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Die Renaissance des Hörens und die Zukunft des Radios

Wenn nicht alles täuscht, dann verliert das Leitmedium Fernsehen mit seinen immer wiederkehrenden visuellen Mustern an Attraktivität. Währenddessen scheint eine wachsende Zahl von Menschen Zuflucht in einer Rückbesinnung auf Formen der Sprache und Töne zu suchen. Im Radiohören spiegelt sich ein Bedürfnis nach Kommunikation, das befriedigt werden möchte. Dass wir gerade eine Rebellion des Ohres gegen das Auge erlebten, meint Stefan Fuchs in seinem Essay "Die Renaissance des Hörens und die Zukunft des Radios". Fuchs ist Dozent für Wissenschaftsjournalismus am Karlsruher Institut für Technologie. 2002 erschien sein Buch "Hypermacht Amerika" im Nautilus-Verlag.

Von Stefan Fuchs | 21.12.2008
    Radio ist nicht etwas, es ist vieles. Radio ist nichts Unveränderliches, weil alles, was es ist, vom Zuhörer abhängt. In diesem Sinne wird jede Radiosendung vom Zufall der zeitlichen, räumlichen und psychologischen, das heißt von den inneren Dispositionen des Hörers bestimmt. Während der Radioton aus der unsichtbaren Box strömt, verändert er die Färbung des Raumes, in den er fließt, verschmilzt mit den Tönen, auf die er dort trifft, dehnt sie in alle Richtungen. Sicher gilt das Konzept der Zufälligkeit auch für andere Medien, aber nirgends ist die Mannigfaltigkeit möglicher Beziehungen zwischen Produktion und Wahrnehmung größer als in der Dunkelheit des Radios, in der uns kein Bild auf eine vermeintlich verbindliche Wirklichkeit festlegt und kein Gefühl des Irrealen die Vorstellungskraft des Hörers begrenzt. Das zeitliche Fließen des Radios bildet einen blinden Strom, der seinen Ursprung an einem unsichtbaren, nicht eingrenzbaren Ort hat. Die Verbindung dieses vergänglichen Stromes mit visueller Wirklichkeit vollzieht sich durch die fließende Wahrnehmung des Hörens. Radio erzeugt keine Gegenstände sondern Gebilde der individuellen Vorstellungskraft. Es bejaht nicht die Wirklichkeit eines Ortes oder eines Objekts, sondern schafft eine eigene Wirklichkeit, die von unaufhebbarer Unsicherheit geprägt ist, sowohl was das Individuum als auch was seine Wahrnehmungen betrifft.
    Das Radio und seine spezifische Wahrnehmungsweise, das Hören, als Wirkungsfeld einer neuen Arte Povera, als Ausweg aus der tiefen Krise der Kunst zu Beginn des XXI. Jahrhunderts, die in den seltsam verhärteten und überbordenden Bilderwelten ihren Stachel verloren hat: die Schweizer Künstlerin Salomé Voegelin ist nicht die einzige, die in einer neu begründeten Sound-Art das Heil angesichts des in glatter Affirmation erstarrten Visuellen sucht. Das verhärmte Stiefmütterchen Klangkunst, lange schon abgeschrieben, erlebt eine unerwartete Blüte, ist aus den verstaubten Ecken der Hörspielredaktionen in die Galerien gerückt, hat Podcast und Hörbuch als neue Plattformen erobert. Es scheint, als könne man die Fragwürdigkeiten der gescheiterten Moderne nur noch hör- und nicht mehr sichtbar machen, als sei der visuellen Wahrnehmung inzwischen auch der letzte Rest an Negativität ausgetrieben, als simuliere auch das schockierendste Bild noch einen irgendwie verlässlichen Bodensatz an Wirklichkeit. Das Hören, - tastend blind und auf radikale Innerlichkeit zurückgeworfen -, scheint gegenwärtig mehr zu einer ästhetischen Schärfung der Wahrnehmung zu taugen als das Sehen.

    Hinter dem Bedürfnis nach Radio stehen nicht die Erfahrungen visueller Verlässlichkeit und der Geborgenheit in einem Kollektiv sondern die Angst vor der Einsamkeit und die wachsende Furcht vor dem endgültigen Abreißen der Kommunikation. Die Beschäftigung mit Radio spiegelt das Wissen um die Zerbrechlichkeit gesellschaftlichen Zusammenlebens, und das Bewusstsein der eigenen Einsamkeit. Es ist ein Bedürfnis nach Kommunikation, das im Radiohören nach Befriedigung sucht, aber das Freischwebende seines Sendens erzeugt keine kollektive Erfahrung, sondern verstärkt die Einsamkeit des Hörers. Es fordert ihn immer wieder auf, sich etwas vorzustellen, etwas zu erfinden, Zusammenhänge herzustellen, ohne jedoch die Kommunikationserwartung zu erfüllen. Wenn der Radioton erst einmal ins Ohr des Hörers eingedrungen ist, kann kein gesellschaftlich konstruiertes Realitätsprinzip mehr die Bandbreite der Imagination eingrenzen, stattdessen erzeugt das Radio ständig multiple Wirklichkeiten - nomadisierend und frei schwebend.
    Künstler wie Salomé Voegelin und die neue Vitalität der Klangkunstszene bilden nur die ästhetisch geschärfte Speerspitze einer breiteren Bewegung innerhalb der postmodernen Gesellschaften. Allenthalben ist von einer Renaissance des Hörens die Rede, von einer Rebellion des Ohres gegen das Auge. Nicht nur den reinen Klängen auch der gesprochenen Sprache, jener bisher als geschwätzig verachteten Stiefschwester des geschriebenen Wortes gilt ein neues Interesse. Ärzte erlernen auf ARTE das Fünfminuten-Patientengespräch, mit dem Ziel einer besseren Diagnose durch besseres Zuhören. Pädagogen haben das Zuhörenkönnen überhaupt als unerlässliche Voraussetzung für den Erfolg von Lernprozessen entdeckt. Beunruhigt verfolgen sie die abnehmenden dialogischen Fähigkeiten der heranwachsenden Generationen. Deren Gehör erscheint zunehmend nicht nur vom Dröhnen aus den Ohrstöpseln der MP3-Player verstopft, eine partielle Taubheit macht sich inzwischen schon bei der Wahrnehmung einfacher phonetischer Systeme bemerkbar und bedroht damit die zukünftige Sprachkompetenz auf einer elementaren Ebene. Historiker und Lärmökologen haben die "Soundscapes" entdeckt, Klanglandschaften, die bisher im Verborgenen und weitgehend unbewusst eine bestimmte Lebenswirklichkeit prägten und die nun im Rauschen des global standardisierten Lärmens zu verschwinden drohen.
    Während das Leitmedium Fernsehen, das die immer selben visuellen und kommunikativen Muster bis zum Erbrechen wiederholt, zusehends Attraktivität verliert, sucht eine insgesamt kleine aber wachsende Zahl der Menschen Zuflucht zu einer bewussten Verweigerung des Bildes, einer medialen Rückbesinnung auf die bilderlosen aber deshalb keineswegs blinden Kommunikationsformen der gesprochenen Sprache und der Töne.
    Tendenziell zumindest profitiert das schon lange tot gesagte Medium Radio von dem, was der Philosoph Peter Sloterdijk einen "auditiven Pietismus", eine "akustisch erzeugte neue Innerlichkeit" nennt. Mit einem mönchisch anmutenden Gelübde visueller Enthaltsamkeit, versucht eine radikale Minderheit, den Bilderwelten zu entfliehen, die zunehmend unseren Horizont verstellen. Man dreht die Kiste ab, die einem penetrant zum ständigen Hinstarren auffordert und dreht das Radio auf, das unsichtbar und bescheiden eine flexible und multiple Synthese mit der Alltagserfahrung eingeht. Unter diesem Aspekt erfährt die Rede vom "Nebenbei-Medium Radio" eine überraschende Wendung. Nicht nur der Naturton des leibhaften Gesprächs auch das medial vermittelte Hören kann die visuelle Wahrnehmung schärfen und Normalität wie ein Vexierbild in ihr Gegenteil umschlagen lassen. Visionen auf der Autobahn, von den Augen fallende Schuppen über der Küchenspüle, heftige Emotionen unter der Dusche, das Radio machte es möglich. - Es müsste eben nur danach sein.
    Gefördert wird die mögliche Wiedergeburt des Medienveteranen Radio auf der Angebotsseite ausgerechnet durch das neue Leitmedium. Wie durch keinen anderen Verbreitungsweg hat sich die Radiolandschaft durch Digitalisierung und Internet entgrenzt. Zehntausende Programme sind als Stream im Netz hörbar. Nach Standorten, Musikfarben oder Talk-Formaten geordnet findet man, - die entsprechende Sprachkompetenz vorausgesetzt -, buchstäblich alles, was das Radio gegenwärtig rund um den Globus zu bieten hat: von "France Culture" bis "C-Span-Radio", von "BBC Radio 4" bis "Radio Zapata". Zahlreich die Stationen, die ausschließlich im Internet zu hören sind, mit engen und engsten Nischenangeboten in allen vorstellbaren Musikrichtungen und jeder Art von Wortsendung. Wer zuhause über ein drahtloses Netzwerk verfügt, muss inzwischen nicht einmal mehr den Computer hochfahren, um dieses Weltprogramm ohne einschränkende Maschinerie zu empfangen. Ein drahtloser Internetradioempfänger bringt die globale Radiowelt auch in Badezimmer oder Küche.
    Und das Internet macht auch das möglich: Brechts und Benjamins uralter Traum vom Radioempfänger, der zugleich als Mikrophon funktionierte, mit dem der Hörer etwas zurücksenden, Antwort geben könnte auf die empfangenen Botschaften, in einem gewissen Sinn ist er im Cyberspace Wirklichkeit geworden. "Audio on demand", "Podcasting", "Audio-Blogging" machen aus jedem Hörer potenziell auch einen Radiomacher, der seine Beiträge selbst herstellt oder aus zahllosen Angeboten aussucht, aus dem Netz herunterlädt, den iPod damit füttert, der dann mobil und zur gewünschten Zeit eine Art virtuelles Ich-Radio sendet. Dass dieses ausschließlich an einen einzelnen Hörer adressiert bleibt, bestätigt nur den allgemeinen Trend der Medien zu Mikrokanälen, zum medialen Monadensystem, dem auch die neue Hörkultur unterliegt, ja der diese möglicherweise überhaupt erst möglich macht.
    Damit aber gehört auch die fatale Flüchtigkeit des medial vermittelten Hörens, das Gefesseltsein an das Jetzt einer einmaligen Sendung der Vergangenheit an. - Ein Verlust des Jetzt, der Gleichzeitigkeit einer Hörgemeinschaft ist der Preis, den das Hören in dieser Rezeptionsform dafür zu zahlen hat. - Dennoch gilt: Die verbesserten Speichermedien und der Medienverbund im Netz befreien von den Programmrastern zentraler Sender. Für populäre Musik entwickelte Datenkomprimierungsverfahren und digitale Schnittplätze haben überdies die technische Verfügbarkeit von Audio und Video in einer bisher unvorstellbaren Weise erhöht. Ein Quantensprung im Vergleich zur Hörkassette in den Siebzigern oder Achtzigern. Katalogisierungssysteme und Suchalgorithmen schließlich machen das Internet zu einem einzigen weltumspannenden Schallarchiv, in dem urbane Klanglandschaften von Sydney bis Rio in Stereoqualität ebenso abrufbar sind wie die verrauschten Originaltöne längst ausgestorbener Indianersprachen.
    Selbst das Gutenberg-Medium Buch erlebt allen Untergangsszenarien zum Trotz durch den neuen Trend zum Hören eine Art indianischen Sommer. Die gesamte Weltliteratur von Homer bis Beckett ist zum Hörbuch geworden. Das hat zunächst sicher mit den zunehmend knapper werdenden Zeitbudgets der Menschen zu tun. Das durch Internet und Digitalisierung exponentiell angestiegene mediale Angebot übersteigt inzwischen jedes menschlich beherrschbare Maß. Auch die Ökonomie der Aufmerksamkeit durchlebt gegenwärtig ihre größte, möglicherweise finale Krise. Da kann das Hören als Begleitmedium par excellence seinen Vorteil ausspielen und nutzt konsequent die letzten noch unbesetzten Nischen der Wahrnehmung des postmodernen Menschen: die Einsamkeit, die die zwanghafte Mobilität erzeugt, in Auto, Flugzeug oder in der anonymen Masse öffentlicher Verkehrsmittel: technologisches Brachland, in das die digitale Vernetzung vorerst nur mit dem Handy vorgedrungen ist.
    Die Faszination, die das Hörbuch auch auf Menschen ausübt, die dem Lesen noch nicht völlig entfremdet sind, hat aber noch tiefere Ursachen. Die Rückführung des Geschriebenen in ein Gesprochenes folgt auch einer inneren Logik literarischer Texte. Literatur strebte immer danach, die prosodischen Qualitäten der Sprache ästhetisch wirksam werden zu lassen. Für avantgardistische Texte wie das Joycesche "Finnegan's Wake" war die Notation auf Papier immer nur ein Notbehelf. Wenn der Zugang zur Proustschen "Suche" heute auch für literarisch Gebildete nur noch über einen Sprecher läuft, der ihnen das monumentale Werk vorliest, so kann man argumentieren, dass dies der Text eigentlich immer schon wollte, bisher eben nur noch nicht konnte.
    Der ungeheure Abstraktionsprozess, den die Sprache durch ihre schriftliche Fixierung in Schrift erfährt, wird heute schmerzlicher erfahren als in den Generationen zuvor. Im Dickicht der überall medial herausgekitzelten Sinnenreize, im Turbomodus des Sinnlichen gelingt die Rückübersetzung des nahezu körperlosen Skriptums in Emotionen immer seltener. Und so gibt es eine wachsende Sehnsucht nach Unmittelbarkeit und Körperlichkeit, wie sie die Kommunikation in den oralen Kulturen geprägt haben. Von neueren neurobiologischen Forschungen wird das bestätigt. Der Vergleich der Hirntätigkeit beim Lesen und bei der Wahrnehmung gesprochener Sprache zeigt, dass das Hören eine ungleich intensivere neuronale Aktivitäten im Gehirn auslöst und Areale mit einbezieht, die das bloße Sehen nicht mobilisieren kann.
    Die Rückkehr einer Oralität aus zweiter Hand, durch die elektronischen Medien vermittelt, die der amerikanische Jesuitenpater Walter Ong bereits in den achtziger Jahren vorhersagte, inzwischen ist sie Realität. Darin kann man regressive Tendenzen erkennen, aber potentiell ist es auch ein Stück Wiedergutmachung an dem schreienden Unrecht, das der gesprochenen Sprache durch die Hybris des Gedruckten zuteil wurde. Ein Stück weit bietet die technische gesteigerte Verfügungsgewalt über das Hörbare die Chance, kommunikative Überlegenheiten des Gesprochenen zu nutzen, ohne dass dessen Nachteile, Redundanz, relative Unschärfe und Sperrigkeit, das Übergewicht erhielten.
    Dafür gibt es in der Flut der sprechenden Bücher durchaus Indizien. Auch wenn die Überzahl der inzwischen mehr als 20.000 Titel auf dem boomenden Hörbuchmarkt, Ratgeber, Krimis, Science-Fiction und Gebrauchsliteratur sind, so finden sich dort inzwischen auch eindrucksvolle Beispiele neuer Formen der Wissenschaftsvermittlung. "Erplaudertes Wissen" gewissermaßen wie ein Hörbuchverlag, die ganz nonchalant als "Der Bien" betitelten und extrem in die Oralität zurückgenommenen Erklärungen eines Forschers zum "Superoganismus der Biene" einordnet. Alles andere als zufällig ist auch. dass der französische Philosoph der Körperlichkeit, Michel Onfray, für seine monumentale Gegengeschichte der Philosophie die CD als Erstveröffentlichung gewählt hat.
    Die erläuternde Stimme mit ihren Ober- und Untertönen, der suchende, immer vorläufige Sprachgestus der gesprochenen Sprache, Emotionalität, die über die Prosodie transportiert wird, der Zwang zur Anschaulichkeit, das alles ermöglicht ein Verständnis, das die Schriftsprache in dieser Unmittelbarkeit nicht bieten kann. Die neue technologische Verfügungsgewalt über das Hören ermöglicht die Wiederentdeckung des Sprachkörpers, der im Schriftbild immer nur wie aus großer Entfernung wahrnehmbar bleibt. Unter der Voraussetzung natürlich, dass das Medium sich auf diese Abenteuer einlässt und nicht manisch nach einer dem Gedruckten abgeschauten Standardisierung der Stimmen strebt. Die Stimme verhält sich, schreibt der Semiotiker Roland Barthes, im Verhältnis zur Stille, wie die Schrift zum Weiß des Papiers. Die Hoffnung ist, dass sie sich vor diesem Hintergrund als Hand- und nicht als Druckschrift abzeichnet.

    Sehen heißt, sich vom Gesehenen zurückziehen, Abstand halten, sich entziehen. Das Auge platziert sich außerhalb des Schauplatzes, das Ohr versinkt im Klangraum. Man sieht fern, man hört nahe. Töne absorbieren, verschlucken, durchdringen, man wird von ihnen beherrscht, während man Wesen und Dinge beherrschen kann durch Bilder so scharf und deutlich wie eine Vor-Stellung. Der Blick ist frei, das Hören ist hörig. Hieß "gehorchen" im Griechischen nicht "hören"? Da ist etwas Passives im Hören und etwas Herrschaftliches im Sehen. Die visuelle Wahrnehmung ist distanziert, die auditive dagegen verbindet, fast wie der Tastsinn. Der Ton ist auf der Seite des Pathos, das Bild auf der Seite der Idee. Affekt hier, Abstraktion dort. Das Gehör ist nicht unmittelbar ein Organ der Analyse wie das Auge, es kennt nicht die Aufspaltung in Subjekt und Objekt und vielleicht auch nicht jene in Individuum und Gruppe. Es gibt Revolutionen des Blicks, aber alles deutet daraufhin, dass es keine des Hörens gibt. Das Ohr ist archaisch durch seinen Ursprung und seine Konstitution.
    Der französische Medientheoretiker Régis Debray datiert den endgültigen Tod des Bildes auf die Ära des Farbfernsehens. Mit der Herrschaft dessen, was er "Videosphäre" nennt, vollendet sich eine lange Entwicklung, die mit der Fotografie begann und im Film nur eine Zwischenstation hatte. Das Fernsehen ist für ihn wie für Jean Baudrillard kein Projektionsmedium mehr. Mit dem selbstleuchtenden Apparat gelingt dem Abbild, was es schon immer wollte, die schneidende Wahrnehmung seiner Irrealität restlos abzustreifen, selbst zur Wirklichkeit zu werden. Was auf den sich immer mehr in die Breite dehnenden Flachbildschirmen erscheint, ist der Vorschein einer Bilderwelt, die scheinbar naht- und gewaltlos die Stelle dessen einnimmt, was einmal Schöpfung hieß.
    Möglicherweise muss das biblische Gebot des, Du sollst Dir kein Bild machen, mit Du sollst Dir kein lebendiges Bild machen übersetzt werden, - jedenfalls kein Bild das tönt, wandelt und lebt. Deshalb hat das Hören im Fernsehen oder im Film eine völlig andere Qualität als das bilderlose Hören mit Radio und dem sprechenden Buch. Audiovisuelles Hören ist wie emotionaler Klebstoff, der die Kluft zwischen dem Ich und den stummen Bildern verkleistert. Die verbindende, verschmelzende Wirkung des Hörens wird missbraucht, um kalten Bildern ein Leben aus zweiter Hand einzuhauchen.
    Das XXI. Jahrhundert wird das Zeitalter der "Mixed Realities" sein, die Baudelaire einst als "Künstliche Paradiese" apostrophierte und mit dem Gebrauch von Halluzinogenen assoziierte. An die Stelle der Drogen ist der Computer getreten, der zunehmend unsichtbar diese audiovisuellen Planetarien bald auch in Echtzeit steuern wird. Ergebnis ist ein unentwirrbares Kaleidoskop aus Wirklichkeiten der ersten, zweiten, dritten, x-sten Hand medientechnologischer Vermittlung, eine Hyperrealität, die mit Fug und Recht für sich in Anspruch nehmen darf, mehr als bloße Wirklichkeit zu sein. Kategorisch schließt sie ein Draußen aus, von dem aus sie in Frage gestellt werden könnte. Was lapidar als Medien daherkommt ist in Wirklichkeit die innerste Triebfeder des gesellschaftlichen Prozesses der Natur in die zweite, in die menschengemachte Natur verwandelt. Die technisch induzierte Veränderung der Wahrnehmung stellt den voluntaristischen Anspruch auf Veränderung der Welt selbst.
    Mit dem Hologramm wird die nächste Potenz der Bilderwelten, die Telepräsenz, erreicht. Ihre Premiere hatte sie bereits in jener in mancher Beziehung denkwürdigen Nacht im Anschluss an die jüngste US-Präsidentenwahl, als das Fernsehen erneut unter Beweis stellen musste, das die historische Qualität des Augenblicks vom Medium selbst abhängt. Dreißig "High Definition"-Kameras filmten die Reporterin Jessica Yellin im Hauptquartier der Demokraten in Chicago. In Echtzeit wurde das Signal ins Sendestudio des planetaren Nachrichtenkanals CNN nach Atlanta übertragen, wo sich der Datenstrom mittels eines komplizierten Algorithmus zum dreidimensionalen bewegten Bild zusammenfügte.

    Was führt die audiovisuelle Maschinerie im Schilde? - Eine umso drängendere Frage, als sich unser Entscheidungsspielraum in jenem Maße einengt, wie die mediale Vermittlung zunimmt, die Zahl der Netze und die Komplexität der Rückkopplungen wachsen. Es gab schon immer eine Industrie des Glauben-Machens, spätestens seit der antiken Agorá und sicher auch zuvor. Aber heute ist unsere Wirklichkeit eine Mediavision der Welt, ein Instrument, das uns instrumentalisiert, ausgestattet mit einer planetar wirksamen Antriebskraft. Je mehr unsere Verfügungsgewalt über die Dinge zunimmt, umso weniger gelingt uns die rationale Verfügung über diese Verfügungsgewalt selbst.
    Auch das steckt für Régis Debray hinter der vielzitierten Konvergenz der Medien, die die Digitalisierung nunmehr möglich macht. Die Welt wird zur Black-Box, zum Container, in den Hochleistungscomputer Wirklichkeit hinein simulieren. Historisch gesehen ist es eine späte technologische Umsetzung des Traums der Romantik vom Gesamtkunstwerk, dessen Protagonist Richard Wagner war. Aber die perfekt erzeugte, synästhetische Hyperrealität verkleistert nur den unaufhebbaren Riss der alle menschliche Konstruktion von Wirklichkeit durchzieht. Erkenntnis und Anschauung klaffen auseinander, jedes Bild trägt den Makel des Scheins, jedes Zeichen dementiert ein Stück weit das Bezeichnete.
    Die Hyperrealität macht in letzter Konsequenz Schluss mit der medialen Vermittlung: Medium und vermittelte Wirklichkeit schnurren in eins zusammen. Eine Tendenz, die der Soziologe Zygmunt Bauman schon beim analogen Fernsehen verwirklicht sieht: Realität "as seen on TV", "wie sie das Fernsehen zeigt" kristallisiert zur vorherrschenden und schließlich ausschließlichen Wahrnehmung.
    Die Rückwendung zum reinen, zum bilderlosen Hören kann nur vor dem Hintergrund dieser zunehmend geschlossenen Mediencontainer, - Hologramme und Dolby Surround-Soundeffekte inklusive-, verstanden werden. Das Bild ist tot, verendet an seinem eigenen Perfektionsstreben und an seiner Allgegenwart. Zwei Milliarden Fernsehschirme erleuchten durchschnittlich gleichzeitig die planetare Höhle, zu der der Globus geschrumpft ist. In diesem Umfeld ist das entschiedene Schließen der Augenlider zu einem heroischen Akt zivilen Ungehorsams geworden, öffnet das sich Bescheiden mit der unaufhebbaren Zersplitterung und Spezialisierung des menschlichen Sensoriums den einzig verbliebenen Notausstieg aus den tautologisch sich selbst spiegelnden Mediensphären

    Jahrhunderte hindurch ließ sich das Zuhören als ein intentionaler Akt definieren: zuhören heißt, mit vollem Bewusstsein hören wollen. Heute dagegen weist man ihm die Fähigkeit, ja beinahe die Funktion zu, unbekannte Räume abzutasten: das Zuhören schließt heute nicht nur das Unbewusste, im topischen Sinn des Wortes, in sein Feld ein, sondern sozusagen auch dessen weltliche Formen: das Implizite, das Indirekte, das Zusätzliche, das Hinausgezögerte. Es gibt eine Öffnung des Zuhörens auf alle Formen der Polysemie, der Überdeterminierung und der Überlagerung, es gibt ein Abbröckeln des Gesetzes, das ein geradliniges, einmaliges Zuhören vorschreibt; das Zuhören war im Wortsinne hörig; heute verlangt man von ihm, dass es auftauchen lässt; dergestalt kehrt man, aber auf einer anderen Windung der historischen Spirale zur Konzeption eines panischen Zuhörens zurück, wie es in der Vorstellung der Griechen, zumindest der Dionysier" existierte.
    Nach dem Vorbild des psychoanalytischen Gesprächs entwarf Roland Barthes einen modernen, einen späten Typus des Hörens, der das epistemologische Potential dieses Sinnes voll zur Entfaltung zu bringen sucht. Wenn es dem Analytiker darum geht, die verborgene Geschichte des Individuums in seinem Sprechen zu rekonstruieren, muss er sich frei machen von seinen Erwartungen, von den der Theorie entstammenden Wahrnehmungsmustern. Es ist ein seltsam konzentriert unkonzentriertes Zuhören, mit dem er wie ein Kind die Sprache des Unbewussten seines Patienten erst langsam erlernen muss.

    Jemandem Zuhören, seine Stimme hören, erfordert von Seiten des Zuhörers eine Aufmerksamkeit, die für das Dazwischen von Körper und Diskurs offen ist und sich weder auf den Eindruck der Stimme noch auf den Eindruck des Diskurses versteift. Bei diesem Zuhören lässt sich nun genau vernehmen, was das sprechende Subjekt nicht sagt: die unbewusste Textur, die seinen Körper als Ort zu seinem Diskurs assoziiert: die aktive Textur, die im Sprechen des Subjekts die Gesamtheit seiner Geschichte reaktualisiert.
    Zu seinem hundertsten Geburtstag profitiert das Radio von der Geschwindigkeit, mit der es die neuen Leitsterne am Medienhimmel überholt haben. Sein emanzipatorisches Potenzial wurzelt im Kontrast. Welcher radiophone Augenblick könnte schon mit den Bildern der einstürzenden Türme des 11. September mithalten?
    Das Radio führt ein Schattenleben, gesellschaftlich nahezu unsichtbar, von den einschlägigen Wissenschaften vergessen. Die allermeisten hören Radio, wie sie einen Wasserhahn aufdrehen oder das Licht anschalten. Die Last der Herstellung kollektiver Emotionen hat es abgeworfen und an das Fernsehen weitergereicht. Vergangenheit sind die heroischen Zeiten der Live-Reportagen, die Direktschaltungen des großdeutschen Kriegsfunks, als sich zu Weihnachten die Kämpfer an allen Fronten zur sentimentalen Hörgemeinschaft zusammenschlossen, nahezu restlos verschwunden aus den Programmen auch die hektischen Stimmen der Fußballreporter mit ihren akrobatischen Versuchen bewegte Bilder in Echtzeit in Gesprochenes zu übersetzen. Im postmodernen Medienverbund taugt das Radio kaum noch zur Erzeugung kollektiver Emotionen, für die Inszenierung der Macht und die Ästhetisierung der Politik.
    Allerdings nutzt das Radio diesen Freiraum des älteren, gleichsam erkalteten Mediums nur im Ausnahmefall. Es strampelt allenthalben, um mit dem Leitmedium doch noch irgendwie mitzuhalten im Überbietungswettbewerb der Sinnesreize. Schließlich geht es auch in der Radionische immer noch um Quoten und Werbeeinnahmen. Stimmenschöner, Kompressoren und Formatvorgaben machen Sprechautomaten aus den Moderatoren, die nur noch eine zum Erbrechen süßliche Art auditiver Patisserie absondern. Jingles, Promos und Teaser zerhacken jedes Live-Gespräch bis zu Unkenntlichkeit. Die Inflation der Gameshows treibt ein ebenso zynisches wie renditeträchtiges Spiel mit dem Bedürfnis nach Interaktivität.
    Im computergenerierten Turbo des Musikteppichs klingt der Naturton der menschlichen Stimme erschreckend flach, wird als Sendeloch empfunden, das es tunlichst zu vermeiden gilt. Dabei sind die Trends zum informativen Minimalismus und zur kommunikationsfeindlichen Geschwätzigkeit offensichtlich, - gleichgültig ob privat oder öffentlich-rechtlich -, fatal in der "Liquid Modernity", der "Verflüssigten Moderne", wie sie der englische Soziologe Zygmunt Bauman so treffend beschrieben hat, wo die Dinge immer weniger das sind, was sie auf den ersten Blick scheinen und Menschen wie niemals zuvor auf Orientierung angewiesen sind.

    In der Vergangenheit gab es zwei Zeitbegriffe einen zyklischen und einen linearen. Der jüngere ist der lineare. Es gab keinen Weg zurück, man konnte nicht umkehren. Unsere Zeit ist nicht zyklisch, nichts wiederholt sich in identischer Form. Aber unsere Zeit ist auch nicht linear, weil Ereignisse und Handlungen völlig zufällig aufeinander folgen. Wir arbeiten heute alle in extrem kurzfristigen Projekten, springen von einem Projekt zum nächsten. Was für ein Zeitbegriff entspricht dieser Erfahrung? Ich schlage den Begriff der "pointillistischen Zeit” vor. Wie auf den Leinwänden von Seurat oder Sisley, die nur mit Punkten bedeckt sind, die keine breiteren Pinselstriche zeigen, keine Zusammenhänge. Im verflüssigten Leben der Postmoderne gibt es nur zufällig verstreute Punkte, Episoden. Gleichzeitig steigen die Ansprüche an das menschliche Gehirn. Eine einzige Sonntagsausgabe der New York Times enthält die gleiche Menge Informationen, die ein Hochgebildeter im XVIII. Jahrhundert in der Spanne eines ganzen Lebens erlernte.
    Ein Ort des herrschaftsfreien Zuhörenkönnens im Sinne von Roland Barthes tut Not, ein Medium für die Zwischen- Unter- und Halbtöne, ein Ort der Divergenz zu den verspiegelten Bilderwelten, eine Plattform für eine neue Wertschätzung der gesprochenen Sprache, für neue Formen der Wissensvermittlung, für ein Crossover jenseits der wissenschaftlichen und journalistischen Schubladen, für eine emotionale dialogische Kultur diesseits der technokratisch missverstandenen Interaktivität. Die Zukunft des Radios wird davon abhängen, ob es diese Rolle des Aschenputtels in der Küche der postmodernen Gesellschaften auf sich nehmen will.