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Roman
Chestertons Spiel mit der Erwartungshaltung

Etwas ist nicht, was es zu sein scheint oder unseren Erwartungen gemäß zu sein hätte. Was heute gerne als „Mindfuck“ bezeichnet wird, beherrschte Gilbert Keith Chesterton schon vor knapp 100 Jahren meisterlich. In seinem jetzt auf Deutsch erschienen Roman „Vier verehrungswürdige Verbrecher“ ist vieles anders als man denkt. Chesterton spielt mit der Erwartungshaltung des Lesers – und fesselt damit.

Von Hubert Spiegel |
    Porträt von Gilbert Keith Chesterton
    Gilbert Keith Chesterton, englischer Dichter und Denker (dp / Ria Novosti)
    Gilbert Keith Chesterton ist der Meister der Paradoxie, jener Art von Denkfigur, die heute gern zu einem giftig schillernden Genre gezählt wird, das nicht sehr dezent, aber auch nicht ganz unzutreffend als „Mindfuck“ bezeichnet wird. Der Begriff klingt zwar obszön, doch was sich dahinter verbirgt, kann sehr wirkungsvoll sein.
    Als „Mindfuck“ werden in Film, Literatur, Fotografie und bildender Kunst alle möglichen Phänomen bezeichnet, die geeignet sind, unsere Sinne, unsere Wahrnehmung, aber auch unsere Vorstellungen und Überzeugungen zu verwirren: Etwas ist nicht, was es zu sein scheint oder unseren Erwartungen gemäß zu sein hätte. Das Paradoxon spielt also mit unseren Erwartungen, es narrt uns, indem es uns mit der Nase darauf stößt, in welchem Ausmaß unser Denken an Gewohnheiten und Konventionen gebunden ist. Das Paradoxon ist provokant, denn es zeigt auf die rücksichtsloseste Weise Widersprüche auf. Man könnte sogar sagen: das Paradoxon ist die Form gewordene Lust am Widerspruch.
    Aber weil Lust ohne Reue in Chestertons zunächst protestantisch geprägter Weltsicht nicht vorgesehen war, sei darauf hingewiesen, dass viele Paradoxa nicht ganz frei von Nebenwirkungen sind. Auf dem medizinischen Beipackzettel der Chestertonschen Paradoxa müssen aufgeführt werden: intellektuelles Vergnügen, jähe Erkenntnis, die tiefgreifende Erschütterung liebgewonnener Überzeugungen, Zweifel, Schwindel, sanfte Verwirrung und leichter Kopfschmerz, der in wenigen Fällen sogar in akutes Hirnsausen umschlagen kann, wobei Hirnsausen hier zu verstehen ist als eine Art zerebraler Muskelkater, hervorgerufen durch ungewohnte Denkbewegungen.
    Enormer Leibesumfang gepaart mit Zerstreutheit
    Chesterton, 1874 im damals wie heute noblen Londoner Stadtteil Kensington als Sohn eines Immobilienmaklers geboren, erweitert den Spielraum unserer Gedankengänge. Er ist ein Möglichkeitsmensch im Sinne der schönen Formulierung von Robert Musil, ein Kreuz- und Querdenker in der Tradition des genialen Göttinger Aphoristikers Georg Friedrich Lichtenberg, ein gegen den mal behäbig flachen, dann wieder gefährlich reißenden Strom der Konventionen anschwimmender – nein, kein Hecht im Karpfenteich. Chesterton war ein 1 Meter 93 großer Aal von gut 130 Kilogramm Lebendgewicht. Sein enormer Leibesumfang ist ebenso wie seine erstaunliche Zerstreutheit Gegenstand zahlreicher Anekdoten. Zu seinem spindeldürren Freund George Bernhard Shaw, dem er eine Biografie widmete, soll er einmal gesagt haben, wenn man ihn, Shaw, ansähe, müsse man glauben, in England herrsche eine Hungersnot. Shaws Replik: Wenn man dich ansieht, Chesterton, muss man glauben, du seiest ihre Ursache.
    Eine Gegenreplik Chestertons ist nicht überliefert. Vielleicht hat es ihm ja tatsächlich einmal die Sprache verschlagen. In der Regel aber war er ein kaum zu bezähmender Meister des Widerspruchs. Nicht aus Trotz, sondern aus Erkenntnisdrang und in der Überzeugung, dass alles, was ist, auch anders sein könnte. Mehr noch, es ist ja vielleicht schon anders, und wir bemerken es nur nicht, weil wir stets aus demselben Blickwinkel auf die Dinge schauen. Das kann sogar für den Kriminellen gelten, für den Gesetzesbrecher. Wenn wir die Perspektive ändern, aus der wir ihn und seine Tat betrachten, stellt er sich uns plötzlich ganz anders dar. Womöglich wird er sogar zu einem jener „Vier verehrungswürdigen Verbrecher“, von denen der gleichnamige Band Chestertons spricht, der jetzt in der „Anderen Bibliothek“ erschienen ist.
    Detektivgeschichten Chestertons erstmals komplett auf Deutsch
    Der Band ist selbst nach strengen Maßstäben der „Anderen Bibliothek“ ungewöhnlich schön gestaltet, wofür den Studentinnen und Studenten des Studiengangs Buch- und Medienproduktion an der HTWK Leipzig zu danken ist. Sie haben an einem Wettbewerb teilgenommen, den die Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur in Leipzig zusammen mit der Anderen Bibliothek veranstaltet hat. Das Ergebnis kann sich sehen lassen: Schönste Buchkunst, die man ausgesprochen gern zu Hand nimmt. Das Frontispiz zieren vier ins schöne Leinen geprägte Männerprofile. Das sind die vier verehrungswürdigen Verbrecher, deren Geschichten der Band versammelt. Erschienen sind sie zuerst zwischen April 1929 und Mai 1930 in den britischen Zeitschriften „Cassel’s Magazine“ und „Storyteller“. Hier liegen sie nun erstmals auf Deutsch vor, übersetzt von Boris Greff und Matthias Marx. Damit ist eine Lücke geschlossen, wie Matthias Marx nicht ohne Stolz in seinem Nachwort vermerkt: Denn jetzt sind die Detektivgeschichten Chestertons erstmals komplett in deutscher Sprache erhältlich.
    Chesterton-Kenner mögen sich darüber streiten, was im umfangreichen Werk dieses Autors die Kriterien einer klassischen Detektivgeschichte erfüllt und was nicht. Ihr Verfasser war für solche gattungstechnischen Diskussionen durchaus zu haben. Immerhin war er sechs Jahre lang Präsident des 1928 gegründeten „Detection Club“, einer Autorenvereinigung, zu der auch Agatha Christie, Dorothy L. Sayers und Henry Wade gehörten. Der reichlich exclusive Club veranstaltete regelmäßig „Dinner Meetings“ und erließ einen Kodex, bestehend aus zehn Regeln für einen „fairen Kriminalroman“. Fragt sich nur: Fair wem gegenüber? Dem Leser, dem Täter, dem Opfer gegenüber?
    Während Regel Nummer zwei „Übernatürliche Kräfte oder Mächte sind selbstverständlich untersagt“ noch immer unmittelbar einleuchtet, und Regel Nummer sieben „Der Detektiv darf das Verbrechen nicht selbst begehen“ mittlerweile dutzendfach gebrochen wurde, klingt Regel Nummer fünf, als wäre sie schon damals eher scherzhaft gemeint gewesen sein. Sie lautet: „Chinesen haben in der Geschichte nichts zu suchen.“
    Dabei war gerade Regel Nummer fünf besonders erstgemeint, denn chinesische Bösewichte waren damals ein allzu häufig verwendetes Stereotyp und somit eines Mitglieds dieses noblen Clubs nicht würdig.
    Aber zurück zu Chestertons vier Erzählungen, die ja zunächst in Zeitschriften erschienen waren. In Buchform werden sie durch eine Rahmenhandlung miteinander verbunden, in der ein Journalist einer großen Geschichte über einen sehr exzentrischen Herzog auf der Spur ist, dafür halb Amerika durchquert und schließlich in London landet, wo er im bevorzugten Club des Herzogs eine kurze, gerade einmal zehnminütige Audienz erhält, bevor er auf vier nicht weniger exzentrische Männer stößt. Diese vier sind: Der Dieb, der Quacksalber, der Mörder und der Verräter.
    Verbrechen aus höheren Beweggründen
    Dann folgen ihre unerhörten Geschichten. Die vier Kriminalfälle, die Chesterton nun beschreibt, haben eines gemeinsam: Jedes Mal wird die Hauptfigur zum Verbrecher, um ein Verbrechen zu verhindern. Die Ermittler und Detektive, die sich um Aufklärung bemühen, müssen natürlich wie stets Motivforschung betreiben, also danach fragen, welche Gründe der Tat zugrunde liegen könnten. Aber in diesen vier Fällen ist einmal alles anders als sonst: Statt den üblichen niederen Beweggründen, die am Beginn vieler Verbrechen stehen – Neid, Habgier, Eifersucht und so weiter – gilt die Motivforschung nun höheren Beweggründen. Sie gilt also nicht, wie Matthias Marx in seinem empfehlenswerten Nachwort schreibt, wie sonst üblich den „geheimen Sünden“, sondern den „verborgenen Tugenden“ der Verbrecher. Denn der Täter opfert sich in allen vier Fällen gewissermaßen für einen höheren Zweck.
    Aber indem er dies tut, wirft er auch eine für Chesterton typisch Frage auf: Erniedrigt sich der Täter durch seine Tat, die ihn in den Augen seiner Umgebung zum Kriminellen macht, oder wird er nicht vielmehr erhöht durch seine edlen Beweggründe und sein altruistisches Opfer? Das Motiv des Opfers, das zum Täter wird und umgekehrt, kennen wir aus anderen Zusammenhängen. Bei Chesterton, der im protestantischen Glauben erzogen wurde – seine Familie gehörte der Gemeinschaft der Unitarier an –, zielt der Begriff des Opfers auf einen christlichen Kontext ab. Hat nicht Gott seinen Sohn getötet um der sündigen Menschheit willen?
    Einer nach dem anderen gestehen im Prolog die vier Herren dem Journalisten namens Pinion ihre Vergehen: Mord, Betrug, Diebstahl. Dann ist der vierte und letzte Confessor an der Reihe:
    „Tiefe Stille machte sich breit und schien auf mysteriöse Weise, wie eine Wolke, die sich zusammenballt, auf dem vierten Mann zu lasten, der bisher noch kein einziges Wort gesprochen hatte. Er saß auf steife, befremdliche Art kerzengerade aufgerichtet; sein hölzernes, gutaussehendes Gesicht war unverändert und seine Lippen hatten sich noch nicht einmal zu einem Murmeln bewegt. Nun aber schien sich sein Gesicht aufgrund der herausfordernden, plötzlichen tiefen Stille von Holz zu Stein zu verhärten, und als er schließlich sprach, wirkte sein ausländischer Akzent mehr als fremdartig, beinahe so, als wäre er nicht menschlich.
    ‚Ich habe die unverzeihlichste aller Sünden begangen‘, sagte er. ‚Welcher Sünde hat Dante die letzte und tiefste Hölle vorbehalten, den Ring aus Eis?‘
    Noch immer sprach niemand, und er beantwortete seine eigene Frage im selben, hohlen Ton: ‚Verrat. Ich betrog vier meiner Parteifreunde und lieferte sie gegen ein Bestechungsgeld an die Regierung aus.‘
    Ein kalter Hauch durchzog das Innere des sensiblen Fremden, und zum ersten Mal empfand er, dass die Luft um ihn herum seltsam düster war. Die Stille dauerte noch eine halbe Minute länger, dann brachen die vier Männer in brüllendes Gelächter aus.“
    Erwartungshaltung unterlaufen
    Man sieht schon in diesen wenigen Sätzen, mit welchen Mitteln Chesterton Spannung erzeugt und wie absichtsvoll er die Erwartungshaltung des Lesers unterläuft. Denn wer hätte nach dem Geständnis des vierfaches Verrates mit vierfachem Gelächter gerechnet? Das Moment des Unberechenbaren spielt bei Chesterton eine große Rolle, doch ist es bei ihm weit mehr als nur ein Mittel zur Spannungserzeugung. Mit Father Brown, seiner bekanntesten literarischen Figur, hatte Chesterton 1910 einen Geistlichen erfunden, der sich als Detektiv betätigt und mit Menschen- und Seelenkenntnis scheinbar mysteriöse Kriminalfälle löst. Das Innenleben des Täters ist diesem Ermittler im schwarzen Priesterrock meist wichtiger als der äußere Hergang der Tat. In den Geschichten der „Vier verehrungswürdigen Verbrecher“ zeigt Chesterton, dass der Eindruck der Unberechenbarkeit nicht nur entstehen kann, weil des Menschen Herz ein unergründlicher Abgrund ist, ein „gar wunderlich Ding“, wie es bei dem Schweizer Schriftsteller Jeremias Gotthelf heißt, sondern dass das, was zunächst so willkürlich, unberechenbar oder sogar wahnsinnig erscheint, durchaus einem genau kalkulierten Plan entsprechen kann. Das scheinbar Unberechenbare an einem Verbrechen wäre dann also sein genaues Gegenteil, nämlich das Ergebnis kaltblütigster Berechnung.
    Kaltblütig sind sie alle vier, die missverstandenen Verbrecher dieses Bandes, aber nur in der Ausführung ihrer Taten, während man deren Motive durchaus warmherzig nennen muss. Im Grunde, so muss man sagen, handelt es sich nicht nur um Detektiv-, sondern auch um Liebesgeschichten, denn alle vier Verbrecher handeln nicht nur aus Nächstenliebe, sondern finden im Laufe der Geschichte auch die Frau ihres Herzens: John Hume, der „moderate Mörder“, erobert seine Barbara, John Hudson, der „aufrichtige Quacksalber“, findet seine Enid, Alan Nadoway, der „ekstatische Dieb“, seine Millicent und John Conrad, der „loyale Verräter“, seine Mary. Dass die weiblichen Figuren Erzählungen nicht einfach nur ihren Instinkten und Gefühlen folgen, sondern ihren Intellekt benutzen, um ihren Gefühlen skeptisch auf den Zahn fühlen, erhöht den Reiz der Lektüre und zeigt zugleich einen der Wesenszüge dieses vielschichtigen Autors: Chesterton erweist sich in seinen Erzählungen von den vier verehrungswürdigen Verbrechern als ein Rationalist, der dem Rationalismus nicht traut, jedenfalls nicht vollständig und bis zur letzten Konsequenz.
    Chesterton konnte auch „ein vernagelter Sinnsucher“ sein
    Chesterton war ein Bewunderer des Mittelalters und ein Gegner des Großkapitalismus, er kritisierte den britischen Kolonialismus und unterstützte die irische Unabhängigkeitsbewegung. Er bekämpfte Euthanasie und Rassenkunde, konvertierte nach einer okkulten Phase, in der er sich ausgiebig und mit großem finanziellen Einsatz spiritistischen Sitzungen und Experimenten hingab, zum Katholizismus und wurde nach seinem Tod von Papst Pius XI. mit dem Titel eines Fidei defensor, eines Verteidigers des Glaubens und der Kirche, ausgezeichnet. Unfehlbar war indes auch Chesterton nicht: Er konnte ein vernagelter Sinnsucher sein, und seine Kritik am kapitalistischen Wirtschaftssystem führte nicht nur zu etlichen Bonmots – „Das Problem des Kapitalismus ist nicht, dass es zu viele, sondern das es zu wenig Kapitalisten gibt“ –, sondern auch zu Äußerungen, die als antisemitisch verstanden und daher heftig kritisiert wurden. Wenn er etwa behauptet, der Burenkrieg hänge eng mit finanziellen Interessen jüdischer Geschäftsleute zusammen, wird er selbst zum Opfer eines jener Phänomene, die er sonst so messerscharf zu analysieren wusste: des Verschwörungswahns.
    In „Nullnummer“, seinem siebten und letzten Roman, beschäftigt sich Umberto Eco ausgiebig mit dem Phänomen der Paranoia und ihren Geschwistern, den Verschwörungstheorien. In einem der letzten Interviews, die er vor seinem Tod im Februar dieses Jahres gegeben hat, bezog er sich ausdrücklich auf Chesterton. Warum, so fragte Eco, lesen wir eigentlich Kriminalgeschichten? Die Antwort: Weil sie ebenso wie die Bibel Antwort auf eine der großen der großen metaphysischen Fragen geben: Whodunit? – Wer war es? Die Verschwörungstheorie wäre nach Umberto Eco also eine Begleiterscheinung des Säkularismus. Oder, um es mit Ecos Zitat von Chesterton zu sagen:
    „Wenn die Menschen aufhören, an Gott zu glauben, dann glauben sie nicht an nichts, sondern an alles Mögliche.“
    In „Vier verehrungswürdige Verbrecher“ fungiert der Journalist namens Pinion, der in Prolog und Epilog des Buches seinen Auftritt hat, als eine Art Beichtvater. Pinion ist natürlich ein sprechender Name: setzt man ihm den Buchstaben o voran, dann hat man das Wort Opinion, was so viel heißt wie Meinung oder Ansicht. Mr. Pinion trägt seinen Namen aber nicht, weil er Meinungen hätte, sondern weil er sie macht. Dazu dient ihm seine Zeitung, wie wir gleich sehen werden. Die vier Herren, die er in dem Londoner Club kennengelernt, vertrauen ihm das geheimste und spektakulärste Kapitel ihrer Lebensgeschichte an. Aber als sie ihre Berichte beendet haben, geschieht etwas Seltsames. Der Journalist bittet nämlich die Herren, ihm zu bestätigen, dass er sie in keiner Weise bedrängt habe, sich ihm zu offenbaren.
    „'Ich frage nur‘, fuhr Mr. Pinion in seinem freundlichen Tonfall fort, ‚weil man mich in der Zeitungswelt in meinem Heimatland als den blutrünstigen Rammbock kennt, ebenso als den Ehe-Zerstörer, den Herzens-Fahnder oder gelegentlich auch als Jack the Ripper, weil ich den Menschen so skrupellos die heiligsten Geheimnisse ihres Privatlebens entreiße. Schlagzeilen wie ‚Bulldog-Pinion nagelt den Präsidenten fes‘ oder ‚Ehe-Zerstörer hat den Skalp des schreienden Ministers‘ kommen ganz normal auf den glänzenden Nachrichtenseiten in meinem heimatlichen Bundesstaat vor. Noch heute erzählt man sich die Geschichte, wie ich an einem Bein von Richter Grogan hing, als er gerade ins Flugzeug stieg.‘
    ‚Nun‘, sagte der Doktor, ‚das hätte ich nicht von Ihnen gedacht, wie ich zugeben muss. Niemand würde von Ihnen glauben, dass Sie jemals so etwas getan hätten.‘
    ‚Das habe ich ja auch nicht‘, erwiderte Mr. Pinion ganz ruhig.“
    Der Mann, der den vier verehrungswürdigen Verbrechern so aufmerksam gelauscht hat, entpuppt sich am Ende als missverstandener Enthüllungs- und Schmierenjournalist, der seinen schlechten Ruf selbst in die Welt gesetzt hat, um diesen als Schutzschild zu nutzen und seine Vorgesetzten zu beeindrucken. Auf die Frage, ob es ihm denn nichts ausmache, für jemanden gehalten zu werden, der er in Wirklichkeit gar nicht ist, gibt Mr. Pinion Folgendes zur Antwort:
    „Ich nehme an, dass die meisten von uns in der einen oder anderen Weise missverstanden werden.
    Es trat einen Augenblick Stille am Tisch ein, dann wandte sich Dr. Judson auf seinem Stuhl mit einem Ruck um und sagte: …“
    Was Dr. Judson gesagt hat, soll hier ebenso verraten werden wie der komplizierte Plot der vier Fälle. Es geht Chesterton nämlich nur am Rande um die Handlung seiner kriminalistischen Geschichten. Führen wir lieber uns noch einmal vor Augen, was geschehen war, nachdem der letzte der vier verehrungswürdigen Verbrecher seine Untat gestanden hatte, es war der loyale Verräter, der vier seiner Parteifreunde verraten und ausgeliefert hat. Wir haben es vorhin ja schon gehört:
    „Ein kalter Hauch durchzog das Innere des sensiblen Fremden, und zum ersten Mal empfand er, dass die Luft um ihn herum seltsam düster war. Die Stille dauerte noch eine halbe Minute länger, dann brachen die vier Männer in brüllendes Gelächter aus.“
    Auch die metaphysische Dimension ist vorhanden
    Gelächter, das ist bei Chesterton mehr als nur das Signal, das gerade etwas Lustiges geschehen ist, oder dass sich eine große Anspannung auf denkbar angenehme Weise gelöst hat. Das Lachen ist das Signum des Menschen und zugleich eines der großen anthropologischen Rätsel, denn das Lachen unterscheidet ja nicht nur den Menschen vom Tier, sondern wirft auch die Frage nach seinem Zweck auf. Warum können wir lachen? Wozu brauchen wir diese Fähigkeit eigentlich? In der Antike dachte man, das Lachen sei göttlichen Ursprungs, ja, es sei eigentlich sogar den Unsterblichen vorbehalten gewesen. Bei Homer heißt es vom Gelächter der Götter, es sei unauslöschlich und klinge in den Ohren der Sterblichen wie Donnerhall. Wie mag das menschliche Gelächter in den Ohren unserer tierischen Mitgeschöpfe klingen? Chesterton, bei dem man nie die metaphysische Dimension vergessen darf, die er so vielen seiner Erzählungen mitzugeben pflegte, wandte sich derartigen Fragen mit der größten Ernsthaftigkeit zu. In seiner Schrift „Der unsterbliche Mensch“ versucht er, den Menschen aus einer anderen, nicht-menschlichen Perspektive zu betrachten:
    „Die schlichteste Wahrheit über den Menschen lautet, dass er ein äußerst fremdartiges Wesen ist, fast wie ein Fremder auf Erden. Nüchtern betrachtet besitzt er mehr von der unirdischen Erscheinung eines Geschöpfes, das fremde Gewohnheiten aus einem anderen Land mitbringt, als von einem auf dieser Erde entstandenen Wesen. Er verfügt über einen unfairen Vorteil und einen unfairen Nachteil. Er kann in seiner eigenen Haut nicht schlafen; er kann seinen eigenen Instinkten nicht vertrauen. Er ist gleichzeitig ein Schöpfer, der geheimnisvoll Hände und Finger bewegt, und eine Art Krüppel. Er geht eingehüllt in künstliche Bandagen, genannt Kleider, und stützt sich auf künstliche Krücken, genannt Möbel. Sein Geist besitzt die gleichen zweifelhaften Freiheiten und die gleichen seltsamen Beschränkungen. Als einziges unter den Tieren erschüttert ihn der herrliche Wahnsinn namens Gelächter, als hätte er Einblick getan in irgendein Geheimnis der wahren, dem Universum selbst verborgenen Gestalt des Universums.“
    Wie kann der Mensch sich selbst erkennen, wenn sogar dem Universum seine eigene Gestalt verborgen ist? Und wie sollte er erst seinen Mitmenschen erkennen, dessen Beweggründe, die Winkelzüge und geheimen Motive seines Herzens? Im Fall von Chestertons vier verehrungswürdigen Verbrechern ist der Mensch, der ja nicht ohne Grund als grausamstes aller Lebewesen gilt, dem Menschen ein lammfrommer Wolf. Man kann es drehen und wenden, wie man will: Es bleibt ein Parodoxon. Und Gilbert Keith Chesterton ist sein Meister.