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Welt-Erklärung im Bilderbuch
Hä, verstehe ich nicht

Derzeit boomen Bilderbücher, die es mit den großen Fragen des Daseins aufnehmen: mit dem Umgang mit der Welt, der Zeit oder dem Sinn des Lebens. Ihr Ton ist poetisch bis pathetisch, ihr Ansatz ambitioniert. Doch sind es Bücher, die Kinder wieder und wieder anschauen möchten?

Von Christine Knödler | 16.02.2019
    3 Bücher, die die Welt für Kinder erklären
    Die Welt verstehen?! (NordSüd Verlag und Gerstenberg Verlag)
    "Gib einem Kind grundsätzlich kein Buch, das du nicht selbst lesen würdest", sagte der Dramatiker Bernard Shaw einmal. In den meisten Fällen gilt seine Ansage: Erwachsene geben Kindern die Bücher, die sie selbst auch lesen würden. Manchmal gilt das sogar zu sehr. Das legt zumindest der Blick auf die Bilderbuch-Produktion der letzten Monate nahe. Der zeigt nämlich auffallend viele Titel, die, seien sie auch noch so kunterbunt und kindlich im Stil, eigentlich um Erwachsenenthemen kreisen. Sie stellen so genannte große Fragen.
    Der Ton dieser Bilderbücher ist poetisch bis pathetisch, der Gestus philosophisch, der Ansatz ambitioniert. Denn es geht um was – nicht selten um eine Anleitung zum richtigen Leben. Da ist zum Beispiel "Zwischen Tick und Tack" von Louise Greig und Ashling Lindsay. Hier ist Leben, auf Großstadttempo gedreht, viel zu schnell getaktet:
    "Ängstlich miaut auf einem Baum. Die Stadt ist zu beschäftigt, um es zu sehen. Doch hoch über dem Gewimmel, wo müde Flügel ausruhen, gibt es Augen, die alles sehen. Und Hände, die wissen: Es ist Zeit, die Uhr anzuhalten."
    Grau schleicht sich fort
    Das klingt poetisch, gelegentlich kryptisch. Die flächigen Illustrationen zeigen die Stadt im Dornröschenschlaf, sogar der Strahl des Kaffees, der gerade eingeschenkt wird, erstarrt. Währenddessen malt Liesel bunte Blumen an Wände:
    "Grün, Rosa und Rot leuchten. Grau schleicht sich fort.
    Die schmale Gasse fühlt sich schön und flüstert: Danke."
    Es bedarf schon einiger Übersetzungsanstrengung, um zu verstehen, was hier erzählt wird. Liesel versöhnt die, die streiten. Sie tröstet die, die traurig sind. Sie pflückt Ängstlich – übrigens: ein Kätzchen – vom Ast. Für einen Augenblick, eben zwischen Tick und Tack, macht dieses kleine Mädchen im Pippi-Langstrumpf-Look mit Ringelsocken, feuerwehrrotem Haar-Kometenschweif und roter Notfall-Einsatz-Tasche vor, was richtig ist.
    "Und aus dem Fenster hoch oben bläst sie Grau weit, weit fort."
    Für wen ist die Anleitung zu einem besseren Leben gedacht?
    Dass gerade ein Kind die Bedeutung der Zeit ermisst, ist spätestens seit Momo bekannt. Bis heute haben die grauen Herren das Sagen. Gegen die auf Ausbeutung getrimmten Zeitfresser verhalf Momo in den 70er-Jahren dem Spiel, dem Erzählen, der herrlichen Zwecklosigkeit der Fantasie zu ihrem Recht. Im Falle von Liesel aber geht es ums Innehalten. Es geht darum, in all dem Lärm und Radau und Schnelllebigkeit moderner Zeiten das Wesentliche nicht aus den Augen zu verlieren.
    Selbst wenn Kinder bis hierhin mitgegangen sind, bleibt die Frage: Beschäftigt sie, die Meister des gelebten Augenblicks, solche Erwachsenen-Sehnsucht?
    Für wen ist diese Anleitung zu einem besseren Leben also gemacht? Der Autor und Illustrator Oliver Jeffers positioniert sich explizit. "Hier sind wir" ist, so der Untertitel, eine "Anleitung zum Leben auf der Erde". Das Bilderbuch ist seinem Sohn gewidmet:
    "Ich habe dieses Buch in den ersten zwei Monaten deines Lebens geschrieben, als ich versuchte, mir auf das Ganze einen Reim zu machen. Folgendes will ich dir mit auf den Weg geben."
    Es beginnt ein Rundgang über die Erde im Doppelseiten-Takt, zu Land, zu Wasser, in den Himmel bis ins All, zu Menschen, Tieren, Sternen. Manche der Bilder erzählen Geschichten, sie ermöglichen Entdeckungen. Dann blinken Leuchttürme in der Dunkelheit, Dampfer setzen über, dann ist das Meer unter Wasser voller Abenteuer. Doch meistens stehen die Ratschläge im Vordergrund. Sie heißen: Trage Sorge für deinen Körper, nutze die Zeit, sei nett, oder:
    "So. Das ist sie also, die Erde. Pass gut auf sie auf. Sie ist alles, was wir haben."
    Ida und der fliegende Wal
    Der Impuls ist nachvollziehbar: Der Wunsch nach Welt-Erklärung und Selbst-Versicherung der Erwachsenen wird zur Wegweisung für Kinder. Doch was davon kommt bei ihnen an, und zwar im doppelten Sinne? Sind das die Bilderbücher, an deren Ende Kinder "Noch mal!" sagen, die sie wieder und wieder anschauen möchten? Diese Frage stellt sich auch bei "Ida und der fliegende Wal" von Rebecca Gugger und Simon Röthlisberger:
    "Ida saß oft hoch oben vor ihrem Baumhaus und fragte sich, was wohl hinter der Sonne, dem Mond und den Sternen sein mochte."
    Bis ein Wal vorbeisegelt und Ida mit auf eine Reise nimmt:
    "Richtung irgendwo ins Nirgendwo. Mitten im Wolkenvorhang erzählten sie einander allerlei. Von Kleinem und Großem. Von Normalem und Besonderem. Von Bekanntem und Fremden."
    Was das sein kann, zeigen die Illustrationen: merkwürdige Tiere, eine Karotte auf Beinen, eine Gitarre, ein Papierbötchen. Es zeigt ein Sturm und sogar das Nichts. Auf der weißen Seite sind die skizzierten Gegenstände in silbergrauem Spotlack kaum sichtbar. Nicht nur Ida steht der Mund vor Staunen weit offen.
    Der Wal flüstert eine Deutung:
    "Warte ab und schau dich um. Manchmal ist da mehr, als man denkt."
    Und als Ida sich auf dem Walrücken einsam und traurig fühlt, weiß der Wal:
    "Manchmal, da schweigt man zusammen. Manchmal, da verliert man sich aus den Augen. Aber trotzdem ist man nah – die ganze Zeit schon."
    Wie Kinder lesen
    "Hä? Versteh ich nicht!", sagt vielleicht das zuhörende Kind. Zumindest wäre das zu wünschen. Denn auch wenn die Sätze in der Essenz stimmen mögen – derart auf Poesiealbumsweisheit eingedampft, bieten sie keine Spielräume. Dabei steht außer Frage, dass Kinder wissen, wie es sich anfühlt, allein oder traurig zu sein, dass es sie beschäftigt. Nur fehlt hier jede konkrete Geschichte, es fehlt etwas Vertrautes, an das Kinder anknüpfen könnten. Es fehlt der Zusammenhang.
    Genau das ist aber wichtig für Kinder, weiß Thomas Heyl, selbst Bildender Künstler und Professor für Kunst und deren Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Er beschäftigt sich damit, wie Kinder Bilder lesen und verstehen:
    "Lernen ist immer Anknüpfen. Also Lernen ist nicht abstrakt. Sobald es keinen Anschluss gibt und die Frage so deduktiv von irgendwoher kommt – diesen Zusammenhang herzustellen, sehe ich schon eher abwegig. Also ich glaub schon, dass man aus guten Gründen vom Kind aus denkt und von den Erfahrungen, die Kinder halt in dem Alter machen."
    Ein Bild aus "Ida und der fliegende Wal" hat Thomas Heyl genauer angeschaut: Darauf: Der Blick aus extremer Vogelperspektive auf Idas Stelzen-Häuschen. Der Wal ist, derart radikal von oben gezeichnet, als Fisch kaum zu entschlüsseln, die Augen fehlen, die Flossen sind nicht zu erkennen. Es ist ein nur schwer lesbares Bild. Thomas Heyl attestiert:
    "Man kann’s machen, aber die Frage ist, ob Kinder in dem Alter damit was anfangen können. Ich sehe hier einen hohen Reiz, den Erwachsene sehen, im Perspektivenwechsel, aber die Möglichkeit des Kindes, sich auf dieser Seite wieder orientieren zu können und das auch genussvoll zu machen, weil es eben diese Muster wiedererkennt – das sehe ich jetzt hier nicht."
    Welterklärungs-Karussell zur Lebensbewältigung dreht sich weiter
    Was für das Bild gilt, lässt sich auf den Text übertragen. Fast scheint die Radikalität des Perspektivwechsels eine Metapher zu sein für diese Art Bilderbücher: Die Abstraktion bis zur Unkenntlichkeit, die Erwachsenen-Sicht von sehr weit oben lässt Kinder außen vor. Die bekommen keine Geschichte erzählt, sondern fertig Gedachtes präsentiert. Das können sie glauben – sich selbst einbringen können sie nicht.
    Dabei ist das Selbstverständnis ein anderes: "Zwischen Tick und Tack", "Hier sind wir" und "Ida und der fliegende Wal" wollen Kindern etwas mitgeben. Es sind Bilderbücher, die Welt erklären – vielleicht, um sie besser zu verstehen.
    Bleibt noch, so zu erzählen, dass Kinder sie auch besser verstehen. Dass Kinder sich angesprochen fühlen und angesprochen sind. Dazu noch mal Thomas Heyl:
    "Die Erfahrungen zeigen wohl vielfältig bei Pädagogen und nicht zuletzt auch Eltern, dass die Kinder mit den grafischen Freiheiten, mit den künstlerischen Freiheiten, mit diesen Konzepten, die zum Teil auch abstrakt sind, durchaus umgehen, aber ob sie sie wirklich mögen, das steht bestimmt auf einem anderen Blatt.
    Das geht uns ja auch so: Wenn uns was geläufig ist, ist uns das manchmal auch lieber als die ständige Konfrontation mit dem Unbekannten, mit dem Fremden, mit dem Schwierigen."
    Doch das Welterklärungs-Karussell zur Lebensbewältigung dreht sich weiter: Im Frühjahr steht eine "Gebrauchsanweisung gegen Traurigkeit" an, "Ich und meine Angst" nimmt es mit einem großen Gefühl auf. Wie diese Bilderbücher gemacht sind und für wen, wird sich zeigen. Zeit ist es jedenfalls, noch mal an Bernhard Shaw zu erinnern. Sein Satz "Gib Kindern grundsätzlich kein Buch, das du nicht auch selbst lesen würdest" braucht eine Ergänzung: ... aber vergiss dabei nicht, Kindern die Bücher zu geben, die sie lesen würden.
    Louise Greig/ Ashling Lindsay: "Zwischen Tick und Tack"
    aus dem Englischen von Uwe-Michael Gutzschhahn
    Gerstenberg Verlag, 13,95 Euro, ab 4 J.
    Rebecca Gugger & Simon Röthlisberger: "Ida und der fliegende Wal"
    NordSüd Verlag
    15 Euro, ab 4 J.
    Oliver Jeffers: "Hier sind wir. Anleitung zum Leben auf der Erde"
    übersetzt von Anna Schaub
    NordSüd Verlag, 16 Euro, ab 4 J.