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Doppelter Wozzeck

Gleich zwei Mal geht Wozzeck von Alban Berg auf die Bühne: in Stuttgart und Salzburg. Wozzeck ermordet die Marie und nimmt sich in Bergs Stück später das Leben. Beide Inszenierungen bieten eindringliche Bilder und Töne.

Von Jörn Florian Fuchs | 13.05.2012
    Was macht der kleine Elias alles durch an diesem Abend! Die Mutter mutiert vom unscheinbaren Mauerblümchen zum aggressiven Flittchen. Der Vater nimmt an merkwürdigen Experimenten teil und muss etwa eine Spezialdiät aus Hülsenfrüchten über sich ergehen lassen. Ab und an rasiert Papa seinen Boss, den brutalen Hauptmann. Später schnappt sich ein Tambourmajor die Mama für Erwachsenenspiele. Und dauernd laufen ungepflegte Männer in Unterhemden herum.

    Elias heißt mit Nachnamen Pappas, im Salzburger Landestheater spielt er die eigentliche Hauptrolle. Das Kind von Wozzeck und Marie ist nämlich die vollen 1,5 Stunden auf der Bühne und erlebt alles haarklein mit. Manchmal versucht es einzugreifen, den Lauf des gnadenlosen Schicksals zu wenden oder wenigstens kurz die Stopptaste zu drücken. Da legen sich dann verzweifelte Fingerchen um den Hals des Hauptmanns oder es gibt vergebliche Versuche, die Eltern wachzurütteln.

    Bei Alban Berg tritt zum Finale, nach dem Tod von Marie und Wozzeck, ein gehässiger Kinderchor auf und freut sich über das Mordsgeschehen. Niermeyer legt dem nunmehrigen Waisenknaben das Stimmengewirr ins eigene Gehirn, er hält sich die Ohren zu, das Lachen und Singen ertönt trotzdem – aus den Wänden und hinter den Türen ...

    Zum Glück ist für Elias Pappas die Rettung nicht weit. Seine – wirkliche – Mutter mimt nämlich die Marie. Frances Pappas' szenische Rollengestaltung ist fulminant, dazu singt sie kraftvoll, höhensicher, konzentriert. Ihrem Bühnengatten Leigh Melrose nimmt man seine Rolle ebenfalls ab, vokal geht's dabei mühelos in tiefste, dissonante Zwölfton-Abgründe.

    Das bunkerähnliche, in schummriges Licht getauchte Einheitsbühnenbild von Stefanie Seitz erweist sich als guter Spielort für sämtliche Szenen.
    Dirigent Leo Hussain meißelt mit dem Mozarteumorchester wuchtige Klangblöcke, als Kontrast gibt es luftig feine Passagen, viel Dynamik, schöne Übergänge.

    Auch der Stuttgarter Wozzeck bietet eindringliche Bilder und Töne. Andrea Moses verortet das Opernpersonal im Milieu eines Schützenvereins, man(n) ertüchtigt sich, schießt um die Wette und demütigt Frauen, aber auch männliche Außenseiter. Ein solcher ist Wozzeck. Er sorgt als Hausmeister für Ordnung, putzt und ist außerdem seinem Boss beim Rasieren behilflich. Der hat spezielle Freude an rasierten Beinen und interessiert sich zudem brennend für Wozzecks Unterhose. Gerhard Siegel spielt und singt das brillant.

    Ganz wunderbar funktioniert Christian Wiehles Drehbühne, die im Laufe des Abends immer neue Räume herbeizaubert. Es gibt eine Küche, die Schießhalle, einen Gang mit Schränken – überall bewegt Andrea Moses mit höchster Präzision Choristen und Solisten, jede Geste sitzt, jeder Auf- und Abtritt stimmt. Einzig Marie wirkt ein bisschen zu divenhaft, zu ältlich in ihrem Blumenkleid, den jugendlich heißen Feger nimmt man ihr nicht recht ab.

    Am Pult des Stuttgarter Staatsorchesters bringt Michael Schønwandt die sehr unterschiedlichen Tempi, Farben und Formen von Bergs Partitur zum Leuchten. Selten hörte man die grotesk verzogenen Walzerparodien derart packend.

    Claudio Otelli war in der Titelpartie eine Wucht, er beherrscht Schmerzensmelos ebenso wie vokale Wutattacken. Christiane Iven geriet als Marie zeitweise ins Forcieren.

    Von einem Premierenerfolg zu sprechen, scheint etwas untertrieben. Das Publikum jubelte und ertrampelte sich mehrere Vorhänge, ein einsames, aber kräftiges Buh galt der Inszenierung. Die Strategie des neuen Staatsopernintendanten Jossi Wieler, intellektuell verinnerlichtes Theater mit effektvoller Kratzbürstigkeit zu verschalten, scheint aufzugehen. Der Titel "Opernhaus des Jahres" dürfte Stuttgart kaum mehr zu nehmen sein.