Skulptur Projekte Münster

Wie Körpererfahrung die moderne Welt spiegeln kann

Der künstlerischer Leiter Kaspar König, aufgenommen am 25.05.2016 bei einer Pressekonferenz in Münster (Nordrhein-Westfalen). Er deutet mit einem Stift in richtung des Betrachters. Ein Jahr vor dem Start der internationalen «Skulptur Projekte» stellt das Kuratorenteam Details des Konzepts vor. Die 100 Tage dauernde Großausstellung mit Arbeiten im öffentlichen Raum findet alle zehn Jahre statt und gilt als eine der wichtigsten Skulpturen-Ausstellungen weltweit. Foto: Friso Gentsch/dpa
Kasper König, Kurator und künstlerischer Leiter der "Skulptur Projekte Münster". © dpa / picture alliance / Friso Gentsch
Kasper König im Gespräch mit Dieter Kassel · 09.06.2017
Alle zehn Jahre zieht es Kunstliebhaber nach Münster, zu der Freiluft-Großausstellung "Skulptur Projekte". Sie sei ein Seismograf für Veränderungen, sagt der künstlerische Leiter Kasper König. Seine Aufgabe sieht er darin, "die Autonomie des Formats rabiat zu verteidigen".
Dieter Kassel: Heute regt sich eigentlich keiner mehr darüber auf, 1977 aber war das anders: Als damals Kasper König die "Skulptur Projekte Münster" gründete, da waren viele in der Stadt überhaupt nicht angetan von der Idee, alle zehn Jahre im öffentlichen Raum moderne Kunst, moderne Skulpturen zu präsentieren. Es hat sich aber etabliert diese Veranstaltung. Morgen findet sie zum fünften Mal insgesamt statt, und ich habe mich mit Kasper König, Gründer und bis heute Leiter der "Skulptur Projekte", über dieses Projekt unterhalten und ihn gefragt, ob es ihm eigentlich recht ist, ob er es eigentlich genauso sieht, dass inzwischen diese Veranstaltung eigentlich keinen mehr aufregt.
Kasper König: Ja, das trifft in gewisser Weise zu, zumal der Ursprung über eine Kontroverse lief. Und Klaus Bußmann, der war damals Kustos am Museum, hat sehr klar reagiert und hat gesagt, ja, was fehlt, ist Information über die Geschichte moderner Skulptur. Also ganz aus der Position der Aufklärung heraus.
Er war ein großer Fan, kann man sagen, von Willy Brandt, war auch Mitglied im Stadtrat, hat eine eigene Stadtillustrierte rausgegeben, die ganz und gar auf Willy Brandt zugeschnitten war. Und somit wurde der Bußmann auch als akademisch rote Socke versucht, lächerlich zu machen. Es hatte aber das eine mit dem anderen nur indirekt zu tun, aber das war eine fantastische Haltung, die auch in der Kunst selber nichts mit Parteipolitik zu tun haben konnte. Und da gab es eine so unglaubliche Aggression, dass es heute fast unmöglich ist, nachzuvollziehen, woher denn diese Wut kam.

Störenfried im Wirtschaftswunderland

Kassel: Das heißt – es ist erstaunlich, Herr König –, ich erinnere mich schon an heftige Kritik und an wirklich diese Grundeinstellung in Münster, wir brauchen das nicht, wir wollen das nicht, was machen die hier mit uns, aber Sie sprechen jetzt sogar von Aggression. Das heißt, die Leute konnten sich damals noch richtig aufregen über Kunst.
König: Na ja, das war sozusagen … Die wollten in Ruhe gelassen werden. Die Stadt war wieder aufgebaut, sie hatte einen Disneyland-artigen Touch, es fing an, eine Patina sich zu bilden, als wäre es eine echte historische Stadt, die prosperierte, eine Universitätsstadt, sehr bürgerlich, sehr aufs Einkaufen orientiert. Und die Besserverdienenden fuhren zum Skilaufen und machten den ersten Urlaub in Spanien. Also es war sozusagen ein Wirtschaftswunderland, und ich glaube, das störte einfach.
Dabei ging es nicht in dieser Ausstellung um Störung, sondern um Information. Auf der einen Seite war man sich des Traumas sozusagen des Krieges bewusst – es war ja nach 68 auch –, es war auch ein Affront der Uni gegenüber, die so tat, als wäre das eigentlich … Man wollte nicht noch mal einen Fehler machen und dem Zeitgeist hinterherlaufen.
Also damit war – das ist eine steile These meinerseits – auch ein bisschen so eine Marginalisierung impliziert, na ja, das mit der Nazizeit, das war eine Episode, und eigentlich hatte das mit der Uni wenig zu tun, was natürlich ein Quatsch ist. Natürlich war das gar nicht zu trennen von der Uni.
Es war auch nicht zu trennen sozusagen letztendlich von dem Katholizismus, aber es war sozusagen: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht, und plötzlich war es ein Unruheherd – nicht ideologisch, sondern aus einem anderen Moment heraus. Und beim zweiten Mal war es immer noch vehement.
Und jetzt hat sich die Stimmung gedreht. Aber das nur alle zehn Jahre stattfindet, ist es eben ein unglaublich interessanter Seismograf, um Veränderung festzustellen. Weil man selber ja Teil dieser Veränderung ist. Und nur aus einer gewissen Distanz heraus kann man das feststellen. Und wir glauben auch, erst in vier oder fünf Jahren wird sich zeigen, was denn diese fünfte Edition der Ausstellung letztendlich bewirken wird.

Wie sehr kann Kunst noch überraschen?

Kassel: Hatten Sie nicht diesmal beim Kuratieren dieser fünften Edition auch das Problem gehabt, dass es immer schwieriger wird, Leute mit Kunst wirklich noch zu überraschen, ja vielleicht sogar manchmal zu provozieren oder auch nur nachdenklich zu machen? Ich habe so das Gefühl, all das, womit Kunst früher – also früher meine ich wirklich vor 10, 20, 30 Jahren – provoziert hat, dieser gesellschaftskritische Anspruch, man will politisch sein, das sind wir doch alle so gewöhnt inzwischen, dass man quasi sagt, ach, guck mal da, das ist ja wieder hart.
König: Na ja, mein Job ist ja eigentlich mehr der, die Autonomie des Formats wirklich rabiat zu verteidigen. Dass das Performative, also der Bezug zum Körper und das Theatralische so wichtig geworden ist, ohne wie bei einem Festival, sondern innerhalb einer Ausstellung, wirkt relativ modisch, hat aber ihre Gründe, warum es zurzeit sowas wie eine Mode gibt, und das wird in dieser Ausstellung deutlich.
Kassel: Ist Ihnen das eigentlich als alter Hase quasi schwergefallen, die "Skulptur Projekte" so zu öffnen? Also Sie haben ja schon das Performative erwähnt. Das ist natürlich relativ weit weg von dem, was, sagen wir mal, Kulturkonservative sich unter Skulpturen vorstellen.
König: Na ja, nur es hat unmittelbar mit dem Körper zu tun, und die Körpererfahrung ist heute eine andere, wenn ich sehr viel länger leben kann, wenn ich alles verlängern kann und erweitern kann, dann muss ich eine andere Selbstvergewisserung haben dem Körper gegenüber.
Es gibt fünf, sechs Beispiele, die doch dann plausibel auch etwas vermitteln, was man so noch nicht erfahren hat. Und die Vermittlung ist Teil der ganzen Sache, nur findet sie Form, sie findet Gestalt, und das wiederum hat dann auch mit Skulptur zu tun.

Die Figur in Raum und Zeit

Kassel: Sind Sie denn trotz dieser Öffnung hin zu dieser, von Ihnen zum Teil jetzt gerade beschriebenen, modernen Form, sind Sie immer noch glücklich mit dieser eigentlich ja doch Beschränkung auf die Skulptur oder gucken Sie manchmal neidisch – zum Beispiel das bietet sich ja in diesem Jahr an, wo es parallel läuft teilweise – nach Kassel, wo natürlich jede Kunstform erlaubt ist?
König: Das ist ja bei uns auch der Fall. Nur es bleibt noch immer bei diesem Gattungsbegriff Skulptur. Und Skulptur hat ja immer den Bezug anthropomorph, also zum Körper. Und das Urbild der Skulptur war ja sozusagen aus dem menschlichen Körper heraus, und dann gab es eine Phase, wo das sozusagen ironisch gebrochen wa. Und jetzt gibt es wieder Momente, wo auch selbst die Figur wieder zum Thema wird, also nicht nur als Abbildung, sondern eben auch im Raum und in der Zeit.
Kassel: Es sagen manche über die documenta, alle fünf Jahre, wie es bei der ist, sei eigentlich inzwischen nicht mehr gut. Das sei, so schnell, wie sich die Kunst entwickelt, wie sich die Welt entwickelt, zu selten. Die "Skulptur Projekte" gibt es alle zehn Jahre. Haben Sie langsam das Gefühl, in unserer heutigen schnellen Welt sind vielleicht die Abstände langsam zu groß?
König: Nein, eigentlich konsequent wäre, dass die übernächste also nicht zehn Jahre, sondern 15 oder 30 und 60 Jahre.

Zeitgenössische Kunst in der "Spielzeugstadt" Münster

Kassel: Herr König, zum Schluss eine Frage, die mir die ganze Zeit durch den Kopf geht: Athen ist eine Metropole mit diesem zweiten Standort documenta, aber die documenta hat sich in Kassel etabliert, die "Skulptur Projekte" haben sich in Münster etabliert. Warum scheint zeitgenössische, oft sehr moderne Kunst, zumindest in Deutschland, so unglaublich gut in die Provinz zu passen?
König: Na ja, Münster – das dürfen wir nicht vergessen – ist sozusagen ein bisschen wie eine Spielzeugstadt. Aber hier leben 300.000 Menschen, und die Stadt wächst. Und wir arbeiten ja diesmal mit Marl zusammen, und die haben also schon Skulpturen und Architektur bewusst gepflegt, 20 Jahre vor Münster. Und das ist sehr wichtig, auch historisch, da genau hinzugucken und zusagen, das war ein utopischer Ansatz, das war ein sozialistisch-humanistisches Menschenbild sozusagen, nach Hiroshima, nach Auschwitz: Wie leben wir, was ist die moderne Welt, was hat sie also nicht nur für Nachteile, sondern was hat sie auch für Vorteile.
Also für Menschen, die kommen aus Lateinamerika oder aus Asien, für die ist ein Ort wie Marl viel näher in ihrer alltäglichen Situation als Münster. Münster wirkt auf die eher geradezu putzig und museal. Und das zusammen zu sehen ist sozusagen auch eine globale Sicht auf etwas Spezifisches, was wiederum sehr westfälisch ist. Und westfälisch ist dann auch relativ langsam und behäbig und so. Also diese zehn Jahre ist auch ein lokaler Rhythmus, der gut hier in die Gegend passt.
Kassel: Kasper König übrigens selber ist auch in Westfalen geboren. Kasper König, der Mitbegründer und bis heute Leiter der "Skulptur Projekte" in Münster, war das. Ein Gespräch, das ich vor ein paar Tagen mit ihm geführt habe. Heute gibt es die große Pressekonferenz zur diesjährigen "Skulptur Projekte" und ab morgen ist sie dann zu sehen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema