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Lucky Streik

Am 29. Oktober 1997 protestierten 8000 Studierende der Justus-Liebig-Universität Gießen gegen den Studiennotstand. Es war der Beginn einer bundesweiten Protestbewegung ungeahnten Ausmaßes.

Von Anke Petermann | 29.10.2007
    Mit Streikbeginn besetzen Wachposten Hörsäle, Seminarräume und die Verwaltung. Ralph Wildner, heute Lehrer, damals Gießener Streik-Aktivist der ersten Stunde, deutet im Uni-Hauptgebäude auf einen marmorgetäfelten Treppenabsatz vor einer riesigen Gedenktafel für die im ersten Weltkrieg gefallenen Universitätsangehörigen: das "Schlafzimmer des Protests".

    "Der friedliche Protest schlief dann unter dieser Tafel, die unten noch die Aufschrift trägt "zur Wissenschaft und zu den Waffen, zu beidem bereit". Nun, das waren wir nicht. Und die Wissenschaft war nicht so recht für sie bereit? Das war tatsächlich die Angst, der Protestauslöser bundesweit, dass die Wirtschaft vor allem aber die Wissenschaft keine angemessen Posten mehr für sie bereit halten würde und dass das Dazugehören zur Gesellschaft in Frage gestellt sein würde. Deshalb war die Stoßrichtung ganz anders als ´68 nicht eine radikale Distanzierung, ein Auszug aus der Gesellschaft sondern ein Hinein, ‚nehmt uns bitte mit’, und das erklärt den Charakter des Streiks."

    Rein in die Gesellschaft, also erst mal rein in die Gießener Fußgängerzone - mit Blutspendeaktionen, Motto "Bluten für die Bildung", wahlweise auch "Baden für die Bildung" oder sogar "Strippen für die Bildung". Ein gut gelaunter, sympathischer, ein "Lucky Streik" eben, für den die Leute auf der Straße Verständnis zeigen, als sich die Protestbewegung im Lauf des Novembers ’97 bundesweit ausdehnt, zunächst nach Frankfurt am Main:

    "Dass die Studenten ihre Rechte beanspruchen für die Zukunft, das find’ ich in Ordnung. Genial, dass sie endlich mal wieder auf die Straße gehen."

    Demonstranten-Sprechchor:
    "Bildung für alle, sonst gibt’s Krawalle…"

    Studentin: "Wir gehen auf die Straße weil’s überhaupt kein Geld mehr für die Bildung gibt. Es ist das Ziel der Bildungspolitik, Bildung nicht mehr für alle offen zu halten. Also die Strategie, dass die Unis so stark gekürzt werden finanziell, dass es nicht mehr weiter geht, läuft meiner Ansicht nach, darauf hinaus, dass Studiengebühren eingeführt werden sollen, dass Studentenzahlen verringert werden sollen, und da sind wir dagegen."

    Teile der Professorenschaft und Hochschulleitungen unterstützen die Streiks, die Ende 1997 nach und nach hundert Hochschulen erfassen. Landes- und Bundespolitiker ersticken die aufmüpfigen Jungakademiker geradezu mit Lob und schieben sich gegenseitig die Schuld an der Misere zu, erinnert sich der damalige Giessener Asta-Referent Ralph Wildner.

    "Manche haben das ‚Verantwortlichkeits-Pingpong’ genannt, und es sah so aus, als ob man die Protestbewegung tot laufen lassen wollte, indem man überall Verständnis äußerte."

    Doch die Studierenden lassen nicht locker. "Rüttgers, wir kommen, du hast dich schlecht benommen", skandieren 50.000 Demonstranten beim bundesweiten Protestmarsch Ende November ’97 in Bonn. 130.000 sind es bei dezentralen Demonstrationen Anfang Dezember. Der Protest verhallt weitgehend ungehört. Immerhin spendiert der Bundesbildungsminister von der CDU 40 Millionen D-Mark für die Bibliotheken. Michael Breitbach, Gießener Universitätskanzler, resümiert:

    "Woran die Länder nicht gearbeitet haben, auch hier in Hessen nicht, ist die Verbesserung der Grundausstattung."

    Stattdessen tritt ein, was die damals Protestierenden ausdrücklich nicht gewollt hatten, so der Giessener Universitätspräsident Stefan Hormuth mit Blick auf Hessen:

    "Wir haben inzwischen zusätzliche Mittel durch Studienbeiträge - man kann das positiv formulieren: Die Landesregierung hat erkannt, dass die finanzielle Ausstattung für die Lehre nicht ausreichend ist. In Hessen muss das erst noch vom Staatsgerichtshof entschieden werden. Wenn der Staatsgerichtshof diesen Weg, den die Landesregierung gewählt hat, für verfassungswidrig in Hessen hält, muss die Landesregierung dieses Geld auf andere Weise zur Verfügung stellen."

    Die Demonstranten gingen auch gegen die Marktanpassung des Studiums und für mehr Demokratie an den Hochschulen auf die Straße. Ihre Nachfolger ernten…

    "… die Zweiteilung des Studiums in einen berufsqualifizierenden und einen wissenschaftsorientierten Teil, eine Verkürzung der Studienzeiten durch verschiedene Maßnahmen, die Möglichkeit der Hochschulen, sich die Studierenden selbst auszusuchen und Globalhaushalte, die letztendlich nur der Verantwortung der Hochschulleitung unterliegen – das alles sehen wir jetzt verwirklicht. Gut, dann müssen wir sagen, dann hat alles Protestieren gar nichts gebracht."

    Aber: Ralph Wildner lächelt dazu. Er und seine Mitstreiter haben Bildung in Deutschland zum Mega-Thema gemacht, so formulierte es der damalige Bundespräsident Herzog. Eltern und Großeltern protestieren in Hessen heute mit gegen Studiengebühren. Die von 72.000 Unterschriften getragene Volksklage dagegen und die rot-grüne Verfassungsklage – vielleicht auch sie Langzeiteffekte des Lucky Streik.