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"Der Meteorologe"
Mechanismen des stalinistischen Repressionsapparates

In seinen Romanen und Reiserberichten untersucht Oliver Rolin die Weltgegenden, die abseits des Zeitgeschehens zu liegen scheinen: In "Der Meteorologe" begibt er sich auf die Spur des sowjetischen Wetterforschers Alexei Wangenheim, der Anfang der 1930er-Jahre ebenso plötzlich wie grundlos verhaftet wird und in einem Gulag verschwindet.

Von Cornelius Wüllenkemper | 26.10.2015
    Holzbretterzaun und Stacheldraht am ehemaligen Straflager Perm 36, das bis 1989 von der Sowjetunion als Gefängnis für Dissidenten und andere Häftlinge benutzt wurde, aufgenommen am 24.07.2009. Die Anlage wird heute als GULAG-Museum benutzt.
    Gulag-Lager in Perm: Der Traum vom "neuen Menschen" wurde zum Albtraum. (dpa / Matthias Tödt)
    Wenn der französische Schriftsteller Olivier Rolin in seinem neuen Roman der Geschichte eines Wetterforschers im stalinistischen Herrschaftssystem nachspürt, arbeitet er zugleich seine eigene Vergangenheit auf. Bereits in seinem 2002 erschienen Roman "Die Papiertiger von Paris" ging der frühere militant-maoistische Untergrundkämpfer Rolin mit sich ins Gericht, entlarvte die Lügen der Propaganda und die eigenen Lebenslügen. Sein Schreiben widmet Rolin seither nicht nur der Aufarbeitung seiner eigenen Irrwege, sondern auch der Geschichte Russlands, dem Vaterland der sozialistischen Revolution. Rolin lässt keinen Zweifel: Er mag keine Zaren und keine Kommunisten, er mag keine Oligarchen und ebenso wenig den erneut aufblühenden Stalinkult. Dennoch ist Russland Rolins Sehnsuchtsort.
    "Wo Russland ein Land ist, das von allen gehasst wird und das niemand wirklich kennenlernen möchte, verfolge ich eben genau das Gegenteil. Nein, mal im Ernst: Russland ist zugleich der Ort der größten Utopie und des größten Schreckens im 20. Jahrhundert. Und dann die geografische Weite dieses Landes. Russland ist zum Teil noch immer wenig erforscht, weder von den Europäern noch von den Russen selbst. Und nicht zu vergessen die russische Seele: Diese Gastfreundschaft, diese Großzügigkeit und Sentimentalität - in Russland ist das viel verbreiteter als in unseren Breitengraden, wo man immer pragmatischer und auch zynischer denkt."
    Solowezki-Insel als Handlungsort
    Die Vorbereitung seines aktuellen Romans "Der Meteorologe" führte Rolin auf die Solowezki-Inseln 160 Kilometer südlich des Polarkreises. Dort entdeckte er eine Klosterfestung aus dem 15. Jahrhundert, die ab 1923 das erste sowjetische Gulag-Lager beherbergte. In Archivbeständen der Aufzeichnungen ehemaliger Lagerinsassen fand er Briefe und Zeichnungen eines gewissen Alexei Wangenheim. Wangenheim, 1881 in einem ukrainischen Dorf geboren, war als erster Direktor des Hydro-Meteorologischen Dienstes der Sowjetunion ein wichtiger Mann im Staate gewesen.
    Nicht nur im Wettkampf mit den USA um die Eroberung der Stratosphäre per Heißluftballon, sondern auch, um den Aufbau der sozialistischen Wirtschaft, besonders der Landwirtschaft, zu sichern. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere im Sowjetsystem wurde Wangenheim am 8. Januar 1934 von der Geheimpolizei verhaftet. Der Vorwurf: In einer Zeitschrift seines Instituts hatte ein Autor über die neue norwegische Theorie zur Entstehung von Tiefdruckgebieten geschrieben, ohne explizit auf die Verdienste der sowjetischen Wetterforschung einzugehen. Ein eifersüchtiger Kollege hatte Wangenheim zudem beschuldigt, Wettervorhersagen gefälscht zu haben, um der sowjetischen Landwirtschaft zu schaden.
    Nach einem Tag im Verhörraum der Staatspolizei gestand Wangenheim jeden einzelnen der haltlosen Vorwürfe. Drei Monate später wurde er im Umerziehungslager der Solowezki-Inseln im Weißen Meer interniert. Die einzige Spur seiner Deportation sind die Briefe und kunstvollen Zeichnungen von Pflanzen, Tieren und Stillleben, die Wangenheim seiner Tochter schickte.
    "Bevor ich irgendetwas von Alexei Wangenheims Biografie wusste, hat mich die Vorstellung berührt, dass da ein Vater, der auf einer vom Eis umschlossenen Insel gefangen ist, sich weiterhin um die Erziehung seiner Tochter kümmert. Natürlich, der stalinistische Terror hat letztlich nur dank Leuten wie ihm funktioniert. Wangenheims Blindheit und Konformismus habe ich erst im Laufe meiner Recherchen entdeckt. Zuerst hat mich das ziemlich enttäuscht. Aber dann habe ich bemerkt, dass genau das mein literarischer Stoff war: Wangenheims innerer Kampf zwischen Konformismus und blinder Folgsamkeit einerseits. Und andererseits Empörung, Unglauben und Schmerz angesichts der schreienden Ungerechtigkeit, die ihm widerfährt.
    "In einer Woche sind es drei Jahre. Das erste Jahr war das Jahr der Gewissheit, dass die Wahrheit noch herauskommen würde. Im zweiten Jahr wich die Gewissheit der Hoffnung. Und jetzt, da das dritte Jahr vergangen ist, da keine Gewissheit oder Hoffnung mehr geblieben ist, obwohl ich nichts von meinen Überzeugungen preisgegeben habe, glaube ich noch immer, dass die Führungskader nichts davon wissen. Während dieser ganzen Zeit habe ich mit mir selbst gekämpft, um mich davor zu bewahren, schlecht über die Sowjetmacht und ihre Führer zu denken, sie für das verantwortlich zu machen, was geschieht."
    Tod im vierten Jahr im Gulag
    Das vierte Jahr im Gulag wird Wangenheim nicht überleben. Zahlreiche Gesuche an die Sowjet-Führung bleiben unbeantwortet. Auch die Stalin-Mosaike, die er aus Steinsplittern in seiner Freizeit anfertigte, stimmen die Führer nicht um.
    Detailliert beschreibt Olivier Rolin in "Der Meteorologe" die Mechanismen des stalinistischen Repressionsapparates, denen alleine während des Großen Terrors 1937 bis 1938 über 750.000 Menschen zum Opfer fielen. Ausführlich widmet er sich den akribischen Aufzeichnungen der Staatspolizei. Rolin tariert dabei das Distanzverhältnis zu seinem Protagonisten Wangenheim als Individuum einerseits und als Repräsentant der Weltgeschichte andererseits gekonnt aus, wechselt zwischen Zitat-Passagen aus Wangenheims Briefen und der Draufsicht eines neutralen Berichterstatters.
    "Jedes Buch hat seine eigene Wellenlänge. Wenn man eins ist mit seiner Idee, dann entsteht die Wellenlänge von ganz allein, ohne dass man etwas dafür tun muss. Bei "Der Meteorologe" wusste ich intuitiv, dass man hier eine gewisse Reinheit und Zurückhaltung walten lassen muss. Weil ich über ein Schicksal schrieb, das für Hunderttausende zerstörte Leben stand, wollte ich mich nicht in Stilübungen ergehen, wollte nicht den Schlauberger spielen. Das Ganze musste eher etwas von einem Bericht haben."
    Neben Wangenheims Briefen stützt Rolin seine Recherche auf die Erkenntnisse von Lokalhistorikern der Solowezki-Inseln und die Forschungen des russischen Geschichtsvereins Memorial. Mit Memorial-Mitarbeitern begibt er sich auf die Suche nach dem Massengrab, in dem Alexei Wangenheim im Oktober 1937 mit 1100 anderen Gulag-Häftlingen nach ihrer Erschießung verscharrt wurde. Der Offenlegung seiner Recherche widmet Rolin ein ganzes Kapitel seines vierteiligen Buches und gewährt so einen beeindruckenden Einblick in sein Handwerk als Autor. Die verschiedenen Quellen seines Stoffs verknüpft er zu einem mitreißenden literarischen Gesamtbild. Es zeigt nichts weniger als das Ende des größten Menschheitstraums des 20. Jahrhunderts.
    "Wangenheims Tod steht für das definitive Ende der sozialistischen Hoffnung. Die Vorstellung, dass ein titanenhafter, epischer Akt, nämlich die Revolution, die Welt grundsätzlich verändern würde, war damit gestorben. Wenn wir heute meinen, unsere Gesellschaft sei ungerecht und wir müssten Wege finden, das gemeinsam zu ändern, dann müssen wir bei Null anfangen. Denn die Vergangenheit hat uns nur Schlechtes gelehrt."
    Wie der Traum der Sowjets vom neuen Menschen zum Albtraum wurde, beschreibt Olivier Rolin ebenso nüchtern wie faktisch und emotional präzise. Bis zu ihrem Tod erfuhren weder Witwe noch Tochter Genaues über das Schicksal Wangenheims, der 1956 unter Nikita Chruschtschow offiziell rehabilitiert wurde. Erst Rolins Recherchen an der Seite des in Putin-Russland zusehends verfolgten Geschichtsvereins Memorial decken die schier unglaubliche Geschichte des Sowjetbürgers Alexei Wangenheim auf. Rolin beweist mit "Der Meteorologe", dass er einer der eindringlichsten Erzähler von Geschichte in der französischen Gegenwartsliteratur ist.
    Buchinfos:
    Olivier Rolin: "Der Meteorologe", aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller, Liebeskind, 224 Seiten mit 98 farbigen Abbildungen