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Im Gesicht lesen wie in einem Buch

Zum hundertsten Geburtstag der Fotografin Gisèle Freund hat die Journalistin Bettina de Cosnac eine umfangreiche Biografie der Künstlerin geschrieben. Wer sich ein Eindruck von künstlerischen Schaffen Freunds machen möchte, sei hingegen das Buch "Photografien und Erinnerungen" empfohlen, dass neben Fotografien auch autobiografische Texte der Künstlerin veröffentlicht.

Von Imogen Reisner | 19.12.2008
    "Am Tage, wo ich nicht mehr neugierig bin, da kann man mich begraben, da ist nichts mehr los mit mir. Solange man nicht an Neues denken kann, solange man nicht Interesse hat für neue Sachen in der Kunst und in der Literatur und in allem, was man noch schön finden kann, da ist es ja nicht mehr wert zu leben."

    Als sie dieses Bekenntnis ablegt, ist die große Fotografin und promovierte Soziologin Gisèle Freund schon 77 Jahre alt. Eine lange, unerschöpfliche Zeitspanne war das Leben für sie lebenswert, beinahe ein ganzes Jahrhundert.

    Geboren am 19. Dezember 1908 in Berlin-Schöneberg, begraben im März 2000 in ihrer Wahlheimat Paris im Alter von 91 Jahren. Und Gisèle Freund, geborene Sophia Gisela Freund, blieb neugierig bis zum Letzten. Sie schöpfte aus dem vielfarbigen Stoff des Lebens wie aus einem nie versiegenden Füllhorn auf die ihr eigene unverwechselbare Art: mutig, neugierig, eigensinnig, ungeduldig, temperamentvoll und sehr direkt. Authentizität war eines ihrer zentralen Persönlichkeitsmerkmale wie auch der grundlegende Maßstab ihrer Arbeit als Fotografin.

    "Gisèle Freund war umwerfend, was anderes kann ich nicht sagen: Eine kleine, immer noch attraktive Frau, aber von einer Lebendigkeit, die uns Jüngere fast überrollt hat, eine Energie, die sich sofort übertrug, eine ansteckende Energie. Sie redete nahezu ununterbrochen, aber was sie redete, war fesselnd. Sie war eine begnadete Geschichtenerzählerin, hatte eine Art, die Dinge zu sehen, so anschaulich, so prägnant, dass man ihre Performances - würde man heute sagen - genoss, wie einen anregenden Theaterabend."

    So Klaus Honnef, Publizist, Bildexperte und Kurator ihrer ersten großen Fotoausstellung in Deutschland im Jahr 1977. Bei ihrer Begegnung ging Gisèle Freund bereits auf die Siebzig zu.

    Die Tochter aus dem jüdischen Berliner Großbürgertum mit direktem Anschluss an die Kunst forschte und arbeitete in einem Radius und in einer Intensität, wie man es bei einer Einzelgängerin - denn das war Gisèle Freund im tiefsten Innern ihres Herzen - selten findet: Auf drei Kontinenten, in vier Sprachen und im Kontakt mit den größten Künstlern, Schriftstellern und Intellektuellen des 20. Jahrhunderts.

    "Mein Vater war ein sehr großer Sammler gewesen und ein Spezialist der romantischen Kunst, was ich nicht war. Aber ich habe als Kind schon sehr viel gelernt von Kunst. Kein Sonntag ging vorbei, wo wir nicht in einem Museum gewesen sind. Und in meinem Elternhaus verkehrten viele Künstler."

    Allerdings hielten die Eltern Abitur und Studium für die höhere Tochter im Gegensatz zum drei Jahre älteren Bruder für absolut überflüssig. So musste die junge Gisela schon in ihrer Jungmädchenzeit List und Durchsetzungskraft aufbieten, um schließlich doch eine akademische Laufbahn antreten zu können. Schriftstellerin hatte sie eigentlich werden wollen. Aber die Nationalsozialisten machten ihr einen Strich durch die Rechnung.

    Am Abend des 30. Mai 1933 flieht die politisch aktive Studentin der Soziologie mit dem Nachtzug nach Paris, quasi in allerletzter Minute. Welche Unerschrockenheit schon die 24-Jährige in jener hoch prekären Situation ihrer Flucht bewies, verdeutlicht Gisèle Freunds Schilderung der Grenzkontrolle im Waggon:

    Sie kamen ins Abteil: Die Papiere! Wohin fahren Sie? - Ich bin Studentin und schreibe eine Doktorarbeit über ein französisches Thema. Ich bin nur ein Vierteljahr weg. - Machen Sie ihren Koffer auf. Aha, ein Photoapparat, aufmachen! Ich gehorchte. Sie fanden nichts in der Kamera.

    Mit mißtrauschem Blick prüften sie meinen Paß und fragten pampig: Sind Sie Jüdin? Ohne die Fassung zu verlieren, in dem schneidenden Ton, den mein Vater haben konnte, wenn er verärgert war, und mit der Selbstbeherrschung, die meine Mutter immer bewies, erwiderte ich: Ich Jüdin? Haben Sie schon einmal eine Jüdin namens Gisela gesehen?

    Heil Hitler, riefen sie, entschuldigten sich, schlugen die Hacken zusammen und waren verschwunden.


    Die Emigration nach Frankreich lenkt die beruflichen Interessen der angehenden Soziologin über den Umweg eines kleinen revolutionären Apparates, der Leica, letztlich doch wieder in die Welt der schönen Künste. Denn in Paris lernt sie die berühmte Buchhändlerin Adrienne Monnier kennen, die für sie Muse, Mutter und Mentorin wird. Monnier steht in Kontakt mit der gesamten geistigen Pariser Elite der Vorkriegszeit, der Gisèle auf diesem Wege begegnen und die sie später - größtenteils zum ersten Mal - fotografisch porträtieren wird.

    Als die Zeit der deutschen Besatzung in Frankreich anbricht, setzt Gisèle Freund ihre Laufbahn in England, Südamerika, Mexiko und in den USA fort. Sie sammelt Aufträge für Fotoreportagen, unter anderem für die Zeitschriften "Time" und "Life", später auch für die berühmte Agentur MAGNUM. Nach Paris wird die jung Vertriebene freilich immer wieder zurückkehren. Es ist ihre neue Heimat geworden. Hier, an der Sorbonne, wird Gisèle Freund auch ihre erste große Pionierleistung erbringen: Die Doktorarbeit über die Geschichte der Fotografie im 19. Jahrhundert, denn in den dreißiger Jahren gibt es selbst in der französischen Staatsbibliothek noch so gut wie keine wissenschaftlichen Erkenntnisse über das neue Medium der Fotografie.

    Zeitlebens wird die Autodidaktin eine grundlegende Entscheidung beibehalten. Sie macht:

    Reportagen, um Geld zu verdienen, und Porträts zu meinem eigenen Vergnügen.

    Dabei entwickelt sie ein untrügliches Gespür für die Zeichen der Zeit:

    Die Fotografie hat so einen kolossalen Erfolg gehabt gleich nach ihrer Entdeckung, weil sie das Porträt machte. Und es war auch die Zeit dazu da, denn bis zur Französischen Revolution, wo der Adel herrschte, gab es die Ahnengalerie. Das konnte sich aber der Bürger nicht leisten, das war viel zu teuer. Und als dann die Fotografie aufkam, da konnte er sich eine Ahnengalerie aufbauen und sich selber besitzen für wenig Geld.

    Anlässlich ihres 100. Geburtstages, heute am 19. Dezember, sind zwei Publikationen erschienen, die auf je spezifische Weise den Weg Gisèle Freunds als eigenwillige Fotopionierin würdigen. Der großformatige Bildband "Gisèle Freund, Photographien und Erinnerungen" im Verlag Schirmer/Mosel ist eine Neuauflage der 1985 erstmals erschienenen autobiografischen Monografie.

    Das Buch mit mehr als 200 Schwarz-weiß- und Farbaufnahmen aus fünf Jahrzehnten wurde von seiner Verfasserin noch selbst zusammengestellt und ist nach Auskunft des Verlages in dieser Form unverändert geblieben.

    Es versammelt einige wenige der südamerikanischen Landschaftsaufnahmen der Fotojournalistin - die im übrigen bislang noch nicht ausreichend gewürdigt sind -, Auszüge aus ihrem sozial engagierten Reportagewerk und, vor allem, einen repräsentativen Teil ihrer berühmten Künstlerporträts. Die Galerie der Geistesgrößen, denen Gisèle Freund in die Augen und nicht selten hinter die Stirn geschaut hat, reicht von Simone de Beauvoir und Walter Benjamin über Colette, Marie Bonaparte, James Joyce und Frida Kahlo bis hin zu Malraux, Evita Peron, Jean-Paul Sartre und Virginia Woolf - ein einzigartiges Bilderbuch europäischer und transatlantischer Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts.

    Begleitet werden die Porträts von aufschlussreichen Hinweisen zu Entstehungszeit und -ort sowie von Erkenntnissen zur Theorie der Fotografie. Dies ist umso wichtiger, als inzwischen sämtliche fototheoretischen Publikationen Gisèle Freunds auf dem deutschsprachigen Buchmarkt vergriffen sind.

    Nachdrücklich formuliert die Ausnahmefotografin in diesem Zusammenhang den Anspruch an die eigene Arbeit:

    Der Fotograf muss in einem Gesicht lesen wie in einem Buch. Er muss auch das entschlüsseln, was zwischen den Zeilen steht. Um ein guter Fotograf zu sein, muss man verstehen, die Formen und ihren Geist in Licht und Schatten zu übersetzen.

    Bemerkenswert in der zeitgeschichtlichen Dokumentation aus dem Schirmer/Mosel Verlag sind vor allem die Ausführungen zu den stilistischen Eigenheiten Gisèle Freunds, die zeitlebens stolz darauf war, niemals - wie sie sagt - Retusche benutzt oder stilisierte Studioaufnehmen gemacht zu haben.

    Tatsächlich war sie eine begnadete Forscherin in den Landschaften des menschlichen Gesichts; ihre große Leidenschaft galt der einzigartigen Physiognomie des Individuums. Das wahrhaft Authentische hinter der Maske zu erspähen und im Bild zu dokumentieren, war das unbescheidene Ziel ihrer gesamten Arbeit. Ihre geistige Haltung gegenüber den Porträtierten klingt dabei so schlicht wie geheimnisvoll:

    Der Fotograf soll bescheiden verschwinden hinter dem Porträt. Der Fotograf ist ein Mittel zum Zweck. Der entscheidende Augenblick, wo er auf den Knopf drückt, den kann ich auch nicht erklären, das ist eben, was in mir ist, dass ich in diesem Augenblick und nicht in einem andern die Aufnahme mache.

    Die lebensgeschichtliche Ergänzung zu dem mehr als eineinhalb Kilo schweren Fotokatalog ist die neue Biografie von Bettina de Cosnac "Gisèle Freund. Ein Leben". Die deutsch-französische Korrespondentin ist - eine kleine geografische Parallele - ebenfalls in Berlin geboren und lebt seit etlichen Jahren in Paris. Ihre Recherchen zu dem vorliegenden Porträt erstreckten sich - wie sie berichtet - über annähernd 20 Jahre und sieben Länder auf drei Kontinenten.

    Die Autorin blättert das bewegte Leben ihrer Protagonistin streng chronologisch auf und leuchtet deren Kontakte und Lebensäußerungen bis in kleinste sprachliche und biografische Details aus. Dabei greift sie in großem Umfang auf teils unveröffentliche private Korrespondenz und persönliche Gespräche mit ehemaligen Zeitgenossen Gisèle Freunds zurück, um ihrer Hauptfigur so nah wie möglich zu kommen.

    Seltsamerweise scheint gerade das nicht wirklich zu gelingen. Obgleich wir als Leser eine Unmenge an lebensgeschichtlichen Einzelheiten und amüsanten Anekdoten erfahren und ganz sicher einen gewichtigen Teil neuer Erkenntnisse gewinnen, so bleibt doch der Mensch Gisèle Freund hinter der Maske der Beredsamkeit merkwürdig fern und kühl.

    Als unbestreitbarer Mangel aber ist die Tatsache anzusehen, dass sich Bettina de Cosnac in ihrem knapp dreihundert Seiten umfassenden Porträt so gut wie gar nicht mit Freunds grundlegenden Arbeiten zur Theorie der Fotografie auseinandersetzt.

    Wirklich nahe kommt man dem eigenwilligen Naturell der Fotokünstlerin in dieser Biografie nicht. Doch wer weiß, vielleicht liegt das zum Teil an der Protagonistin selbst, die sich, wie Zeugnisse bekunden, nicht unbedingt durch Herzenswärme auszeichnete. Schließlich war sie eine Vertriebene im Exil, deren singulärer Marsch zu Ruhm und Ehren lang, steinig und streckenweise einsam war.

    Als geistig brillante Wegbereiterin freilich bleibt Gisèle Freunds Rang auf den vorderen Plätzen unangefochten. Mit ihrem lebendigen kritischen Verstand war sie weitsichtig genug, das Missbrauchspotenzial ihres Berufsstandes schon zu ihrer Zeit klar zu erkennen:

    Die größte Gefahr ist, dass die Fotografie, die doch die Reproduktion der Realität sein soll, völlig verfälscht werden kann, dass es tausend von Mitteln gibt, die Fotografien so zu zeigen, wie es der Betreffende veröffentlichen will, dass sie ein Mittel geworden ist für die, die uns beherrschen, ihre Ideen zu unterstützen. Das ist alles.

    Gisèle Freund: Photografien und Erinnerungen
    Mit autobiografischen Texten und einem Vorwort von Christian Caujolle
    Verlag Schirmer/Mosel München, 1985/2008, 224 Seiten, 49,80 Euro

    Bettina de Cosnac: Gisèle Freund. Ein Leben
    Arche Literatur Verlag Zürich/Hamburg, 2008, 297 Seiten, 24,00 Euro