreude, dem sie bereits ein gemeinsam verfasstes Sachbuch gewidmet haben. Doch auch wer nicht weiß, was eine Base, ein Fastball oder ein Inning ist, bleibt dabei, magisch angezogen von einem dichten Stück Literatur, das in King'scher Manier dem Allgemeinmenschlichen immer gleich nah ist wie dem Jenseits und in Stil und Motivik offen an bekannte Vorbilder anknüpft, an Ray Bradbury zum Beispiel. Ein kleines, spitzes, hochprofessionelles, garstiges Meisterstück.

Besprochen von Hans von Trotha

Stephen King und Stewart O´Nan: Ein Gesicht in der Menge
Aus dem Englischen von Thomas Gunkel
Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 2013
64 Seiten, 8 Euro

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