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Stellungnahme zum Missbrauchsgutachten
Was Joseph Ratzinger sagt – und was nicht

Im Streit um das Münchner Gutachten zu den Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche hat sich auch Joseph Ratzinger zu den Vorwürfen geäußert. Die Stellungnahme des emeritierten Papstes und die Reaktionen der Bischöfe zeigen: Das alte System lebt.

Von Christiane Florin | 09.02.2022
    Joseph Ratzinger, der emeritierte Papst Benedikt XVI, am 22.02.2014 im Vatikan
    Joseph Ratzinger, der emeritierte Papst Benedikt XVI, am 22.02.2014 im Vatikan (Imago)
    Am 20.01.2022 wurde ein Gutachten zu den Missbrauchsfällen und zur möglichen Vertuschung von Kirchenoberen im Erzbistum München vorgestellt. In dem Untersuchungsbericht einer Anwaltskanzlei wurden auch schwere Vorwürfe gegen Joseph Ratzinger, den emeritierten Papst Benedikt XVI. erhoben. Dem früheren Kardinal Ratzinger wird laut Gutachten in Fehlverhalten im Umgang mit sexuellem Missbrauch während seiner Zeit als Erzbischof des Bistums München und Freising vorgeworfen. In zwei Fällen waren von staatlichen Gerichten verurteilte Missbrauchstäter während Ratzingers Amtszeit weiter als Priester in der Seelsorge tätig.

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    Besonders schwer wiegt der Vorwurf, der damalige Erzbischof Ratzinger soll im Jahr 1980 bei einer Ordinariatssitzung anwesend gewesen sein, auf der entschieden wurde, dass der Priester Peter H. in das Erzbistum München übernommen und wieder in der Seelsorge eingesetzt werden sollte - obwohl er in der Vergangenheit Kinder missbraucht hatte.
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    Zunächst hatte der emeritierte Papst angegeben, an der Sitzung nicht teilgenommen zu haben. Dies revidierte er allerdings in einer Stellungnahme und sprach von einem "Versehen". Im Anschluss war in einigen Medien von einer Entschuldigung des emeritierten Papstes zu lesen - doch wie ist die Stellungnahme wirklich zu bewerten?


    War damit zu rechnen, dass Ratzinger eine Stellungnahme abgibt?

    Ja, damit konnte man rechnen. Die Frage war aber, wie er sich dazu äußern würde. Salopp gesagt: Ob er es so machen würde wie immer, oder anders. „Wie immer" meint: Joseph Ratzinger hat bisher, sobald er in der öffentlichen Kritik stand, den Kritikern "sprungbereite Feindseligkeit" unterstellt und sich als Medienmärtyrer geriert. Ein Satz wie: "Ich habe so entschieden, das war falsch und dafür übernehme ich die Verantwortung", ist meines Wissens öffentlich von ihm nicht überliefert. Sondern eher Sätze wie: "Ich war falsch beraten, habe den falschen Leuten vertraut, war nicht informiert".

    Was wird Ratzinger vorgeworfen?

    Im Raum standen aktuell vor allem zwei Vorwürfe. Zum einen: Er habe bewusst in seiner Stellungnahme im Münchner Gutachten die Unwahrheit gesagt - also gelogen, was die Anwesenheit in der Sitzung anbetrifft. Und zum anderen, viel gewichtiger: Er habe die Schutzbedürftigen nicht geschützt und beschuldigte, auch strafrechtlich verurteilte Priester wieder eingesetzt.

    Was sagt Ratzinger zu den Vorwürfen?

    Die Stellungnahme ist dreigeteilt. Sie beginnt mit einem Abschnitt Dank, dann folgt ein Bekenntnis und schließlich etwas, was ich als spirituelles Entschweben bezeichnen würde.
    Eingangs dankt er jenen, die ihn unterstützen und wörtlich: einer "kleinen Gruppe von Freunden, die selbstlos für ihn die 82-seitige Stellungnahme verfasst haben". Selbstlos ist insofern unfreiwillig komisch, weil Juristen selten aus reiner Nächstenliebe arbeiten. Kürzlich wurden die Honorare bekannt, die das Erzbistum Köln gezahlt hat - eine teure Freundschaft, kann man da nur sagen.
    Den Dank an die Freunde versieht Joseph Ratzinger mit einer Spitze gegen die Nicht-Freunde: Bei der Beantwortung der Frage nach der Sitzung sei ein Fehler geschehen und dieses Versehen sei dann "ausgenutzt worden, um an seiner Wahrhaftigkeit zu zweifeln." Das heißt, er sieht sich als Opfer und bewegt sich in einem Freund-Feind-Schema, auch wenn das Wort Feind nicht fällt. Das ist also ganz das bekannte Muster.
    Im zweiten Teil der Erklärung, dem Bekenntnis, berichtet er von Begegnungen mit Missbrauchsbetroffenen. Und er sagt, über eine Mitteilung seines Privatsekretärs Georg Gänswein: "Wie bei diesen Begegnungen kann ich nur noch einmal meine tiefe Scham, meinen großen schmerz und meine aufrichtige Bitte um Entschuldigungen gegenüber allen Opfern sexuellen Missbrauchs zum Ausdruck bringen."
    Daraus machten Nachrichtenagenturen die Zeile: "Papst bittet Missbrauchsopfer um Entschuldigung". Allerdings fragt man sich: Wofür bittet er eigentlich um Entschuldigung? Denn das, was er Gutes unterlassen und Böses getan hat, sagt er nicht. Er erklärt, er sei in eine übergroße Schuld hineingezogen worden, also eine passive Formulierung. Er schreibt von Vergehen und Fehlern, die in seinen "Amtszeiten und an den betreffenden Orten" geschehen seien. Also nicht: "Ich habe Fehler gemacht", sondern "Fehler sind geschehen".
    Und schließlich, im dritten Teil, entschwebt er spirituell. Auch hierzu die Mitteilung seines Privatsekretärs Gänswein: "Und es (das Wort "übergroße Schuld"Anm. der Red. ) sagt mir tröstend: Wie groß auch immer meine Schuld heute ist, der Herr vergibt mir, wenn ich zur Änderung meines Selbst bereit bin."
    Zuvor hat Joseph Ratzinger an die Situation von Christus am Ölberg erinnert, als dieser die Gefahr spürte und die Jünger schliefen. Es bleibt offen, ob sich Joseph Ratzinger eher als Christus sieht oder als Jünger. Als Papst war er laut Selbstverständnis beides: Stellvertreter Christi und Nachfolger des Jüngers Petrus.

    Schreibt Ratzinger als emeritierter Papst oder als Kardinal?

    Er schreibt als Benedictus XVI., als Papa Emeritus, wie auch schon in der Stellungnahme im Gutachten. Nach seinem Rücktritt 2013 ist er eigentlich wieder Kardinal Joseph Ratzinger geworden. Aber er trägt das weiße Gewand, führt den Titel Papa Emeritus. Und dieser Titel wird auch medial akzeptiert, obwohl oder weil er nach einem römisch-katholischen Disneyland klingt. Es ist ein Titel, den es nicht gibt.

    Bringt Ratzingers Erklärung neue Erkenntnisse?

    Die Haltung des "Ich war es nicht, ich werde zu Unrecht kritisiert" kennt man von ihm. Neu ist, dass er jetzt seine kirchenrechtlichen und juristischen Berater nennt. Unter anderem ist ein Anwalt darunter, der auch den Erzbischof von Köln im Streit um die Gutachten vertritt. Begleitet wird Ratzingers Erklärung von einem sogenannten "Faktencheck". Aus diesem "Faktencheck" geht hervor, dass ein sehr erfahrener Kirchenrechtler die Frage nach der Anwesenheit in nämlicher Sitzung von 1980 versehentlich falsch beantwortet haben soll. Vor allem geht daraus hervor, dass Joseph Ratzinger mit Hilfe seiner Rechtsbeistände darauf beharrt, dass er keine Kenntnis von der Vorgeschichte der Priester hatte und dass man ihm diese Kenntnis doch bitte erst einmal beweisen soll.
    Das ist ein juristisch geschickter Schachzug: Wer sich mit dem System römisch-katholische Kirche auskennt, weiß, dass dieses System genau darauf angelegt ist, Beweise erst gar nicht entstehen zu lassen: Akten wurden erst gar nicht angelegt oder vernichtet, heikle Personalien wurden erst gar nicht ins Protokoll aufgenommen. Akten sind eben nicht Fakten. Aber der sogenannte "Faktencheck" verweist auf die Akten.
    Dieses ständige Beharren nach dem Muster "Es gibt keine Beweise" zeigt auch, dass Joseph Ratzinger im juristischen Klein-Klein verbleibt und der großen moralischen Frage ausweicht: Ob es nicht doch in seiner Macht gestanden hätte, Opfer zu verhindern.
    Was aber auch deutlich wird: Der frühere Papst hat sich zwar juristischen Beistand geholt, aber in seiner Erklärung akzeptiert er nur den "endgültigen Richter", den Herren, wie es in der Erklärung im O-Ton heißt. Vor einem weltlichen Gericht hat er sich nie verantwortet und wird sich wohl nie verantworten müssen. Man kann dieses spirituelle Entschweben als Ausdruck von Frömmigkeit lesen. Ich sehe darin eine Verachtung gegenüber der Welt, einen Hochmut, der sich als Demut inszeniert.

    Ratzinger hat sich ins Schuldbekenntnis eingeschlossen - ist dies nicht ausreichend?

    "Hineingezogen" wurde er in die Schuld, das ist eine passive Formulierung - erst recht für jemanden, der hohe und das höchste Amt innehatte. Es gibt Millionen von Opfern sexualisierter Gewalt in der römisch-katholischen Kirche weltweit, Kinder, Jugendliche, Frauen, vergewaltigte Ordensfrauen, auch erwachsene männliche Opfer gibt es. Und niemand von den Verantwortlichen sagt konkret, was er damit zu tun hat, dass diese massenhafte sexualisierte Gewalt möglich wurde.

    Wie sind die Reaktionen auf die Stellungnahme Ratzingers?

    Betroffenenvertreter, die sich bisher geäußert haben, sind eindeutig: Das sei unsäglich, ein Drücken vor der Verantwortung. Die meisten Medien kommentieren auch kritisch in die Richtung: Diese Erklärung reicht nicht. Es gibt auch einschlägige Medien, die ihn schon vorher immer unterstützt haben und ihn weiter unterstützen, die schon vor der Veröffentlichung des Gutachtens von einer "Hinrichtung des ehemaligen Papstes" geschrieben haben. Sie feiern ihn jetzt als demütigen Diener Gottes.
    Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing, zeigt sich "dankbar". Er hatte bei "Anne Will" eine Stellungnahme Josef Ratzingers gefordert, und die ist nun da. Da ist es offenbar nicht mehr so wichtig, was drinsteht. Ratzingers Nach-Nachfolger in München, Reinhard Marx, hat sich auch geäußert und Respekt bekundet. Marx wiederum steht im Verdacht, dass er 2010 Joseph Ratzinger geschützt hat, als der damals Papst war und Vorwürfe aus der Münchner Zeit bekannt wurden. Man sieht an diesen bischöflichen Reaktionen: ein geschlossenes System von Dankbarkeit für Unverantwortlichkeit - der Heilige Vater und seine Söhne. Nach den fast 2000 Seiten Gutachten wurde vor knapp drei Wochen von einem Beben gesprochen. Aber das System bebt nicht, es lebt.