Porträt

"Wenn man sich in einem großen Raum ganz klein fühlt, wächst man und füllt ihn aus"

Die Bäume im Westonbirt Park in der Provinz Gloucestershire im Südwesten Englands sind herbstlich rot und orange gefärbt.
Rachel Joyce lebt im idyllischen Gloucestershire im Südwesten Englands. © picture alliance / dpa / Batchelo Barry Batchelor
Von Irene Binal · 07.01.2014
Gleich ihr erster Roman war ein großer Erfolg. Dabei ist die Schriftstellerei bereits die dritte Karriere von Rachel Joyce: nach dem Schauspiel und dem Hörspiel. Nebenbei betreibt sie auch noch eine eigene Farm.
"Es gibt so viele Dinge, die ich nicht kann. Ich kann nicht singen. Und ich kann nicht malen, obwohl ich gern Malerin wäre. Ich reagiere sehr visuell auf Dinge, darum muss ich Worte benutzen."
In der Welt der Worte ist Rachel Joyce daheim, und das seit vielen Jahren, zunächst auf der Bühne, später als Autorin von Hörspielen für die BBC. 2007 wurde sie mit dem "Tinniswood Award“ ausgezeichnet, für ihr Hörspiel "To be a Pilgrim“:
"Ein Hörspiel ist eine wunderbare Methode, um die Struktur einer Geschichte herauszuarbeiten. Man hat 45 Minuten, das ist nicht viel. Daher muss man die Schwerpunkte der Geschichte betonen, wie beginnt sie, wie endet sie, wo sind die Höhepunkte. Es ist eine gute Möglichkeit, sich selbst herauszufordern."
Später wurde daraus ihr erster Roman "Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry“ - und der Erfolg kam prompt: "Harold Fry“ war für den Booker Prize nominiert und gewann den "New Writer Of The Year Award“. Auch der zweite Roman der Britin, "Das Jahr, das zwei Sekunden brauchte“, weiß zu überzeugen. Trotzdem kämpft die Autorin immer wieder mit Selbstzweifeln.
"Ich kann offenbar über bestimmte Dinge schreiben, aber ich habe immer Angst, es doch nicht zu können; ich kämpfe ständig mit meinem Selbstvertrauen. Jeden Tag denke ich: ich kann das gar nicht. Und ich habe große Hochachtung vor den Büchern anderer Leute."
Schreiben bis zum Morgengrauen
Rachel Joyce wirkt geerdet, trotz ihres fragilen Äußeren: Ihre 51 Jahre sieht man ihr nicht an, schmal ist sie und klein, mit dunklen Locken und einem offenen, herzlichen Gesicht. Nicht gerade die klassische Bauersfrau, obwohl auch das ein Teil ihres Lebens ist. Mit ihrem Mann, vier Kindern und zahlreichen Tieren lebt sie auf einer Farm in Gloucestershire im Südwesten Englands und man sieht es vor sich: das große Haus, die sanften englischen Hügel, ein Teich mit Gänsen und Enten - nein, keine Enten, denn die hat ein böses Schicksal ereilt.
"Ich habe die Enten früher jeden Morgen gefüttert, aber dann hat sie der Fuchs geholt. Die Gänse hätten die Enten beschützen sollen. Aber offenbar haben sie nur zugesehen, wie die Enten gefressen wurden."
Es grenzt fast an ein Wunder, dass Joyce neben der Arbeit auf der Farm und ihrer Familie noch Zeit zum Schreiben findet. Das tut sie in einem kleinen Schuppen auf dem Grundstück.
"Mein Mann und ich haben ihn in einem wunderbaren Grauton gestrichen, fast ein bisschen skandinavisch. Er hat eine kleine Heizung und man schaut über die Hügel. Es ist ein wunderbarer Ort!"
Hier kann Rachel Joyce schreiben, ganz für sich, meist mit Musik, etwa von Joni Mitchell, und oft zu ungewöhnlichen Zeiten.
"Ich bin sehr eigen mit meinem Schreiben. Ich tue es nicht gern, wenn die Familie um mich ist. Die beste Zeit für mich ist, wenn sie alle schlafen. Ich weiß, dass alle in Sicherheit sind, aber sie wollen nichts von mir. Ich stehe oft um vier Uhr morgens auf, weil ich nicht sehr gut schlafe, und schreibe bis zum Morgengrauen. Das ist eine gute Zeit zum Schreiben."
Dabei ist Rachel Joyce eigentlich gar kein Landkind: In London studierte sie englische Literatur, besuchte eine Schauspielschule und wurde umgehend von der Royal Shakespeare Company engagiert:
"Ich erinnere mich gut an das Vorsprechen. Ich hatte noch nie außerhalb der Schauspielschule eine Rede auf der Bühne gehalten. Ich fühlte mich so winzig in diesem riesigen Raum. Aber manchmal, wenn man sich in einem großen Raum ganz klein fühlt, wächst man und füllt ihn aus. Und in diesem Moment habe ich das geschafft."
Kinder statt Bühne
Die Anerkennung blieb nicht aus, Rachel Joyce erhielt den "Time Out Actress Of The Year Award“:
"Natürlich ist es eine Ehre, aber man darf dann nicht denken, man hätte es geschafft. Das wäre ein Fehler. Das ist wie mit Kritiken. Wenn jemand betont, wie großartig man in einer bestimmten Szene ist, dann hat man, wenn man wieder auf der Bühne steht, eine kleine Stimme im Kopf, die sagt: "das ist der Teil, in dem ich wirklich großartig bin!“ Und siehe da, man ist es nicht mehr."
Als die Kinder kamen, zog sich Rachel Joyce von der Bühne zurück, um mehr Zeit für ihre Familie zu haben. Bereut hat sie diesen Entschluss nie.
"Ich bin glücklicher als Schriftstellerin. Es passt besser zu mir."
Und so schreibt sie Romane und Hörspiele in ihrer idyllischen kleinen Welt im ländlichen Gloucestershire.
"Es ist ein wunderbarer Teil von England. Man sieht die Sonne aufgehen, über den Himmel ziehen und untergehen. Dieses Licht und dieses Land, das ist etwas Besonderes."
Rachel Joyce hat ihre Lebensform gefunden, sie wirkt wie jemand, der mit sich und der Welt ganz und gar im Reinen ist. Das war nicht immer so: Vor allem der Tod ihres Vaters stürzte sie in ein tiefes Loch, das sie erst schreibend überwinden konnte. Heute jedoch ist Rachel Joyce bei sich angekommen.
"Es hat sehr lang gedauert. Ich hatte immer starke Gefühle und habe oft damit gekämpft. Verluste oder Trennungen sind schwierig. Aber es wird leichter für mich, je älter ich werde."

Rachel Joyce: Das Jahr, das zwei Sekunden brauchte
Übersetzt von Maria Andreas
Krüger-Verlag, Frankfurt am Main 2013
430 Seiten, 18,99 Euro

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