Dienstag, 30. April 2024

Brüsseler Beschluss zur Migrationspolitik
Die fünf wichtigsten Fragen zum EU-Gipfel

Nach zähem Ringen hat die EU ein gemeinsames Papier zur Migrationspolitik zustande gebracht. Doch was ist der Beschluss wirklich wert? Und ist damit der Streit innerhalb der Berliner Koalition beigelegt? Deutschlandradio-Chefkorrespondent Stephan Detjen beantwortet die wichtigsten Fragen zum EU-Gipfel.

Von Stephan Detjen | 29.06.2018
    Merkel geht durch einen Gang, sie ist zwischen Flaggen der EU und nationalen Flaggen zu sehen.
    Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) beim EU-Gipfel in Brüssel (dpa/Thierry Roge)
    1. Ist Europa jetzt einig?
    Europa ist nicht zerbrochen. Immerhin. Noch gestern Abend stand die Frage im Raum, ob es am Ende dieses Gipfels überhaupt eine gemeinsame Schlusserklärung geben würde. Italien blockierte. Pressekonferenzen wurden abgesagt. In unterschiedlichen Gruppen und Allianzen wurde die ganze Nacht hindurch verhandelt. Als schon der Morgen dämmerte, konnte Ratspräsident Donald Tusk dann doch ein gemeinsames Papier des Rates veröffentlichen.
    Aber der Riss, der durch Europa geht, ist jetzt schwarz auf weiß dokumentiert: Solidarität bei der Verteilung von Flüchtlingen, die in neuartigen Aufnahmezentren an den europäischen Küsten anlanden, ist jetzt nur noch ein unverbindlicher Appell und frommer Wunsch. Zum ersten Mal wird der Grundsatz der Freiwilligkeit in der Schlusserklärung förmlich zum Leitprinzip der EU-Migrationspolitik erklärt. Viktor Orban jubelt: "Ungarn wird kein Einwanderungsland". Eine Reform des Dublin-Systems mit dem Ziel "ausgeglichener Verantwortung und Solidarität" bei der Verteilung von Asylsuchenden" bleibt zwar formal auf der Agenda des Rats. Die Aussicht aber, dass sich alle EU Länder daran beteiligen, ist nach diesem Gipfel geringer denn je.
    2. In Nordafrika sollen Zentren für Asylsuchende und Migranten eingerichtet werden. Worum geht es da?
    Von "Lagern" war die Rede, euphemistisch auch von "Schutzzonen" oder "Anlandezentren". Im Schlussdokument ist nun von "disembarkation platforms" die Rede, die in "Drittländern" und in Zusammenarbeit mit dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR sowie der Internationalen Organisation für Migration IOM errichtet werden sollen. Wörtlich übersetzt heißt es "Ausschiffungs-Plattformen". Gemeint sind Einrichtungen in den nordafrikanischen Ländern wie Libyen, Marokko, Algerien, Niger und Mali. Und es soll nur in wenigen Fällen darum gehen, Asylsuchende nach Europa "auszuschiffen". Die Hoffnung von Frankreichs Staatspräsident Emanuel Macron, der das Konzept am Ende gemeinsam mit den neuen italienischen Ministerpräsidenten Giuseppe Conte propagierte, ist es, dass die Flüchtlingsströme umgelenkt werden können, bevor sie Europa erreichen. In der Schweiz prägte man für die Rückführung von Migranten und Flüchtenden in ihre Heimatländer den Begriff "Ausschaffung". Die Änderung eines Buchstabens in der Übersetzung trifft eher, was mit dem Wort "disembarkation" gemeint ist.
    3. Auch an den europäischen Küsten soll es zentrale Aufnahmestellen geben. Kann das funktionieren?
    Italien hatte vor dem Gipfel verlangt, dass Flüchtende, die an den italienischen Küsten ankommen, behandelt werden müssten, "als kämen sie in Europa an". Gemeint war: nicht allein Italien sollte – wie von den Dublin-Regeln vorgesehen – für Aufnahme, Registrierung und Asylverfahren zuständig sein. Die Forderung zielte auf die Schaffung eines gemeinsamen, europäischen Asylverfahrens ab. Das entspricht Konzepten, die von der Kommission entwickelt wurden. Eine Umsetzung einer so grundlegenden Reform aber scheiterte stets, weil sie im Kern eine Verteilung der ankommenden Menschen in andere EU-Länder voraussetzt.
    Hauptstadtkorrespondent Stephan Detjen bei einem Pressetermin während des EU-Gipfels in Brüssel
    Stephan Detjen beim EU-Gipfel in Brüssel (Stephan Detjen / Deutschlandfunk)
    Dennoch sieht die Schlusserklärung nun "controlled centers" – kontrollierte Zentren – vor, in denen schnelle und sichere Verfahren durchgeführt werden. Dies soll auf freiwilliger Basis der jeweiligen Länder geschehen. Die Vorstellung erinnert an das deutsche Konzept der "Anker-Zentren" oder "Transitzonen". Offen bleibt jedoch, was auf europäischer Ebene mit den Menschen geschehen soll, die in solchen Zentren an den EU-Außengrenzen einen Schutzanspruch erhalten. Aus dem Rat heißt es: Dublin gilt. Auch wenn Giuseppe Conte die Vereinbarung als Erfolg feiert, bleibt Italien demnach allein zuständig.
    4. Bringt Merkel "wirkungsgleiche" bilaterale Abkommen mit nach Hause, die Horst Seehofer forderte, um auf Zurückweisungen an der deutsch-österreichischen Grenze zu verzichten?
    Nein. Zwar hat Merkel selbst die Erwartung geweckt, in Brüssel solche Abkommen auszuhandeln. Dabei aber ging es der Kanzlerin nur darum, Druck aus der unionsinternen Debatte zu nehmen und Zeit für sich zu gewinnen. In Wahrheit wollte Merkel nie förmliche Abkommen auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs selbst verhandeln. Der Kanzlerin genügt die grundsätzliche Kooperationsbereitschaft einiger Länder wie Griechenland, Bulgarien, Frankreich, Spanien, Finnland und vielleicht auch Italien. Das Ziel ist der Abschluss von sogenannten "Verwaltungsübereinkommen", wie Art. 36 der Dublin III-Verordnung sie vorsieht. Darin können Vereinbarungen zur "Vereinfachung der Verfahren und Verkürzung der Fristen" für die Rücküberstellung von Antragstellern in Erstankunftsländer getroffen werden. Für die Aushandlung solcher Verwaltungsvereinbarungen sind in der EU grundsätzlich die jeweiligen Fachminister zuständig – in diesem Fall die Innenminister. Angela Merkel wird ihrem Innenminister Seehofer also Hausaufgaben aus Brüssel mitbringen. Was die CSU von der Kanzlerin verlangte, soll dann der Parteivorsitzende als Innenminister selbst liefern.
    5. Muss Angela Merkel noch den Bruch von CDU und CSU und damit ihrer Regierung fürchten?
    Nach dieser langen Verhandlungsnacht, die von allen Teilnehmern mit ihren unterschiedlichen Interessen als Durchbruch und Erfolg gefeiert wird, dürfte es die CSU kaum noch wagen, die Einigung des Rates durch einen Alleingang und die faktische Aufkündigung der Berliner Regierungskoalition zu torpedieren. Die CSU wird sich dafür rühmen, Europa in Bewegung gebracht und Angela Merkel zu einer neuartigen Verschärfung des Asylrechts gedrängt zu haben. Merkel und die CDU dagegen werden es als Erfolg für sich verbuchen, dass der angedrohte nationale Alleingang des Innenministers abgewendet wurde und Angela Merkel es wieder einmal geschafft hat, was zuvor viele für unmöglich hielten: eine europäische Einigung zu erreichen. Die Zweifel an deren Wirksamkeit aber werden bleiben. Wer in dieser Zeit Lösungen des Migrationsproblems verspricht oder verlangt, schürt Erwartungen, die im Augenblick niemand in Europa erfüllen kann.