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Der Bock als Gärtner

Das Hannah-Arendt-Institut war 1993 aus der Taufe gehoben worden, um das Schicksal von Diktatur-Opfern zu erforschen. Nun wird dem dort beschäftigten Historiker Michael Richter vorgeworfen, zu DDR-Zeiten für die Stasi gearbeitet zu haben.

Von Joachim Güntner | 23.11.2010
    Im Westen sollte der verdiente Spitzel als Auslandsagent für die Stasi weiterwirken, aber angeblich kappte Richter den Draht und gab sich bundesdeutschen Behörden zu erkennen. Er brachte sein abgebrochenes Theologiestudium zu Ende, studierte außerdem Geschichte und Politik. Die Konrad-Adenauer-Stiftung nahm ihn unter ihre Fittiche, und Michael Richter revanchierte sich mit einer Doktorarbeit zur Geschichte der Ost-CDU, und zwar, so der Titel, einer Geschichte zwischen "Gleichschaltung und Widerstand". 1994, in der Aufbauzeit nach der Wende, ging er zurück nach Ostdeutschland: Das frisch gegründete Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung in Dresden stellte ihn als wissenschaftlichen Mitarbeiter ein.

    Ausgerechnet, wird man sagen. Ausgerechnet eine Einrichtung, die in Sachsen
    1993 aus der Taufe gehoben worden war, um das Schicksal von Diktatur-Opfern zu erforschen, ihr Andenken zu bewahren, die Strukturen von NS-Diktatur und SED-Staat zu analysieren und an jene zu erinnern, die gegen Gewaltherrschaft Widerstand geleistet haben - ausgerechnet an einem solchen Ort der Totalitarismusforschung kommt ein Ex-Spitzel zum Zuge? Das hieße doch, den Bock zum Gärtner machen. Einst Handlanger der Repression, mutierte Richter nun zum Analytiker der Repression, ein Dunkelmann als Aufklärer. Die Runde im Institut machte Richters vollständige Stasi-Vergangenheit erst vor ein paar Wochen, als sich seine Verpflichtungserklärung als IM von 1979 und ein dickes Dossier mit seinen Spitzelberichten fand. Und richtig aufgeflogen, so, dass es auch die Öffentlichkeit erfuhr, ist das Sache erst dieser Tage.

    Dabei war Michael Richter von Verdächtigungen nie ganz frei. Doch mit dem Wissen oder Halbwissen und der Duldung von Institutsleitung und Teilen der sächsischen Regierung konnte er sich ein Leben als festangestellter Zeithistoriker einrichten. Wer als Lehrer nach der Wende in Ostdeutschland als ehemaliger Stasi-Mann enttarnt wurde, verlor seinen Job. Viele mussten gehen, die weniger Verrat geübt hatten als der "IM Thomas" alias Richter. Am Hannah-Arendt-Institut aber sei kein einziger Mitarbeiter diesbezüglich überprüft worden, sagte mir Michael Beleites, der sächsische Beauftragte für die Stasi-Unterlagen.

    Damit sind wir beim Fall Richter als Fall des Hannah-Arendt-Instituts. Als Fall im doppelten Sinne des Wortes: als Casus und als Absturz, als ein Herunterfallen vom wissenschaftlichen Podest. Dass Michael Richter offenkundig auf einem CDU-Ticket ins Institut gelangt ist, dass ihn Gegner als "Haus- und Hofchronisten der CDU" beschimpfen und dass er hinter dem Rücken der Direktoren als zuverlässigster Ansprechpartner für CDU-Abgeordnete aus dem sächsischen Landtag agiert haben soll, passt ins Bild, ist aber vielleicht nicht einmal entscheidend für die Problematik, die das Hannah-Arendt-Institut grundsätzlich kennzeichnet. Ins Leben gerufen durch eine Initiative der CDU-Fraktion im Sächsischen Landtag und 1993 eröffnet, war das Institut von Anfang an mit Geschichtspolitik belastet.

    Zu diesem Ergebnis kam auch vor drei Jahren eine Strukturkommission, deren nicht-öffentlicher Evaluierungsbericht mir vorliegt. Die mit renommierten Historikern besetzte Kommission empfahl eine "Reduzierung außerwissenschaftlichen Einflusses", zu deutsch: einen stärkeren Rückzug der Landespolitik aus den Gremien des Instituts. Mit seinen Publikationen wirkt das Hannah-Arendt-Institut bis in die sächsischen Schulen hinein, seine Arbeiten bestimmen das offizielle Geschichtsbild mit. Es habe, beanstandete die Strukturkommission wörtlich, "nicht hinreichend zwischen wissenschaftlichem Erklärungs- und politisch-moralischem Aufklärungsanspruch unterschieden." Man könnte auch sagen: Zu seiner Volkspädagogik gehörte eine allzu simple Totalitarismustheorie, die NS-Diktatur und SED-Regime gleichsetzte und vor diesem Hintergrund das heute bürgerlich regierte, befreite Sachsen umso heller leuchten lassen sollte. Totalitarismustheorie als Gründungsmythos. Es ist das Dilemma des Hannah-Arendt-Instituts, dass es sich mit einer historischen Vergangenheit beschäftigen muss, die direkt ins Institut hineinreicht. Die Wunden sind noch frisch, die Geschichte ist noch nicht kalt, die Parteilichkeiten erschweren objektive Wissenschaft. Unter solchen Bedingung wurde der Fall Richter möglich.