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Anja Kampmann: "Wie hoch die Wasser steigen"
Tiefenbohrungen in der eigenen Sehnsucht

Umsichtig und virtuos erzählt Anja Kampmann in ihrem Debütroman "Wie hoch die Wasser steigen" von verrohten Ölarbeitern auf den Offshore-Plattformen dieser Weltmeere. Ihr Protagonist Waclaw sucht auf einer ziellosen Irrfahrt nach seiner eigenen Vergangenheit, Identität und Heimat.

Von Miriam Zeh | 06.02.2018
    Buchcover Anja Kampmann: "Wie hoch die Wasser steigen" und Foto der Autorin
    Buchcover Anja Kampmann: "Wie hoch die Wasser steigen" und Foto der Autorin (Hanser Verlag / Deutschlandradio)
    Sie heißen Ocean Monarch, Northern Dancer und Deepwater Horizon. Ihre Namen klingen nach Freiheit, Würde und Ruhm. Dabei herrscht auf den Ölbohrplattformen der Weltmeere ein unbarmherziger Ton. Fernab der Zivilisation sind Tierquälereien, Schikane und Vergewaltigungen an der Tagungsordnung. Zusammengepfercht auf dem Offshorebauwerk mitten im Meer gibt es für die Ölarbeiter kein Entkommen vor dem kräftezehrenden Alltag, auch nicht nach Feierabend. Fett werden die Arbeiter, blass, erschöpft und einsam.
    Anja Kampmann betritt in ihrem Romandebüt "Wie hoch die Wasser steigen" diese raue Arbeiter- und Männergesellschaften. Ihren Protagonisten Waclaw lockten einst das Geld auf die Offshore-Plattformen und die Sehnsucht nach fernen Ländern, nach Reisen und Abenteuern. Das sind Hoffnungen, an die sich Waclaw nach zwölf Jahren Wanderarbeit nur noch stumpf und zynisch erinnert. Alle Verbindungen zu Menschen auf dem Festland hat er längst gekappt. Eine Beziehung lässt sich in den kurzen Verschnaufpausen zwischen zwei Ölbohrplattformen nicht aufrechterhalten. Der Wunsch nach Heimat und Familie liegt begraben unter der schweren physischen Arbeit, die Waclaws Körper an die Grenzen seiner Belastbarkeit führt.
    Sechs beinahe glückliche Jahre zwischen Arbeit und Exzess
    Waclaws einziger Freund ist Mátyás, ebenfalls Ölbohrarbeiter, nur noch nicht so verbraucht wie Waclaw. So oft es möglich ist, versuchen Waclaw und Mátyás auf derselben Bohrinsel eingesetzt zu werden. Sie teilen sich eine Kabine, sie teilen sich, während der Festlandurlaube, Betten und Wohnungen. Sechs beinahe glückliche Jahre verbringen Waclaw und Mátyás entweder mit Arbeit bis an den Rand der Erschöpfung oder mit Drogen, Reisen und Glücksspiel, bei dem sie all das Geld wieder ausgeben, das unter so großem Opfer verdient wurde. So beschreibt Kampmann:
    "Dieser Alltag ist auch einer, in dem in die ganze Vergangenheit und Herkunft überhaupt keinen Platz hat und auch nicht haben braucht, weil es einfach keine Rolle spielt. Diese Vergangenheit bekommt eigentlich erst wieder einen Platz – und das sehr unfreiwillig, als dieses ganze Konzept, dieses immer weiter Arbeitens und Spielens, zusammenfällt – und zwar in diesem Moment, in dem Mátyás bei einem Unfall verschwindet.
    Nach einer stürmischen Nacht ist von Mátyás keine Spur mehr auf der Bohrinsel zu finden. Wortlos nehmen die Arbeiterkollegen seinen Tod zur Kenntnis. Unfälle gibt es ständig. Der einzelne Arbeiter scheint keiner Suchaktion wert. Waclaw jedoch wirft der Verlust seiner einzig verbliebenen Bezugsperson aus dem stumpfen Trott von Arbeit und Exzess. Entsetzt über die Gleichgültigkeit seines Arbeitgebers irrt Waclaw ziellos durch Länder und Kontinente. Unfähig jemals wieder auf eine Bohrinsel zurückzukehren, sucht Waclaw nach dem Leben, das Mátyás und er für ihre Arbeit auf der Bohrinsel zurückgelassen haben. Als erinnere er sich auf einmal wieder, dass da etwas war. Etwas, das er in all den Jahren auf See langsam verdrängt und beinahe vergessen hatte. So heißt es im Roman:
    "Es kam ihm unwirklich vor, alles, die gesamten letzten Jahre. Als wäre er schon weit weg von all dem. Oder als verschränkte sich diese Zeit mit Mátyás irgendwo tief in ihm mit einem anderen Verschwinden, für das ihm seit Jahren keine Sprache geblieben war. Es war ein Pochen, dumpf und weit weg, als würde er an einer Staumauer lehnen und hörte auf der anderen Seite die heftigen Bewegungen von ein paar Steinen am Grund. Wie ein Hohlraum, der ihm nie aufgefallen war."
    Figuren im Ruin ihrer Träume
    Auf seiner Reise durchstreift Waclaw zuerst Mátyás Vergangenheit in Ungarn. Seltsam fremd kommt ihm der Freund auf einmal vor, trotz der vielen gemeinsam verbrachten Jahre. Danach bereist Waclaw seine eigene Herkunft, besucht alte Geliebte und Freunde. Seine Fahrt wird eine Suche nach Identität und nach einem Ort, den man zu Hause nennt.
    Kunstvoll legt Anja Kampmann bei ihren Hauptfiguren eine Facette nach der anderen frei. Ihre spürbar an der Lyrik geschulte, distanzierte Erzählstimme folgt dabei Waclaws Gedanken, Bildern und Erinnerungen ohne ordnend in den Romanverlauf einzugreifen. Das ist nicht nur poetisch raffiniert, sondern auch eindringlich ohne übergriffig zu werden. So weiß Kampmann sensibel von Figuren an den äußersten Rändern Europas zu erzählen, von Menschen am Ende der Hoffnung und im Ruin ihrer Träume. Sie selbst beschreibt sich als aufmerksame und zugleich souveräne Erzählerin:
    "Ich hab versucht mich als Autorin sehr weit hinter das Geschehen zu stellen. Gleichzeitig hab ich aber einen Erzähler geschaffen, der Zeitebenen miteinander verknüpfen kann, Erinnerungen und Bilder und hab versucht in dieser rauen Ölborwelt eine Erzählinstanz zu schaffen, die für die Sprache einen großen Raum lässt, und wo auch Rhythmus und die ganze Ordnung nicht dem rauen Klientel unterworfen ist, von dem ich erzähle. Also ich nehme das sehr ernst diese Arbeiter auf den Plattformen und diese körperlich anstrengende Arbeitswelt da draußen. Aber mir war es wichtig für dieses Erzählen einen Ton zu finden, der sich dem nicht anbiedert, sondern eine eigene Qualität hat."
    Arbeiter suchten Kohle, jetzt suchen sie Öl
    Waclaws Reise führt schließlich ins Ruhrgebiet, in die ehemaligen Arbeitersiedlungen von Bottrop. Hier ist Waclaw aufgewachsen. Sein Vater kam in den 50er Jahren als Gastarbeiter aus Polen, um sich in der Zeche Rheinbaben ans Ende seiner Kräfte zu schuften. Eine Zukunft hat Waclaw in diesen engen, prekären Verhältnissen nie gesehen. Bei seiner Rückkehr findet er Bottrop erloschen und trostlos. Die Suche nach Öl hat die Suche nach Kohle abgelöst und die Arbeiterschaft ist weitergezogen, vom Ruhrgebiet auf die Weltmeere. Anja Kampmann gelingt es, anhand ihrer Hauptfigur von diesem Umbruch zu erzählen. Stets vermeidet sie dabei, das Figurenschicksal künstlich mit Diskursen zu überfrachten. So beschreibt sie selbst:
    "Ich hab tatsächlich viel über diese Arbeitermilieus gelesen und diese physische Arbeit, die so unsichtbar geworden ist, ernst zu nehmen, war sicherlich ein großes Anliegen. Und gleichzeitig kommt man, wenn man darüber erzählt, einfach in die Situation, dass es eine Figur ist, die einfach in dieser Welt ist und die da ihre eigenen Probleme hat. Es wäre nichts fiktiver als ein Ölbohrarbeiter, der den ganzen Tag über die Arbeitswelt des Ölbohrens sinniert, sondern der hat dann eher andere Sorgen."
    Anja Kampmann zeigt in ihrem Romandebüt "Wie hoch die Wasser steigen", dass Fragen nach Identität und Herkunft ein grundmenschliches Bedürfnis sind, kein Privileg. Natürlich schreibt sie damit auch einen politischen Roman, einen politischen Roman jedoch mit erholsam wenig Erklärungen. Soziokulturelle Deutungsmuster lässt die Autorin ihren gebildeten Lesern als leises Hintergrundrauschen, während sie sich im Erzählen souverän auf den Eigenwert der Literatur und die Wirkmacht ihrer Sprache verlässt. Virtuos, umsichtig und intelligent erzählt Anja Kampmann uns von der Welt da draußen. Sie zeigt uns, dass nur verstehen kann, wer einen Schritt zurücktritt und sehr genau beobachtet.
    Anja Kampmann: "Wie hoch die Wasser steigen"
    Hanser Verlag, 352 Seiten, 23 Euro