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Carlo Strenger
"Diese verdammten liberalen Eliten"

Die liberalen Eliten müssen oft herhalten, wenn es darum geht, Schuldige zu suchen für das Erstarken von Nationalismus und Rechtsextremismus. Wer aber sind sie genau und was sollten sie tun? – diesen Fragen geht der Psychologe Carlo Strenger nach. Auch er zählt sich dazu.

Von Tamara Tischendorf | 15.07.2019
Buchcover zu Carlo Strenger: "Diese verdammten liberalen Eliten. Wer sie sind und warum wir sie brauchen"
Buchcover zu Carlo Strenger: "Diese verdammten liberalen Eliten. Wer sie sind und warum wir sie brauchen" (Candy Welz / Arifoto Ug / picture alliance / Suhrkamp)
Die liberalen Eliten haben keinen guten Ruf. Das verrät schon der Titel von Carlo Strengers Buch. Er schimpft sie "verdammte liberale Eliten" und transportiert damit die Perspektive ihrer zahlreichen Kritiker.
"Das gängige Stereotyp über die liberalen Kosmopolitinnen lautet, sie seien egoistische Profiteure der Globalisierung, die sich in Selbstzufriedenheit über ihr Bildungsniveau, ihren anspruchsvollen Geschmack und ihren beruflichen Erfolg suhlen."
Schon im Vorwort macht der Psychologe und Philosoph deutlich, dass er ein wohlwollenderes Porträt dieser gesellschaftlichen Gruppe dagegensetzen will. Einer Gruppe, zu der er sich auch selbst zählt. Die globalen Jetsetter, die Carlo Strenger beschreibt, gehören zur oberen Mittelschicht:
"Sie haben so gut wie immer ein Hochschulstudium absolviert, sind in den Medien, in der Kunstszene und der Wissenschaft überrepräsentiert und machen jene Gruppe der Meinungsführer aus, deren Ansichten aufgrund ihrer Ausbildung oder ihres Berufs besondere Autorität zukommt."
Elite ist nicht gleich Elite
In modernen Gesellschaften machen sie rund zwanzig bis dreißig Prozent der Bevölkerung aus, schreibt Carlo Strenger. Auf rund hundertsiebzig Seiten erstellt er ihr Psychogramm. Sein Buch ist in drei Hauptkapitel unterteilt. Besonders im ersten und dritten Kapitel bedient er sich empirischer Erkenntnisse aus der Wirtschaftswissenschaft, Politikwissenschaft und Soziologie:
"Empirische Studien [...] zeigen, dass die überwältigende Mehrheit der Angehörigen dieser Gruppe liberale und universalistische Ansichten vertritt; dass sie Bigotterie, Rassismus und Provinzialität verachten und versuchen, ihnen zu entkommen; dass sie sich eher um die Menschheit insgesamt sorgen als um ihre unmittelbaren Nachbarn oder ihre Landsleute. Und dass sie extrem mobil sind: Ihre Talente stehen überall auf dem Globus hoch im Kurs, es zieht sie in jene Länder und Städte, die zu ihrem verfeinerten Geschmack sowie zu ihrem liberalen Temperament passen."
Ihr Lebensstil mag ein wenig an den der Vertreter der globalen Finanzelite erinnern. Ihr Wertesystem sei aber ein völlig anderes, betont Carlo Strenger:
"Studien zeigen, dass die Mehrzahl von ihnen erhebliches Mitgefühl für das Schicksal der ärmeren Klassen aufbringt, tief verankerte sozialdemokratische Ansichten hegt und Steuerprogression und Umverteilung von oben nach unten befürwortet."
Nicht das Streben nach Reichtum treibe sie um, sondern der Wunsch, etwas Bedeutendes zu leisten. Die Handlungsmaxime, nach der sie leben, laute:
"Lebe spektakulär und verändere die Welt!"
Trotz dieser Menschenfreundlichkeit würden die Kosmopoliten aus Medien, Forschung oder High-Tech-Industrie von vielen Bevölkerungsteilen als "entkoppelte Eliten" oder "narzisstische Nervensägen" wahrgenommen. Für Strenger ein Paradoxon. Die liberale Elite verstehe die Welt nicht mehr.
Höher gestellt aber isoliert
Manche ihrer Vertreter leiden an Depressionen und suchen auf Carlo Strengers Couch nach Orientierung. Davon erzählt das zweite und längste Kapitel des Buchs. Carlo Strenger schildert fünf Fallbeispiele aus seiner psychotherapeutischen Praxis. Dabei stellt er keine realen Personen vor, sondern komponiert typische Fälle aus verschiedenen Einzelschicksalen. Da ist zum Beispiel Jeff, ein weltweit gefragter Politologe. Er denkt, er wäre ein Hochstapler und leidet unter Einsamkeit.
"Jeff war der Jüngste von insgesamt vier Geschwistern, und sehr schnell wurde deutlich, dass er weitaus klüger war als seine älteren Brüder und seine Schwester. Er hielt sich häufig im Ausland auf, bekam bald eines der prestigereichen Rhodes-Stipendien und absolvierte ein Auslandssemester in Oxford. Die übrigen Familienmitglieder waren eingeschüchtert ob des brillanten Sohnes und Bruders. Wenn er zu einem Familienfest in ihrer Kleinstadt anreiste, wirkte es auf sie, als käme er aus einer anderen Welt."
Weltbürger versus heimatverbundene Patrioten – "Anywheres" gegen "Somewheres" – ein typischer Konflikt mit einer durchaus politischen Dimension. Die greift Carlo Strenger am Ende seines Buches auf. Seine Diagnose: Die liberalen Eliten hätten in der Vergangenheit viele Fehler gemacht. Den illiberalen Backlash, der ihnen neuerdings eisig ins Gesicht schlägt, hätten sie sogar unwillkürlich mit befördert. Sie hätten zum Beispiel unterschätzt, wie wichtig vielen Menschen Gruppenzugehörigkeit und kulturelle Wurzeln sind.
Irrationalität und Lügen angehen
Der fatalste Fehler, den Carlo Strenger den liberalen Eliten attestiert, ist, Andersdenkende nicht ernst genommen zu haben:
"Wir alle haben Menschen, die unsere Ansichten nicht nachvollziehen können und/oder nicht teilen, von oben herab behandelt und sie als dumm, begrenzt oder provinziell abgestempelt."
Damit die Erblasser der offenen Gesellschaft, als die er die liberalen Eliten sieht, mit ihrer Botschaft überhaupt noch durchdringen, empfiehlt Carlo Strenger, einen anderen Ton anzuschlagen. Und: Diesen anderen Ton auch woanders anzuschlagen als vielleicht gewohnt:
"Wir müssen lernen, ein breites Publikum anzusprechen und die Irrationalität und die Lügen politischer Scharlatane wie Trump frontal anzugehen. Liberale Kosmopolitinnen, ob Akademiker, Journalistinnen oder Künstler, müssen sich aus dem Elfenbeinturm der Universitäten, Ateliers und Qualitätsmedien herausbegeben und das Risiko eingehen, sich in den sozialen Medien und dem Fernsehen mit den Populisten anzulegen, um ihre Unwahrheiten dort zu entlarven, wo sie die weiteste Verbreitung finden."
Außerdem sieht Carlo Strenger Schulen und Universitäten in der Pflicht, gefestigte Staatsbürger heranzubilden, die politisch argumentieren können. Ein Rezept, in dem auch sein letztes Buch über das "Abenteuer Freiheit" gipfelte. Alter Wein in neuen Schläuchen also. Alles in allem wendet sich "Diese verdammten liberalen Eliten" nur dem Titel nach an ein neues Zielpublikum. De facto greift das Buch über das Ziel, den liberalen Eliten in guter therapeutischer Tradition dabei zu helfen, sich selber besser zu verstehen, nicht hinaus. Damit ist aber schon viel gewonnen. Denn die Kluft zwischen den Weltoffenen und den Heimatverbundenen mit einem Wisch zu schließen, wäre schlicht zu viel verlangt.
Carlo Strenger: "Diese verdammten liberalen Eliten. Wer sie sind und warum wir sie brauchen",
Suhrkamp Verlag, 171 Seiten, 16 Euro.