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Divestment als Strategie gegen den Klimawandel
"Zieht die Kohle ab!"

Die Divestment-Bewegung gibt es in 60 Ländern der Welt. Ihre Aktivisten versuchen, Investitionen aus unethischen Industrien unter dem Aspekt des Klima- und Umweltschutzes abzuziehen. Das Besondere: Divestment boykottiert nicht den Kapitalismus, sondern nutzt dessen Strukturen, um schlimme Umweltsünden abzuwenden.

Von Markus Metz und Georg Seeßlen | 22.11.2015
    Menschenkette gegen Braunkohle: Umweltaktivsten protestieren Hand in Hand gegen neue Braunkohletagebau und für die Energiewende
    Mit Divestment versuchen Umweltaktivisten den Klima- und Umweltschutz voranzutreiben. (dpa / picture alliance / Andreas Franke)
    Der überwiegende Anteil der fossilen Brennstoffe, über die Kohle-, Öl- und Gasfirmen verfügen, soll im Boden bleiben, um eine Klimaerwärmung von vier bis sechs Grad mit ihren katastrophalen Folgen zu verhindern. Das so frei werdende Kapital soll möglichst in die Entwicklung alternativer Energiegewinnung und in Energieersparnis fließen. Die Erfolge der sowohl ökonomisch als auch politisch agierenden Divestment-Kampagne können sich sehen lassen: Städte und Universitäten in den USA und Europa haben ihr Investment in fossile Energien zurückgezogen; der norwegische Pensionsfonds, der größte Staatsfonds der Welt, zieht sein Geld aus Kohlefirmen ab. Auch einfache Sparer und Kleinanleger können zum Divestment beitragen, indem sie zu ökologisch und ethisch orientierten Banken wechseln oder ihre Fondsanteile kritisch prüfen.

    Das Manuskript in voller Länge:
    Eine Fortführung der besinnungslosen Wachstumspolitik ist ein todsicherer Weg in eine Art von Weltuntergang, aber ein abrupter Wechsel wäre auch nicht ungefährlich, wie der britische Ökonom Nicholas Stern zu bedenken gibt:
    Unsere Wirtschaft wird gern mit einem Motor verglichen. Einmal läuft er auf vollen Touren, das andere Mal gerät er ins Stottern, um, hoffentlich, dann wieder volle Fahrt aufzunehmen. Motoren verbrauchen Rohstoffe, in aller Regel fossile Brennstoffe wie Kohle, Gas und vor allem Öl, sie erzeugen Energie, die man zur Fortbewegung braucht, oder zur Produktion von Waren, und sie blasen Abgase in die Luft. Schädliche Abgase. Es gibt nur noch wenige Menschen auf dieser Welt, die die Augen schließen können vor den Folgen dieser Entwicklung, die uns seit der ersten industriellen Revolution begleitet. Diese sogenannten Treibhausgase, das CO2 vor allem, verhindern den Abfluss der Sonnenwärme von der Erde und führen zu einer globalen Erwärmung. Die Vorboten einer kommenden Klimakatastrophe sind nicht zu übersehen. Verheerende Stürme auf der einen Seite, anhaltende Dürreperioden auf der anderen; das Abschmelzen von Gletschern und Eisbergen, steigende Meeresspiegel, Verlust von Anbauflächen gerade in den ärmsten Ländern.
    Manche Klimafolgen nicht mehr abwendbar
    Damit sind auch die sozialen, politischen und sogar militärischen Folgen deutlich: Hungerkatastrophen und neue Migrationsbewegungen, Verteilungskämpfe, Bürgerkriege, humanitäre Katastrophen. Was da geschehen wird, lässt sich ganz gewiss nicht mit ein paar neuen Deichmauern, mit Klimaanlagen oder Wechsel des landwirtschaftlichen Anbaus bewältigen. Und schon gar nicht damit, dass sich die wohlhabenden und weniger betroffenen Staaten gegen den Rest der Welt abschotten. Etliche Folgen des Klimawechsels sind nicht mehr abzuwenden, selbst dann, wenn die kühnsten Träume der Umweltbewegungen und Klimaschützer in Erfüllung gehen sollten und die mit schöner Regelmäßigkeit mit enttäuschenden Ergebnissen zu Ende gehenden Weltklimagipfel einmal wirkliche und umfassende Fortschritte aufweisen könnten. Andere, noch schwerwiegendere Folgen könnten nur abgewendet werden, wenn ein radikaler Bruch mit dem Business as usual vollzogen würde.
    Das alles ist hinreichend bekannt, vielfach belegt und schließlich durchaus sinnlich erfahrbar. Warum zum Teufel also, könnte einst ein Kind fragen, haben die Menschen zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht anders reagiert, als endlos zu palavern und am Ende doch wieder, wenn überhaupt etwas, viel zu wenig und viel zu spät zu tun? War ihnen denn etwa ein kurzfristiger ökonomischer Vorteil wichtiger als der Erhalt ihres Heimatplaneten?
    Die Gründe dafür sind vielfältig, und gerne wird die Schuld von einem zum anderen geschoben. Wir haben es zum einen mit einem fundamental ungleich verteilten Reichtum zu tun. Maßnahmen zum Eindämmen des wirtschaftlichen Wachstums als Ursache der Treibhausgase würden Kontinente, Regionen, Schichten und einzelne Menschen sehr unterschiedlich treffen. Eine Fortführung der besinnungslosen Wachstumspolitik ist ein todsicherer Weg in eine Art von Weltuntergang, aber ein abrupter Wechsel wäre auch nicht ungefährlich, wie der britische Ökonom Nicholas Stern zu bedenken gibt:
    "Ein Ignorieren des Klimawandels würde zu einer für Entwicklung und Armutsreduzierung immer feindlicheren Umwelt führen, aber der Versuch, den Klimawandel anzugehen, indem man Wachstum und Entwicklung Fesseln anlegt, würde die für einen Erfolg so wichtige Zusammenarbeit zwischen Industrie- und Entwicklungsländern beschädigen, wahrscheinlich sogar irreparabel."
    Ob alle Klimaorganisationen und Umweltaktivisten diesen Satz zum gegenwärtigen Fünf-vor-zwölf-Zustand so unterschreiben würden, sei einmal dahin gestellt. Aber es scheint klar, dass Instrumente gefunden werden müssen, die nicht einfach durch Zwang der hegemonialen Kräfte und durch neue Ungerechtigkeit wirken. Eines der erfolgversprechenderen Mittel, den verhängnisvollen Kreislauf von Wachstumszwang und Klimaschädigung zu unterbrechen scheint die Strategie des Divestment zu sein.
    Eine Idee, die sich aus begrenzten politischen Kampagnen in den 1980er-Jahren entwickelte, entfaltet sich zu einer weltweiten vernetzten Strategie von Umwelt- und Klimaschutzgruppen. Dahinter steckt eine einfache Überlegung: Wenn man die schlimmsten Folgen für das Klima durch die Verwendung fossiler Brennstoffe noch abwenden will, kann man weder darauf warten, dass die Wachstumsökonomie zusammenbricht, noch darauf, dass die Mächtigen in Politik und Wirtschaft in naher Zukunft fundamental umdenken. So bleibt nur, den Kapitalismus durch seine eigenen Mittel von seinen schlimmsten Umweltsünden abzuhalten, durch das Divestment.
    Divestment statt Desinvestition
    Divestment - das international gebräuchliche Wort hat sich gegen das deutsche "Desinvestition" durchgesetzt - ist zunächst ein in der Betriebswirtschaft gebräuchliches Unterfangen, bereits investiertes Kapital zurückzuholen: Entweder weil sich zeigt, dass sich die Investition nicht lohnen wird, weil sie zu hohe Risiken birgt, oder weil man das Kapital an anderer Stelle dringender benötigt. Eine solche Desinvestition kann die Leitung eines Unternehmens beschließen, aber auch auf Druck der Shareholder zustande kommen. Und schließlich gibt es auch den Druck von außen: Wenn bestimmte Investitionen der Allgemeinheit schaden - etwa der Gesundheit wie es bei den Divestment-Kampagnen gegen die Tabakindustrie der Fall war. Oder wenn sie Geschäfte mit Terrorregimes und korrupten Regierungen betreffen. Doch erst die Kampagnen, die vor allem dem Natur- und Umweltschutz dienen, haben die Divestment-Bewegungen zu einem global agierenden Netzwerk gemacht. Zu einer solchen Vernetzung zählte auch die internationale Divestment-Konferenz Anfang September im Vorfeld des Pariser Klimagipfels.
    "Zusammen mit 350.org und der Grüne/EFA-Fraktion im Europäischen Parlament organisieren die Europäischen Grünen eine internationale Konferenz in Paris zum Thema Divestment aus fossiler Energie, um dieses wichtige Thema ein Stück höher auf die öffentliche Agenda zu bringen, für die Risiken der sogenannten Kohlenstoffblase zu sensibilisieren und die Möglichkeiten zur Stärkung eines nachhaltigen Finanzsystems aufzuzeigen. Mit Gästen aus den USA, Europa und aus dem globalen Süden diskutieren wir, wie wir Investitionen aus dem fossilen Sektor abziehen und die Finanzierung klimafreundlicher Projekte stärken können."
    Sensibilisierung für Risiken der Kohlenstoffblase
    Unter Kohlenstoffblase versteht man die Menge aller kohlenstoffhaltigen Energieträger in der Erde. Diese Vorkommen haben einen bestimmten ökonomischen Wert; sie sind abgebildet in den Bilanzen der Unternehmen, denen die Vorkommen gehören. In der Annahme, dass alles aus der Erde geholt und an den Markt gebracht werden kann, sind die Vorkommen sehr hoch bewertet worden. Wenn die Vorkommen größtenteils im Boden bleiben müssen, um die Erderwärmung zu begrenzen, ist ihr Wert deutlich geschmälert. Die Blase platzt, die Aktienwerte der Unternehmen sinken.
    Divestment-Kampagnen können funktionieren, weil sie die gegebenen Strukturen unseres Wirtschaftssystems nutzen, ohne es zunächst selbst infrage zu stellen. Und sie können funktionieren, wo es eine kritische Öffentlichkeit gibt, die sie unterstützt. Eine Öffentlichkeit, in der das urkapitalistische Instrument der Investition einer politischen und moralischen Untersuchung unterzogen wird. Aber der Reihe nach.
    Investment - deutsch: Investition oder vielleicht noch deutscher: Kapitalanlage - bedeutet eine Verwendung von privaten, gesellschaftlichen oder staatlichen Geldmitteln zu dem Zweck, das Vermögen durch Erträge zu mehren bzw. die Gewinne innerhalb eines Unternehmens zu steigern. Investieren kann man in Wertpapiere wie Aktien, in Geschäftsanteile, in Immobilien, aber ebenso in Produktionsmittel, Fahrzeuge, Werbung, in neue Ideen oder in alte Marken und sogar in Waschräume für Gäste und Angestellte, Kunstwerke an Bürowänden oder die Uniform der Security Angestellten. Investieren bedeutet einerseits die Verwandlung von Geld in Sachkapital, andererseits die Verwandlung von Geld in Gewinnerwartung. Wer investiert, will das Geld, das er ausgegeben hat, kurzfristig oder langfristig wieder zurückbekommen, zugleich aber auch mehr davon. Möglichst viel mehr davon.
    Investieren kann helfe und schaden
    Investieren heißt an die Zukunft glauben. Aber nicht unbedingt an die Zukunft der Menschen, sondern an die Zukunft des Kapitals. Daher kann Investment eben auch bedeuten: Tropische Regenwälder abzuholzen und die darin lebenden Menschen zu vertreiben; die Menschen in zerstörten Staaten statt mit Nahrung mit Waffen zu versorgen, Automobile mit unverantwortlich hohem Abgasaufkommen zu produzieren, Menschen aus ihren angestammten Wohnungen zu vertreiben. Investieren kann helfen, investieren kann aber auch großen Schaden anrichten. Deshalb wäre es notwendig, dass sich Staaten und Gesellschaften Regeln und Richtlinien für das gute Investieren geben würden. Es kann nicht alles gut sein, nur weil es Kapital verzinst.
    Eine Regierung, die eines Staates, die einer Region oder eines Dorfes, will das Vermögen der Regierten, das Vermögen der Bevölkerung im eigenen Wirtschaftsraum, ein bisschen natürlich auch das eigene Vermögen vermehren. Deshalb unterstützt jede demokratisch-kapitalistische Regierung das Investieren nach Kräften und investiert ihrerseits das Geld, das ihr aus Steuereinnahmen zur Verfügung steht. Das scheint erst einmal sinnvoll und nützlich. Doch weil das Investieren insbesondere im andauernden und verschärften Wettbewerb der Wirtschaftsräume auch zum Selbstzweck wird, vergessen immer mehr politische und ökonomische Institutionen dabei, nach dem zu fragen, was jenseits der Gewinnerwartung liegt. Der Wert für die Umwelt, die Gemeinschaft, der Wert für Gerechtigkeit und Lebensqualität aller.
    Investitionen zeigen heute vermehrt schädliche Wirkungen
    Kurz gesagt: Das Investment stand nie im Ruf, ausschließlich menschenfreundlichen, gerechten und friedlichen Zwecken zu dienen, aber die Macht des Kapitals über Mensch und Natur und sein Drang nach Vermehrung waren auch noch nie so groß wie heute. In einem deregulierten, privatisierten und globalisierten Markt in einer ökologisch und sozial mehr denn je gefährdeten Welt laufen Investitionen Gefahr, immer mehr zerstörerische, manipulative und ökologisch schädliche Wirkungen zu zeigen.
    Was man investieren kann, hängt davon ab, wie viel man zur Verfügung hat. Natürlich ist das Investment hauptsächlich für Leute interessant, die viel oder sogar zu viel Geld zur Verfügung haben. Aber direkt oder doch eher indirekt sind wir nahezu alle an Investment-Vorgängen beteiligt. Die Pensionsfonds und die Lebensversicherungen, die Sparpläne der Bank unseres, naja, Vertrauens und vieles andere im privaten Bereich. Die Investments unserer Arbeitgeber oder auch der Partner im Geschäftsleben, der öffentlichen Betriebe, der Stadtverwaltungen, des Staates. Investment ist das Schmiermittel unseres Wirtschaftssystems. Um sich dem System dieses ständigen Zirkulierens vollständig zu entziehen, müsste man sich wohl schon als Einsiedler auf eine isolierte Insel zurückziehen.
    Betriebswirtschaftlich kann Investment bedeuten, sich im harten Konkurrenzkampf zu behaupten oder dabei unterzugehen. Volkswirtschaftlich gesehen bedeutet es, möglichst viel Investment auf einen Wirtschaftsraum zu ziehen. Im globalen ökonomischen Zusammenhang kann das Investment nur durch eine Sache gerechtfertigt werden:
    "Wachstum. Wachstum. Wachstum."
    Ständiges Wachstum ist ein Widerspruch in sich
    Dass das Wachstum der Wirtschaft, also Produktion und Verbrauch von Gütern und Dienstleistungen, an natürliche Grenzen stoßen muss, ahnen wir seit einem halben Jahrhundert. Seit einem Vierteljahrhundert ist es auch für den überzeugtesten Wirtschaftsliberalen nicht zu übersehen, dass ständiges Wachstum in einer endlichen Welt ein Widerspruch ist. Und allerspätestens mit dem Eintritt ins neue Jahrtausend sind die Folgen überall sichtbar: Raubbau an natürlichen Rohstoffen, Ausbeutung von menschlicher Arbeitskraft, soziales Ungleichgewicht. Die Klimakatastrophe ebenso wie der soziale Weltbürgerkrieg als direkte Auswirkungen ungebremsten Wirtschaftswachstums um jeden Preis sind keine Gefahren für die Zukunft mehr. Wir leben mittendrin.
    Weiter wie bisher investieren?
    Was tun? Es sind vier Wege, die sich abzeichnen:
    Erstens: die harte Tour. Augen zu, einfach weitermachen wie bisher. Geld in Kapital verwandeln, Kapital in Investment, und das Investment immer weiter in Wachstum verwandeln. Das heißt, in den Reichtum von immer weniger Menschen, die immer mehr Kapital immer schneller investieren müssen, und in die Armut von immer mehr Menschen, deren Arbeitskraft nichts mehr wert ist, weil sich Investitionen dort am meisten lohnen, wo sie Menschen überflüssig machen.
    Natürlich hat auf der ganzen Welt eine privilegierte Schicht Interesse daran, nichts von Reichtum und Macht abzugeben. Aber auf der anderen Seite sind die Folgen dieses Immer-Weiter-So deutlich genug, um auch immer mehr Menschen zum Umdenken zu bringen. Würden wir so weitermachen wie bisher, sind die Folgen absehbar: Etwa eine Erderwärmung nicht um die ohnehin problematischen zwei Grad, sondern um fünf oder sechs Grad, wenn tatsächlich alle fossilen Brennstoffe noch ausgebeutet und verheizt würden.
    Investieren ganz abschaffen?
    Zweitens: die radikale Lösung. Das Investieren wird abgeschafft. Das Kapital und seine Renditen, die Wachstumsideologie mit dem rücksichtslosen Verbrauch von fossiler Energie etwa und den damit verbundenen Schadstoffemissionen werden ersetzt durch eine an Mensch und Umwelt orientierte Ökonomie, die statt Mangel auf der einen und Überfluss auf der anderen Seite einen Ausgleich schafft: Eine Ökonomie, die sich an Zeit, Glück oder Kultur mehr orientiert als an Kapital und Konsum.
    Aber diese radikale Veränderung unseres Wirtschafts- und Lebensmodells hat zu mächtige Gegner und zu wenig aktive Befürworter, als dass sie in absehbarer Zeit mehr sein könnte als eine schöne Utopie. Es hat die Menschen ein paar Hundert Jahre gekostet, den Kapitalismus zu entfalten samt Investment, Wachstum und Raubbau an der Welt. Es wird sie wohl noch einige Zeit kosten, das überholte Modell von Wirtschaft und Leben wieder loszuwerden. Nur sind einige Probleme mittlerweile so dringend, dass man gewiss nicht auf die Abschaffung oder Selbstabschaffung des Systems warten kann. Also vielleicht...
    Alternativweg grünes Wachstum ist widersprüchlich
    Drittens: die Traumlösung - grünes Wachstum. An der Idee von Wachstum, Investment und Rendite, an der Vorherrschaft des Finanzmarktes wird festgehalten, nur die Inhalte würden sich ändern. Man würde nicht mehr mit Kohlekraftwerken, sondern mit Windrädern Profite erzielen, nicht mehr mit Massentierhaltung, sondern mit Biobauernhöfen.
    Aber grünes Wachstum ist ein Widerspruch in sich; ökologische Vernunft verlangt mehr als nur einen grünen Anstrich des Immer-mehr und Immer schneller. Es reicht eine einfache Überlegung: Wenn die Wirtschaft wächst, dann muss sie auch mehr Ressourcen verbrauchen. Das schadet der Umwelt, ob es nun um Rohstoff- oder Landschaftsverbrauch geht. Bei einem grünen Wachstum würden unweigerlich Natur- und Klimaschutz in einen Wettbewerb zueinander treten. Auch Passivhäuser, Elektromobile, Ökotextilien, Photovoltaikanlagen, Bio-Nahrungsmittel, Windstromleitungen, Blockheizkraftwerke, solarthermische Heizungen, Cradle to cradle Getränkeverpackungen, Carsharing-Dienstleistungen verbrauchen Fläche, Ressourcen und Energie.
    Der sanfte Weg des Divestment
    Bliebe wohl nur, auf das Wachstum als Leitlinie des Wirtschaftens zu verzichten. Siehe zweitens. Vielleicht also hilft nur eine Politik der kleinen Schritte. Wie zum Beispiel viertens: der sanfte Weg. So könnte man die Strategie des Divestment bezeichnen. Eine Lobby-Arbeit dafür, dass insbesondere öffentliche, staatliche oder regionale Mittel als Investitionen aus jenen Bereichen zurückgezogen werden, die sich als besonders umweltschädlich, als besonders ungerecht in der Verteilung des Reichtums, als besonders ausbeuterisch oder als besonders fahrlässig im Umgang mit klimaschädlichen Stoffen erwiesen haben. Nur wenn erreicht würde, dass sich einfach nicht mehr genügend Kapitalgeber dafür finden, ließe sich die mit hohem technischen Aufwand verbundene und damit kapitalintensive Erschließung der letzten Quellen fossiler Brennstoffe verhindern und die Suche nach ökologischen Alternativen vorantreiben.
    Divestment freilich ist nicht nur ein durch sanften Druck der öffentlichen Meinung im Hintergrund betriebenes Umleiten von Kapital, sondern es ist auch mit einem Prozess von Aufklärung und Kritik verbunden. Anders als der Traum vom grünen Wachstum stellt die Strategie des Divestments auch die Frage nach dem, was das Kapitel in unserer Welt anrichten kann.
    "Divestment"
    Heißt es in der Grundsatzerklärung von Fossil Free Deutschland:
    "ist das Gegenteil einer Investition. Es bedeutet, dass man sich von Aktien, Anleihen oder Investmentfonds trennt, die unökologisch oder unter ethischen Gesichtspunkten fragwürdig sind. Investitionen in fossile Brennstoffe stellen ein Risiko für Investoren und für den Planeten dar - darum rufen wir sämtliche Institutionen dazu auf, ihr Vermögen aus diesen Unternehmen abzuziehen."
    Mit Divestment Druck auf unethische Industrien aufbauen
    Divestment als Strategie, Druck auf unethische oder moralisch fragwürdige Industrien aufzubauen, hat durchaus Tradition. Vor allem im angloamerikanischen Kapitalismus, wo öffentliche Aufgaben wie der Bildungssektor auf Stiftungsgelder und Privatsponsoren angewiesen sind. Schon in den 1980er-Jahren forderten amerikanische Studenten ihre Universitäten auf, Geld aus Unternehmen abzuziehen, die das südafrikanische Apartheid-Regime unterstützten. Staaten schlossen sich der Kampagne an, die südafrikanische Währung verlor an Wert, das Regime geriet in Bedrängnis. Teil des Erfolges dieser Kampagne war auch die öffentliche Aufmerksamkeit. Man hat also gewissermaßen den Bullen an den Hörnern gepackt und klar zu verstehen gegeben.
    Deutsche Protestler rufen zum Boykott gegen Südafrika auf. Eine erste Form der Divestment-Bewegung
    Deutsche Protestler rufen zum Boykott gegen Südafrika auf. Eine erste Form der Divestment-Bewegung (dpa/picture alliance/Klaus Rose)
    Kapitalanlagen sind nie nur rein wirtschaftliche Entscheidungen, sie stehen immer auch in einem politischen und einem moralischen Kontext. Seitdem hat sich das Divestment langsam, aber sicher als strategisches Instrument gegen rücksichtslose Verbindungen von politischen und wirtschaftlichen Interessen verbreitet. Ein Brennpunkt der Divestment-Kampagnen in den letzten Jahren ist die klimaschädliche Förderung fossiler Brennstoffe wie Kohle und Öl:
    "What is a university for?"
    Steht im Mai 2015 auf einem Transparent im Gebäude der Finanzverwaltung der University of Edinburgh. Eine Gruppe von Studenten hat das Gebäude besetzt. Zur Unterstützung finden Kundgebungen, Demos und nächtliche "Divestivals" statt. Die Studenten verleihen damit ihrem Zorn darüber Ausdruck, dass sich die Universität - wo auch zum Klimawandel gelehrt und geforscht wird - gerade dagegen entschieden hat, ihr Geld aus der Kohle-, Öl- und Gasindustrie abzuziehen. Drei Jahre lief die Divestment-Kampagne und bekam überwältigende Zustimmung von Studenten und Uni-Personal. Nach zehn Tagen Besetzung lenkt die Universität ein: Aus dem Stiftungskapital in Höhe von knapp 300 Millionen Pfund wird fortan kein Geld mehr in drei Firmen investiert, die Kohle und Ölsand fördern.
    Divestment-Bewegung in 60 Ländern
    Ebenfalls im Mai 2015 beschließt das norwegische Parlament, dass der norwegische Pensionsfonds, der 800 Milliarden Euro schwere größte Staatsfonds der Welt, nicht mehr in Unternehmen investieren darf, die einen bestimmten Anteil ihres Umsatzes auf klimaschädliche Kohle stützen. Mit 7,7 Milliarden Euro wird damit der bislang höchste Betrag de-investiert. Und im Oktober 2015 gibt Oslo bekannt, dass der städtische Pensionsfonds die rund acht Milliarden Euro, die in Öl-, Gas- und Kohleunternehmen investiert waren, zurückgezogen hat. Oslo ist somit die erste Hauptstadt der Welt, die jede Kapitalanlage in fossile Brennstoffe ausschließt. Ein besonders starkes Signal in einem Land, das immerhin selbst zu den Erdöl-Exporteuren gehört.
    Die Divestment-Bewegung ist mittlerweile in 60 Ländern vertreten. In den USA haben 40 Städte, darunter San Francisco und Seattle, angekündigt, ihr Geld aus Öl- und Kohleunternehmen abzuziehen. Die etwa 20 lokalen Fossil Free-Kampagnen in Deutschland können von Erfolgen wie in den USA oder Norwegen bislang nur träumen. Deutsche Universitäten, Städte und Kirchen orientieren sich bei der Geldanlage bisher vor allem an Kriterien von Sicherheit und Wirtschaftlichkeit. Während in Frankreich die Crédit Agricole, eine der größten Banken der Welt, im Sommer 2015 bekannt gibt, 500 Millionen Euro aus dem Kohle-Investment abzuziehen, bleiben in Deutschland, dem Land der großen Energiewende, Banken und Versicherer weiterhin im Geschäft mit der Kohle.
    Man mag es beklagen: Die Übermacht des Finanzsektors in unserer Wirtschaft hat uns alle, ob wir es wollen oder nicht, zu Mitspielern im Spiel um Börsentitel, Investment und Spekulation gemacht. Das gute alte Sparbuch hat weitgehend ausgedient, unter der heimischen Matratze wird das mühsam Ersparte nur noch sehr selten gehortet. Die Banken drängen uns Immobilien- und Aktienfonds auf, Versicherungen und Pensionsfonds sind abhängig von der mehr oder weniger cleveren Strategie ihrer Investmentspezialisten. Man kann sagen: Wir sind Geiseln in den Händen von Konzernen und Banken.
    Man muss sich Gestaltungsmacht bewusst werden
    Man kann aber auch genau das Gegenteil sagen: Wir halten einen gar nicht mal so kleinen Teil der Gestaltungsmacht in Händen. Man muss sich dieser Macht nur bewusst werden und sie für einen guten Zweck einsetzen. Merkwürdigerweise beziehen umweltbewusste Bürger ganz selbstverständlich Ökostrom, tragen aber ebenso selbstverständlich ihr Geld zu Banken, die dieses in fossile Energien investieren. Dabei gibt es längst Banken, die die Gelder ökologisch und ethisch korrekt anlegen. Und jeder, der eine betriebliche Altersversorgung oder eine Lebensversicherung hat, kann versuchen, Einfluss darauf zu nehmen, wie diese angelegt werden.
    Die Strategie des Divestment verbindet Umweltorganisationen, Klimaforscher und ganz normale Bürger. Sie alle können sich bei ihren Versuchen, Banken und Stiftungen, Universitäten und Städte, Pensionsfonds und Versicherungen dazu zu bringen, das Investment aus ökologisch bedenklichen Unternehmungen zurückzuziehen, auf eine Resolution der Vereinten Nationen berufen, die 1988 "den Schutz des globalen Klimas für die heutige und die künftige Menschheit" als vorrangiges Ziel festlegte. Geschehen ist bis heute, knapp 30 Jahre und 20 Klimakonferenzen später, noch viel zu wenig. Und die Beharrungskräfte sind groß. So lange jene Unternehmen und Projekte, die für die Förderung der fossilen Brennstoffe und den Klimakiller Kohlenstoff verantwortlich sind, als attraktiv für die Kapitalanlage erscheinen, so lange bleiben die Resolutionen, ja sogar nationale Regierungspolitik wie die Energiewende in Deutschland in ihrer Wirkung höchst begrenzt. Divestment bedeutet in diesem Zusammenhang also nicht nur, dass ein Kapitalanleger wie eine Universität oder eine Stadt dazu gebracht wird, das Geld klimaneutral und ethisch zu investieren, sondern es bedeutet am Ende auch, dass die größten Klimafrevler für das Kapital unattraktiver gemacht werden.
    Divestment funktioniert stets auf drei Ebenen. Die erste Ebene ist die direkte ökonomische. Man versucht, ein System, das sich zunehmend als rücksichtslos und zerstörerisch erweist, sozusagen mit den eigenen Mitteln dazu zu bringen, Vernunft anzunehmen. Angesichts des milliardenschweren fossilen Energiesektors gleichen die bisherigen Divestment-Erfolge noch ökonomischen Nadelstichen. Je schwerer es dem fossilen Energiesektor allerdings fällt, neue Interessenten für de-investierte Unternehmensanteile zu finden, desto größer wird die ökonomische Wirkung der Divestment Strategie.
    Die zweite ist die politische Ebene. Es bilden sich neue vielleicht auch unerwartete Allianzen, die ein sehr altes demokratisches Instrument wiederbeleben, das Budget-Recht, mit dem gewählte Volksvertreter und -vertreterinnen über Einnahmen und Ausgaben bestimmen. Bei jeder öffentlichen Investition in einer Demokratie gibt es eine Instanz und einen Prozess, bei dem wir alle direkt oder indirekt beteiligt sind. Divestment kann nicht nur zum Wahlkampfthema werden, sondern auch über Petitionen oder über Nachfragen bei den Abgeordneten und entsprechende Forderungen realisiert werden. So ist Divestment nicht nur Ausdruck einer ökologischen Vernunft, sondern auch einer gelebten und aktiven Demokratie.
    Die dritte ist eine symbolische Ebene. Jeder Erfolg einer Divestment Kampagne ist auch ein Signal, das die Macht der Fossil-Industrie untergräbt. Und mit jeder gelungenen Divestment-Aktion fällt es der nächsten UN-Klimakonferenz schwerer zu erklären, warum so wenig Fortschritte beim Eindämmen der Förderung und des Verbrauchs von fossiler Energie verzeichnet werden. Jede gelungene Divestment-Kampagne bringt das Thema von verantwortungsvollem Umgang mit den Rohstoffen und Energien wieder in die Öffentlichkeit. Und unter öffentlichem Druck verändern sich gesellschaftliche Normen. Beim Gipfeltreffen am Fuß der Zugspitze haben die Regierungschefs der G7-Staaten erklärt, die Weltwirtschaft bis zum Ende des Jahrhunderts zu dekarbonisieren, vom Kohlenstoff als Energieträger zu befreien.
    Ist Divestment ein Hebel, um den Klimawandel doch noch auf das Zwei Grad Limit zu begrenzen? Weist es den Weg zu einem ethisch und ökologisch vertretbaren Kapitalismus? Oder bleibt es doch bei einem dieser vielen Kämpfe des ökologischen David gegen den ökonomischen Goliath, bei dem nach einigen triumphalen symbolischen Siegen doch immer das Imperium siegt. Denn tatsächlich hat die Ausbeutung von Rohstoffen und Arbeitskräften, die Manipulation von Märkten und Konsumwellen und die Steuerung der öffentlichen Meinung durch Unterhaltungsmedien und Werbung ein Maß angenommen, das von Kritikern als imperiales Denken der Kapitalinteressen gegenüber der Natur und gegenüber den Menschen bezeichnet wird. Divestment sollte also begriffen werden als das, was es ist: ein Anfang.
    Den mutmachenden Siegen von Divestment-Kampagnen stehen natürlich etliche Niederlagen gegen die Kapitalinteressen und gegen eine starke Lobby der Energiewirtschaft gegenüber. Was auf dem Gebiet von Klimawandel und Umweltschutz auf breitere öffentliche Zustimmung stößt, bleibt bei anderen Themen des ethischen Investierens weniger beachtet, nicht zuletzt was etwa den Waffenhandel oder die Ausbeutung und Entrechtung von Menschen im globalen Süden anbelangt. Vor allem aber ist das Grundproblem des Investierens, der damit verbundene Zwang zum Wachstum, noch nicht gelöst.
    Divestment muss nicht nur die Frage nach dem richtigen Investieren stellen, sondern auch die nach dem Prinzip von Kapitalanlagen, die nur dann funktionieren, wenn die Wirtschaft weiter wächst. Das Wachstum dieser Wirtschaft selbst ist die Gefahr. Daher folgt notwendigerweise auf die Strategie des Divestment die des Degrowth: Die Suche nach Wirtschafts- und Lebensformen, die nicht auf dem Prinzip von Wachstum um jeden Preis aufgebaut sind. Das aber ist schon das nächste Kapitel einer langen Geschichte mit dem Titel: Wie retten wir die Welt und die Menschheit vor dem Kapitalismus, ohne Krieg, ohne Bürgerkrieg, ohne Blutvergießen und Chaos. Nur durch Intelligenz und Solidarität. Wir werden sehen.