Internationaler Roma-Tag

Romanistan – immer noch eine Utopie

05:11 Minuten
Hamze Bytyci und DeLaine Le Bas , die Organisatoren der die Roma Biennale.
Hamze Bytyçi und DeLaine Le Bas organisieren die Roma Biennale in Berlin. © Nihad Nino Pusija
Von Gerd Brendel · 08.04.2021
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In Berlin steht ein Mahnmal für die von den Nationalsozialisten ermordeten Sinti und Roma. Nach wie vor kämpfen diese ethnischen Gruppen um gleiche Rechte und träumen von einem „Romanistan“. Die Roma Biennale und die Romday Parade erinnern daran.
Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich das Wort "Roma" zum ersten Mal hörte: Es war auf dem Kirchentag 1983 in Hannover. Da erklärte mir eine freundliche alte Frau, dass sie nicht Zigeunerin genannt werden wollte, sondern Roma, weil das Wort Zigeuner von "herumziehender Gauner" stammt. Daran musste ich jetzt wieder denken.

Am Nachmittag vor dem Mahnmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma. Auf einem bunt bemalten Kleinlaster spielt eine Band die Hymne der Roma und Sinti.

Ein S-Bahntunnel unter dem Mahnmal

Handeln sei geboten, sagt Hamze Bytyçi, Initiator der Roma Biennale und der "Romaday Parade", die im Anschluss vom Tiergarten zum Amtssitz der Senatorin für Verkehr zieht. Denn die Berliner S-Bahn plant einen Tunnel unter dem Mahnmal.
Zwar wurde nach Protesten darauf verzichtet, den Kern der Anlage für die Dauer der Bauarbeiten umzugraben, aber der Kompromiss mit Baugruben in direkter Nachbarschaft stößt auf immer mehr Widerstand.
"Die Brunnenschale wird nicht berührt, aber wenn die Hälfte der Bäume weg ist, dann wird das zur Autobahn", erläutert Hamze Bytyçi. "Und die Nachfolgeorganisation der Reichsbahn sollte sich hüten, überhaupt was zu sagen, was mit der Minderheit zu tun."
Deren Mitglieder wurden auf Zügen der Reichsbahn in die Konzentrationslager verschleppt. Daran erinnerten heute Roma in der ganzen Welt. Aber vor allem steht der 8. April als Romaday für ein historisches Datum vor 50 Jahren.
Damals, im Frühjahr 1971, trafen sich Delegierte aus einem Dutzend Länder in London zum ersten Roma-Kongress. Es war die Geburtsstunde eines neuen Selbstverständnisses.
"Wir saßen in der Bibliothek und fragten uns: Ist das jetzt ein Vorbereitungstreffen, oder schon der eigentliche Kongress? Und alle haben gerufen: 'Das ist jetzt der Kongress!' Und einer unserer ersten Beschlüsse war, den 8. April zum Roma Nation Day zu erklären", erinnert sich der Organisator Grattan Puxon.

Fahne, Hymne, Selbstbezeichnung

Und noch etwas beschlossen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer: Eine Fahne für eine eigene Nation ohne eigenes Staatsgebiet, eine Hymne und die Selbstbezeichnung "Roma" – von der ich erst Jahre später auf einem Kirchentag in Westdeutschland hörte.

"Wir forderten länderübergreifende Einheit, als die Welt geteilt war. Das allein schon war ein mutiger Schritt." Denn in London kamen die Delegierten von beiden Seiten des Eisernen Vorhangs, sagt Željko Jovanović, Direktor des Open Society Roma Initiatives Office, das zu der vom Multimilliardär Georges Soros gegründeten Open Society Foundation gehört.
Am Internationalen Roma-Tag wurde vom Bezirksamt Neukölln vor dem Rathaus Neukölln die Roma-Fahne gehisst.
Zeichen setzen: Am Rathaus Neukölln in Berlin weht anlässlich des Internationalen Roma-Tages die Roma-Fahne.© picture alliance /dpa / Christophe Gateau

Live-Schalte aus London

Jovanović und Puxon waren am frühen Abend in einer Onlinediskussion zum Romaday zu hören. Gestreamt wurde vom Berliner Maxim Gorki Theater auf der Seite "Romanistan.com". Dort wurde nicht nur die Roma-Parade aus Berlin übertragen, sondern auch Diskussionen, Grußworte von Roma-Vertreterinnen und Vertretern aus ganz Europa, die virtuelle Eröffnung der zweiten Roma-Biennale mit Kunstwerken von 50 Künstlerinnen und Künstlern und eine Live-Schaltung von einer Demonstration vor dem britischen Parlament. Denn nach dem Brexit sind in England vor allem europäische Sinti und Roma von der Ausweisung bedroht.
Romanistan, das imaginäre Land der Roma mit gleichen Rechten wie die Mehrheitsgesellschaften, in denen Romas überall in Europa leben – es ist immer noch Utopie.
Mir fällt die alte Frau ein, die mir vor einer halben Ewigkeit davon erzählte, und ich nehme mir vor: Das nächste Mal, wenn ich am Mahnmal für ihre ermordeten Angehörigen vorbei komme, lege ich eine Rose auf eine der Steinplatten.
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