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Volkstribun oder Scharlatan?

Der von Rafael Sevilla und Andreas Boekh in der verdienstvollen Reihe "Länderseminare" des Horlemann-Verlags herausgegebene Sammelband lässt Verfechter unterschiedlicher, ja sogar miteinander unvereinbarer Positionen zu Wort kommen: auch Befürworter von Hugo Chávez sind unter den Autoren. Der Schriftsteller Luis Britto legt die Weltsicht der Anhänger von Chávez, also der Verfechter der sogenannten "bolivarianischen" Revolution, dar, und Dorothea Melcher erklärt die Erdölpolitik und die Gründe für den erbitterten Kampf um die Kontrolle über die staatliche Erdölgesellschaft, in dem die Opposition einschließlich organisierter Sabotage der Erdölproduktion alle Karten ausspielte – und verlor.

Von Klaus Meschkat | 31.10.2005
    Aber tonangebend sind doch die zentralen Beiträge des Mitherausgebers Andreas Boeckh und von Hans-Jürgen Burchardt. Ihnen ist gemeinsam, dass sie durchaus Teile der komplexen Realität Venezuelas in den Blick rücken, dann aber doch zu bekannten Erklärungsmustern ihrer jeweiligen Wissenschaften Zuflucht suchen. Im Falle des Politologen Boeckh ist das der Populismus. Nun ist "Populismus" ja in Deutschland gegenwärtig zu einem Schimpfwort für politische Gegner verkommen. In Lateinamerika hat dagegen der Begriff des "Populismus" seit Perón eine andere Bedeutung gehabt. Alle ernsthaften Deutungsversuche waren darum bemüht, die Formen der Herrschaftsausübung mit einer bestimmten sozialen Basis und mit einer bestimmten Entwicklungsphase des abhängigen Kapitalismus in Verbindung zu bringen.

    In den vorliegenden Sammelbänden über Venezuela wird allerdings mit dem Wort "Populismus" meist viel anspruchsloser und recht unbefangen hantiert, oft dient es einfach der bequemen Einordnung von Phänomenen, wenn nicht einfach zur abwertenden Etikettierung des venezolanischen Präsidenten. Allenfalls werden Typisierungen versucht: für den Politikwissenschaftler Nikolaus Werz verkörpert Hugo Chávez einen "radikalen Populismus". Dann gibt es aber auch den "ausgleichenden Populismus" des Vorgängers von Chávez, Rafael Caldera, der wiederum das "populistische System des Elitenausgleichs" ablöste.

    Eins ist aber unbestritten: Zu den zentralen Merkmalen des Populismus gehört in jedem Fall die Beziehung eines populären Führers zu einer ihm ergebenen Anhängerschaft. Und da bietet das Auftreten von Hugo Chávez allerdings ein dankbares Material für Studien, die Ideologien und Herrschaftstechniken in den Mittelpunkt stellen. So untersuchen Andreas Boekh und Patricia Graf die Gedankenwelt von Hugo Chávez, dessen erklärtes Vorbild der Führer der südamerikanischen Unabhängigkeitsbewegung Simon Bolívar ist. Es wird gezeigt, dass die Berufung auf den Befreier der spanischen Kolonien zuweilen skurrile Züge trägt, dass Geschichte vereinfacht und zurechtgebogen wird und dass der Bolívar-Kult auch quasi-religiöse Komponenten besitzt. Aber sollte nicht eine anspruchsvolle Ideologiekritik mehr Mühe darauf verwenden, die Elemente von Wahrheit in Konstruktionen wie der "bolivarianischen Revolution" aufzuzeigen? Ob einem die rhetorischen Übertreibungen von Hugo Chávez nun zusagen oder missfallen: Sein gegen die Politik der USA gerichteter Antiimperialismus ist ja doch wohl mehr als eine Wahnvorstellung, die keinerlei Bezug zur lateinamerikanischen Realität hat. Wenn Boeckh Chávez vorwirft, sein anti-imperialististischer Diskurs bewege sich in der Vorstellungswelt der 70er Jahre, so darf wohl nachgefragt werden, weshalb es ausgerechnet in der Zeit eines George W. Bush obsolet geworden sein soll, von einer imperialistischen Politik der Vereinigten Staaten zu sprechen. Dabei enthalten die Beiträge von Andreas Boeckh auch scharfsinnige und zum Weiterdenken anregende Beobachtungen:

    "Es entbehrt nicht der Ironie, dass ausgerechnet in Venezuela, das am wenigsten mit neoliberalen Reformen zu tun hatte und das auf dem Globalisierungsindex weit unten rangiert, die Kritik am Neoliberalismus und an der Globalisierung im Gewand einer bolivarianisch-populistischen Rhetorik am heftigsten geäußert wird."

    Dass sich Chávez überhaupt eine Sprache leisten kann, die offene Ablehnung des US-amerikanischen neoliberalen Projekts für Lateinamerika zum Ausdruck bringt, hat einen einfachen und einleuchtenden Grund. Im Gegensatz zu allen anderen lateinamerikanischen Ländern befindet sich Venezuela wegen seines Ölreichtums in einer vergleichsweise privilegierten Lage: Es muss sich nicht den üblichen Erpressungsmanövern der USA und der von ihnen abhängigen internationalen Finanzagenturen IWF und Weltbank fügen, sondern kann im Gegenteil auf den Preis seines Exportprodukts aktiv Einfluss nehmen. Und Ali Rodriguez hat als Beauftragter von Chávez in der OPEC erfolgreich auf hohe Preise für Erdöl hingewirkt.

    Für Hans-Jürgen Burchardt bedeutet allerdings das Erdöl als Haupteinnahmequelle eher einen Fluch denn einen Segen. Er spricht von der sog. "holländischen Krankheit", und spielt damit auf die wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Niederlande infolge des Erdgasbooms der 60er Jahre an:

    "So verbuchen Länder mit einer breiten Rohstoffausstattung anfangs zwar beeindruckende Exporteinnahmen. Doch diese verführen nicht nur zu expansiven Staatsausgaben und Verschuldung, sondern erzeugen auch eine kontinuierlich überbewertete Währung, deren hoher Preis wiederum die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Binnenwirtschaft senkt."

    Burchardts Kritik an der Wirtschaftspolitik von Hugo Chávez gipfelt nun in dem Vorwurf, er habe an dieser Logik der Rentenökonomie nichts geändert, sondern sie sogar auf die Spitze getrieben. Die Restwirtschaft sei weiterhin nichts als der Appendix der Erdölwirtschaft. Dies mag so sein und wird sicher für lange Zeit so bleiben – und dennoch verwirft Burchardt selbst mit guten Gründen die neoliberale Gegenstrategie mit ihrem obligaten Sozialabbau. Und er schlägt sich auch nicht auf die Seite der nun entmachteten Manager der staatlichen Erdölgesellschaft, die dem eigenen Land seine Erdölrente entziehen und aus dem Staatsunternehmen einen ganz normalen transnationalen Konzern machen wollten – zweifellos eine denkbare Radikalkur gegen die "holländische Krankheit", allerdings auf Kosten des Patienten, der venezolanischen Gesellschaft.

    Statt dessen hat sich Chávez die Kontrolle über die aus dem Erdölexport stammenden Überschüsse gesichert und sie für groß angelegte Programme verwandt, angefangen mit der Verbesserung der Gesundheitsversorgung durch 13.000 kubanische Ärzte, die jetzt in den Elendsvierteln leben und arbeiten. Andere Programme, die in den so genannten "Missionen" am unbeweglichen Staatsapparat vorbei durchgeführt werden, beinhalten Bildungskampagnen von der Alphabetisierung bis zur Erlangung der Hochschulreife, die Bereitstellung verbilligter Grundnahrungsmittel in staatlichen Läden und die Vorbereitung bisher Beschäftigungsloser aus den Elendsvierteln auf die Gründung produktiver Genossenschaften auf dem Lande und in der Stadt. Was immer Statistiken über fortbestehende Armut aussagen mögen – die in die Programme einbezogenen Slumbewohner stellen eine spürbare Verbesserung ihrer elenden Lage fest und sind dem von Burchardt angeprangerten "Programmaktionismus" des Hugo Chávez wohl eher zugeneigt. Bemerkenswert, dass Burchardt dennoch eine wichtige positive Seite an Chávez entdeckt:

    "Das wirkliche Novum ist, dass es ihm gelungen ist, den Armen nicht nur eine Stimme, Würde, Hoffnung und ein neues Selbstwertgefühl zu geben, sondern all dies auch noch politisch zu mobilisieren... Denn Chávez widerlegt damit den sich verbreitenden Zukunftspessimismus, dass soziale Gerechtigkeit in Lateinamerika chancenlos wäre, da die Armen heute eher schweigend litten, anstatt aufzubegehren, und somit über kein für Sozialreformen nötiges Konfliktpotential mehr verfügten."

    Statt aber diese erstaunliche und in ihrer Vielfalt beeindruckende Mobilisierung der bisher Ausgeschlossenen erst einmal darzustellen und deren Protagonisten zu Wort kommen zu lassen, ist Burchardt ebenso wie die meisten Autoren beider Sammelbände schnell dabei, sie wegzuerklären, natürlich mit dem Schema des Populismus. Den Menschen, die sich für Chávez entschieden haben, weil sie einen Ausweg aus ihrem Elend suchen, wird eine eigene freie Entscheidung im Grunde abgesprochen. Dieses Schema behauptet, sie würden von oben mobilisiert, weil Chávez ein imaginäres Kollektiv beschwöre und sich aller Tricks bediene, über die populistische Führer nun einmal verfügen. Dass er dies tatsächlich tut, sei unbestritten: Es gibt die direkte Kommunikation zwischen Volk und Präsident, die Chávez in seinen mehrstündigen Fernsehauftritten jeden Sonntag zelebriert, und es ist lehrreich, die Details dieser Inszenierungen zu analysieren, wie dies Oliver Diehl in dem von ihm mitherausgegebenen Hamburger Sammelband tut, wenn er Hugo Chávez als "soziokulturelles Phänomen" entschlüsselt. Aber Diehl wehrt mit Bedacht auch eine Überinterpretation dieser Auftritte ab:

    "Die Chavistas repräsentieren mit ihren Forderungen legitime Ansprüche eines Großteils der Bevölkerung; Hugo Chávez ist letztlich nur ihr Sprachrohr."

    Vielleicht besteht ein paradoxer Zusammenhang zwischen der extremen Personenfixiertheit, die von Chávez alles erwartet, und der erstaunlichen Kraft autonomer Aktivitäten an der Basis, die sich vom Staatsapparat und auch von den staatstragenden Parteien abgrenzen: Bisher kann sich erfreulicherweise fast jeder auf Chávez berufen, der eigene Ideen hat, wenn er sich selbst "innerhalb des Prozesses" (nämlich der bolivarianischen Revolution) erklärt, es gibt zum Glück noch keine monolithische Partei, deren Apparat Abweichungen von einer imaginären Generallinie sanktionieren könnte.

    Aber Basisaktivitäten finden in beiden Sammelbänden kaum Beachtung. Ein wenig erfährt man aus einem instruktiven Beitrag von Beate Jungemann zum Hamburger Band, der die geographische und soziale Polarisierung in Caracas darstellt und dabei auf wenigen Seiten auch die Mobilisierung der Bewohner der Elendsviertel skizziert. Aber im übrigen wird die Realität des gegenwärtigen Venezuela oft von den Schemata erschlagen, die man ihr überstülpt. Wer sich für das Neuartige sozialer Prozesse interessiert, muss nach anderen Publikationen suchen.

    Klaus Meschkat besprach: Rafael Sevilla/Andreas Boeckh (Hrsg.), "Venezuela. Die bolivarianische Republik", erschienen im Horlemann Verlag. 322 Seiten für 19.90 Euro. Und Oliver Diehl/Wolfgang Muno (Hrsg.), "Venezuela unter Chávez – Aufbruch oder Niedergang?" Vervuert Verlag, 175 Seiten für 18 Euro.

    Besonders empfehlenswert zum Thema, das sei an dieser Stelle noch hinzugefügt, ist Raul Zeliks schon 2004 erschienenes Buch: "Made in Venezuela", gemeinsam verfasst mit Sabine Bitter und Helmut Weber. Es ist ein politisch-literarisches Tagebuch und ein Photo-Essay. Sieben Monate lang waren der Berliner Schriftsteller Zelik und die beiden Wiener Künstler auf Einladung der Kulturstiftung des Bundes in dem lateinamerikanischen Land und haben sich dort intensiv mit dem bolivarianischen Experiment befasst.