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60. Geburtstag von Hans Pleschinski
"Ich will mich nicht durch das Dritte Reich identifizieren lassen"

"Mir ging es immer darum, Historie wachzurufen", sagte der Schriftsteller Hans Pleschinski anlässlich seines 60. Geburtstages im Deutschlandfunk. Dabei wolle er seine Leser vor allem an die vergessenen "Highlights" deutscher Geschichte erinnern, "damit wir etwas anderes in unserer Identifikation haben als das schäbige Dritte Reich".

Hans Pleschinski im Gespräch mit Hajo Steinert | 23.05.2016
    Der Schriftsteller Hans Pleschinski, aufgenommen am 10.10.2013 auf der 65. Frankfurter Buchmesse in Frankfurt am Main (Hessen). Pleschinski trägt ein rostrotes Jackett über einem hellblauen Hemd, sitzt auf einer dunkelblauen Couch und blickt in die Kamera.
    Der Schriftsteller Hans Pleschinski auf der Frankfurter Buchmesse 2013 (picture alliance / dpa / Arno Burgi)
    Hajo Steinert: 23. Mai, vor 60 Jahren kam in Celle ein Knabe auf die Welt, aufgewachsen in der Lüneburger Heide, hart an der Grenze zur DDR – Zonenrandgebiet nannte man das damals –, eine Jugend im deutsch-deutschen Grenzland.
    Ein Knabe also aus der Provinz, lesehungrig, der sich nach dem Abitur ermannen wird, im fernen München Germanistik, Romanistik, Theaterwissenschaften zu studieren, beim Radio zu arbeiten, in Galerien und anderen schicken Kultureinrichtungen heranzureifen zu einem der intellektuell charmantesten, literarisch stilvollsten und dabei auch unterhaltsamsten Schriftsteller seiner Generation. Herzlichen Glückwunsch, Hans Pleschinski!
    Hans Pleschinski: Vielen Dank, Herr Steinert!
    Steinert: Sie sind nicht errötet bei meinen Lobesworten gerade.
    Pleschinski: Ich bin von einem Kurzurlaub noch etwas gebräunt, und daher sieht man im Radio die Röte ohnehin nicht sehr gut.
    Steinert: Viel unterwegs: Sie waren in Kreta vor Ihrem 60. Geburtstag.
    Pleschinski: Ja, zwischen den Lesereisen muss man mal ausschlafen.
    "Wenn man Menschen erreicht, die wirklich literatur- und kulturhungrig sind, das erfreut zutiefst"
    Steinert: Was erfüllt Sie mit großer Feierlichkeit in diesen Tagen – 60 Jahre zu erreichen oder auf ein literarisches Oeuvre zurückzuschauen, das mit der Entwicklung immer erfolgreicher wurde?
    Pleschinski: Die 60 Jahre sind noch gar nicht richtig zu mir gedrungen muss ich sagen. Das ist so eine diffuse Zahl, und das kennt wahrscheinlich jeder. Wenn man morgens in den Spiegel schaut, könnte man sich auch auf 180 schätzen.
    Steinert: Kann ich gar nicht bestätigen!
    Pleschinski: Und wenn ich ganz großes Glück habe, sagt jemand, der Platz ist dort reserviert, junger Mann! Das sind dann die Glücksmomente. Stabiler ist der Rückblick auf das literarische Arbeiten, das mich doch seit Jugend an erfüllt hat und eine vielleicht wachsende Bestätigung gefunden hat. Eine stetig wachsende Bestätigung, das ist sehr schön und befriedigend, ja.
    Steinert: Sie haben das Wort Glück gebraucht – was sind die großen Glücksmomente in Ihrem literarischen Leben?
    Pleschinski: Jedes Buch von mir – ich glaube, es sind 17 oder 18 – ist ein Kind. Es gibt einen doch sehr aufregenden Zeugungsakt. Da kann viel Glück dabei sein, viele Glücksgefühle. Gute Besprechungen lösen ein erstaunliches Glücksgefühl aus, auch Lesungen, auch in der Provinz gerade, was ich gerne tue, wenn man Menschen erreicht, die wirklich literatur- und kulturhungrig sind, das erfreut zutiefst. Nicht, dass man dann jubelnd durch die Straßen einer Kleinstadt springt, aber es gibt dem Leben Sinn.
    Steinert: Sie sprechen von Glück. Zum Glück eines Vaters – und wenn es auch nur ein Buchvater ist – gehört natürlich auch der Stolz des Vaters. Der stolzeste Moment in Ihrem Leben …
    Pleschinski: Die Bücher sind, wie gesagt, meine Kinder, die springen frei in der Welt herum, legen sich manchmal schlafen, wachen dann wieder sehr lebendig auf. Ich selbst lese sie nicht wieder, aber es gibt einige Bücher, die mich dann doch auch wegen der geleisteten Arbeit mit einem gelinden Stolz erfüllen.
    "Ich hatte das unglaubliche Privileg, drei Jahre mit Madame de Pompadour zusammenzuleben"
    Zum Beispiel der Roman "Brabant" aus den 90er-Jahren, das sind ja dann auch mal drei Jahre Arbeit, oder der "Briefwechsel Voltaire – Friedrich der Große", den ich übersetzt habe, drei Jahre Arbeit, wo ich dann aber auch zum Beispiel mit Voltaire und Friedrich dem Großen zusammenlebte, oder bei den Briefen der Madame de Pompadour, die ich übersetzt habe. Ich hatte das unglaubliche Privileg, da drei Jahre mit Madame de Pompadour zusammenzuleben, und wir nennen uns du – sie ist Jeanne und ich bin Hans für sie.
    Steinert: Was hat sie für eine Stimme?
    Pleschinski: Sehr apart. Sie ist sehr freundlich zu mir. Madame de Pompadour ist eine sehr kluge Frau, und manchmal in Entscheidungsnöten kann ich mich auch an sie wenden, und sie weiß immer sehr guten Rat. Sie ist da Diplomatin.
    Steinert: Die große Geliebte von Ludwig XV. (*), da haben Sie die Briefe herausgegeben. Da sprechen Sie einen Punkt an, den ich jetzt eigentlich noch gar nicht ansprechen wollte, nämlich Ihre – das meine ich jetzt eher emphatisch –, Ihre Seligkeit vergangenen literarischen und künstlerischen und kulturellen Epochen betreffend.
    Aber Sie sprachen von Provinz: Lassen Sie uns über die Provinz ganz kurz sprechen. Wir haben uns nämlich kennengelernt, wir zwei, und die Hand geschüttelt, ein kurzes schamhaftes Gespräch miteinander geführt 1984 eben in der Provinz, das war in Siegen. Man stelle sich einmal vor, ein literarischer Buchdebütant hat in einem Jahr gleich drei Bücher vorgelegt.
    "Einen modernen Roman", so der Untertitel, "Nach Ägypten", eine Reise aus dem Schwäbischen bis hin nach Venedig, und aus der Suche nach Entwicklungsmöglichkeiten, nach der Suche zur Kunst, zum Künstlertum, zur Boheme dazuzugehören. Das war eine Geschichte von Ihnen. Dann waren die "Frühstückshörnchen" in dem kleinen Machwerk-Verlag damals in Siegen erschienen.
    Pleschinski: Ein Satireband.
    "Gabi Lenz" war "ein neuer Ton in der deutschen Literatur"
    Steinert: Ein Satireband, wie überhaupt das Satirische am Anfang eine große Rolle bei Ihnen spielte. Dann gab es noch die "Gabi Lenz. Werden und Wollen", auch dies ein Buch, das angetreten war, den Zeitgeist ein bisschen zu karikieren satirisch, diese neue Innerlichkeit, als Gedichte geschrieben wurden, die dann einen vertrockneten Teebeutel im Aschenbecher beweinten, und dann hatten Sie diese Sachen vorgelegt, und dann auch den Literaturpreis bekommen mit dem schönen Titel Hungertuch.
    Pleschinski: Ja, Hungertuch-Preis – das ist kein sehr günstiger Name für einen Literaturpreis, aber wurde damals vom VS Hessen verliehen für ein Erstlingsbuch. Das war sehr fatal. Man musste auf der Frankfurter Buchmesse vorlesen. Ich war sehr jung auch. Es gab auch einen saarländischen Autor, der busweise Saarländer hatte einfahren lassen.
    Das Publikum stimmte ab, und trotz der Busse voller Saarländer habe ich dann den Hungertuch-Preis gewonnen – 1.000 Mark, das war wunderbar, und Auftritt im Frankfurter Römer. Das hing alles mit diesem Buch "Gabi Lenz" zusammen. Das war eigentlich das Sprungbrett und vielleicht damals ein neuer Ton in der deutschen Literatur.
    "Ich bin bis vor Kurzem kein Bestsellerautor gewesen"
    Steinert: Das Buch, das Sie mit Stolz heute erfüllt, das wollte ich auch noch mal erwähnen, da gab es ja durchaus widersprüchliche Rezeptionen, das war "Brabant: Ein Roman zur See". Ein Kulturbund tritt da auf, Artemis und fast 50 europäische Intellektuelle reisen auf einem Schiff, einem Dreimaster, einem historischen Schiff nach Amerika, um zu protestieren auch gegen ein Disneyland, das ausgerechnet auf antikem Boden bei Rom gebaut wird.
    Das ist ein satirischer Stoff, der immer noch aktuell ist. Als ich jetzt dieses Buch noch mal wieder gelesen habe, kam ich darauf, hallo, das könnte man eigentlich wieder mal in See setzen dieses Schiff, und dann mal zu Mister Trump fahren lassen und ein wenig auch da etwas satirisch aufs Korn zu nehmen. Ein praller Gegenwartsstoff damals eigentlich.
    Pleschinski: Ja, sicherlich immer noch. Ich bin bis vor kurzem kein Bestsellerautor gewesen – hat sich etwas geändert, das schwankt ja auch –, aber wenn man Glück hat und die richtige innere Intention, sind doch viele Longseller entstanden. Das finde ich sehr schön. Der Roman "Brabant" ist so etwas. Es gibt auch ein grandioses dreistündiges Hörspiel von diesem Roman.
    Aber ich wollte vielleicht doch noch mal, Herr Steinert, zurückgehen zu "Gabi Lenz": Das war nicht nur für mich ein neuer Anfang. 1984, ich beendete das Studium, ich hatte Bücher geschrieben, man sucht dann Verlage, abenteuerliche Begebenheiten sind das. Damit könnte man Stunden füllen über die Anekdoten. Der Roman erschien gleich nach meinem Studium und fand einen enormen Widerhall.
    Der neue Ton, der mich dann weiter auch geprägt hat, war vielleicht eine gewisse Frechheit, Lebenslust und sich nicht dem deutschen Jammergehabe hinzugeben. Das war neu und für mich ein inneres Anliegen, nicht in dieses deutsche Dauerlamento einzustimmen. Lamentieren kann man noch früh genug, aber ich fand das richtig widerlich, wenn junge Autoren mit 20, 25 Jahren die Welt nur als eine schwarze Wüste sehen und davon Zeugnis ablegen. Das ist furchtbar.
    "Mit einem Potenzial von Hoffnung und Ideen ans Leben treten"
    Ich finde, man muss erst mal mit einem Potenzial von Hoffnung und Ideen ans Leben treten. Das Finstere stellt sich früh genug ein. "Gabi Lenz", die erfundenen Biografie einer deutschen Innerlichkeitsautorin, erregte dann, in der Schweiz erschienen – besonders auch in der Schweiz –, viel Aufsehen. War wohl offenbar so geschrieben, dass Menschen auch die Bücher von Gabi Lenz beim Verlag bestellten, die es gar nicht gibt.
    Titel wie "Das schwarze Blut der Einsamkeit" oder "Kommt der Sand in die Wüste", so deutsches Innerlichkeitszeug, und das habe ich immer von mir ferngehalten. Auch in diesem Roman "Brabant". Mir ging es immer darum, eine Geschichte zu erzählen, etwas auch zu erfinden, glaubhaft zu erzählen, viel Welt einzubeziehen und vor allen Dingen auch Historie wachzurufen. Das war oder ist vielleicht immer noch ein gewisses Alleinstellungsmerkmal, wie man heute so sagt.
    Steinert: Gegen das Jammertal anzuschreiben, obwohl Sie durchaus traurige Stoffe auch verarbeitet haben: Wenn ich an die Beziehungsgeschichte denke zu einem Künstler, zu einem Galeristen, der an AIDS erkrankt nach über 20 Jahren einer Partnerschaft, ein durchaus autobiografischer Roman – das darf ich so sagen –, und der dann in einer AIDS-Krankheit, einem AIDS-Tod auch endet, das ist natürlich etwas, wo Ihr ansonsten eleganter Stil, Ihr Charme, den ich am Anfang auch angesprochen habe, nicht so zum Tragen kommen kann.
    "Ich schrieb damals tatsächlich um mein eigenes inneres Überleben"
    Pleschinski: Nein, das war ein Text, an dem ich fast zerbrochen bin auch. Ich bin in guten ländlichen Verhältnissen aufgewachsen, eine gute bundesrepublikanische Generation, die mit nichts Furchtbarem rechnete, und dann kam – auch in München natürlich – diese Seuche AIDS über die Welt, die halbe Boheme wurde ausgelöscht. Das riss einem den Boden unter den Füßen weg, und ich schrieb damals tatsächlich um mein eigenes inneres Überleben.
    Das war furchtbar, aber ich musste in dem Fall Zeugnis ablegen über grandiose, vitale, kreative Menschen, die auf grausamste Weise von uns gerissen wurden. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich gehöre tatsächlich zu so etwas wie einer Kriegsgeneration, die in Gräben lag, und die Hälfte der Kameraden ist gestorben. Ich hatte Glück, auch da herausgekommen zu sein. Das war eine Schattierung, mit der ich nie gerechnet hatte.
    Steinert: "Bildnis eines Unsichtbaren" hieß dieses Buch. Übrigens, alle Titel, die wir jetzt ansprechen, sind als Taschenbücher erhältlich, wer das nicht im Original damals sich anschaffen konnte. Das "Bildnis eines Unsichtbaren", da ist auch Paris und die Geschichte Frankreichs mit den Geistesgrößen, die man kennt, von Voltaire, aber auch den Ludwig, das ist der Hintergrund auch einer Geschichte, und dann sind Sie, so verstehe ich das, eigentlich auch auf Ihre Stoffe gekommen, auf Ihr Vergangenheitspathos, auch mal Briefe von Voltaire und Friedrich dem Großen noch mal zu übersetzen und die herauszugeben oder auch "Das geheime Tagebuch des Herzogs von …" – wie spricht man es aus …
    Pleschinski: Croy.
    Steinert: Croy – mit einem …
    Pleschinski: Keiner kann es richtig aussprechen!

    Steinert: "Nie war es herrlicher zu leben". Übrigens, der Titel, der spricht auch für Sie, der – so hat ein Kritiker mal gesagt – Festlichkeit und Lebensheiterkeit auch auf seine Fahne geschrieben hat. Dieses Zurückgehen in die Vergangenheit, andererseits aber diese Gegenwartsstoffe auch in Ihren Texten: Ich muss natürlich "Ludwigshöhe", einen Roman, der mir sehr gut gefallen hat, die Finalisten, die sich da treffen in einer Art Sanatorium am Starnberger See …
    Frankfurter Buchmesse – 15. bis 19. Oktober 2008 Bücherherbst – 18.10.2008: Hans Pleschinski „Ludwigshöhe"
    Hans Pleschinski im Jahr 2008 als Gast auf der Frankfurter Buchmesse. (Deutschlandradio / Markus Mirschel)
    Pleschinski: In einer maroden Villa, ja.
    Steinert: Genau, wo man dann den Suizid vorwegnehmen will, aber dann erkennt man, dass man eigentlich doch mehr am Leben hängt – die dort eingewiesen werden oder sich einweisen lassen –, mehr am Leben hängt, als jetzt schon in den Suizid zu gehen, eine Erbschaft, die da drei Geschwister gemacht haben. Auch das wieder ein durchaus satirischer Stoff, der aber dann …
    Darauf müssen wir zu sprechen kommen, Entschuldigung, aber Ihr großer Erfolg ist natürlich einem Autoren zu danken, der nun der Größte vielleicht ist, mit der Größte nach Goethe in der deutschen Literaturgeschichte: Sie haben sich abgearbeitet immerhin an Thomas Mann und dessen Beziehung zu einem Klaus Heuser, den er 1927 kennenlernt und sich in den verliebt, und Sie lassen die beiden dann in einer fiktiven Geschichte in Düsseldorf anlässlich einer Lesung aus dem "Felix Krull" zusammenkommen, und da wird eine Lebensbilanz gemacht.
    Da muss ich ausnahmsweise mal einen Klappentext zitieren: "Die ewigen Fragen der Literatur nach Ruhm und Verzicht, die Verantwortung des Künstlers um den Preis des ewigen Lebens nach dem Gelingen und Drang". Also Verantwortung, das ist ein Thema des Künstlers, das Sie dann ansprechen. Wenn Sie sich mit Thomas Mann so beschäftigen, müssen auch Sie sich, Hans Pleschinski, die Frage stellen lassen, was bedeutet für Sie Verantwortung als Autor?
    "Das Tragikomische von Menschen und ihrer Lebenswege deutlich machen"
    Pleschinski: Sie sprechen 1.000 Themen in einem halben Satz an. Man könnte viel sagen, das Etikett Heiterkeit stammt aus der Frühzeit. Das ist sehr schattiert zu sehen mittlerweile, und der Roman "Ludwigshöhe", den Sie ansprechen, ist ja ein trauriger Roman. Eine Villa für Menschen, die freiwillig aus dem Leben scheiden wollen in Deutschland, die dann Lebenskraft wieder gewinnen, aber kein Kritiker hat angezweifelt, dass es solch eine Villa gibt in Deutschland, wo Menschen, die nicht mehr können, sich zusammenfinden, um aus dem Leben zu scheiden. Das ist ein grauenhafter Befund.
    In meinem Roman schöpfen einige dann wieder Lebenskraft, nicht alle – die Verantwortung des Autors, den Figuren gerecht zu werden. Satire als Begriff interessiert mich zum Beispiel gar nicht, sondern das Tragikomische von Menschen und ihrer Lebenswege vielleicht deutlich zu machen. Eine übergeordnete Verantwortung sehe ich sicherlich weiterhin darin, nicht sofort in Büchern einer Verzweiflung zuzustimmen, weder für Liebesbeziehungen noch für den Lebensimpuls, sondern erst einmal zu schauen, wie es weitergeht. Ich hatte das mal formuliert: Lieber eine fragwürdige Geschichte als in den Abgrund stürzen. Dazu gehört auch für mich sehr entscheidend das Wachrufen deutscher Geschichte. Ich bin an der Zonengrenze aufgewachsen.
    "Ich bin neben einem deutschen Geschichtsbuch aufgewachsen, dem Todesstreifen"
    Steinert: Daraus ist ja das berühmte Buch auch von Ihnen erschienen, "Ostsucht". Kein Lamento über den Untergang der DDR, eher eine nostalgische Anhänglichkeit des jungen Mannes, der dort auch Ostradio gehört hat, Ostfernsehen gesehen hat.
    Pleschinski: Ja, aber das geht tiefer. Ich bin neben einem deutschen Geschichtsbuch aufgewachsen, dem Todesstreifen. Das war sehr präsent für mich und für uns und hat für mich und meine Mitschüler uns zu dezidierten Bundesrepublikanern gemacht. Wir wussten, was Freiheit wert ist. Darüber will ich auch sprechen.
    Dazu gehört es auch, im geschichtlichen Bereich das ekelhafte so kurze, furchtbare Hitlerreich in unserer Wahrnehmung zu überwinden und die ganze vergessene deutsche Geschichte mit ihren Highlights wachzurufen, damit wir etwas anderes in unserer Identifikation haben als das schäbige Dritte Reich, das uns unsere Geschichte auch geraubt hat, und an deutsche Fährnisse und Glückseligkeiten und Abenteuer zu erinnern, die Deutschland als ganz anderes Land darstellen, wie es notgedrungen durch die Nachkriegszeit auf uns gekommen ist. Ich will mich nicht durch das Dritte Reich identifizieren lassen, und das ist immer ein Trachten, das Lesern auch zu vermitteln.
    Steinert: Darin sehen Sie eine Art Verantwortung.
    Pleschinski: Eine absolute und große. Geschichte ist für mich etwas sehr Lebendiges. Es gibt für mich keine Geschichte, sondern nur abwesende Gegenwart. Es gibt auch keine Toten für mich, sondern nur abwesende Lebende, die in das Gesamtspektakel unseres Lebens wieder zurückzuführen. Wunderbare Gestalten, auch August den Starken zum Beispiel. Das tut gut, das erfrischt.
    "Die Sachsen daran erinnern, dass sie ihre eigene Tradition durch gegenwärtige Dumpfheit verraten"
    Steinert: August der Starke, der taucht ja sogar auf in Ihrem Buch "Ostsucht". Man denkt erst, es handelt sich nur jetzt um das Leben hart an der Grenze zur DDR, sondern auch da gibt es schon immer auch den Versuch von Ihnen, Vergangenes, Zurückliegendes, Barockes wieder aufleben zu lassen, um Ihr Lebensgefühl, das Sie mit den Jahrzehnten entwickelt haben, auch zu dokumentieren. Wir könnten jetzt noch …
    Pleschinski: Das hat auch durchaus eine aktuelle Komponente, eine sehr aktuelle: Ich hatte jetzt etliche Lesungen in Sachsen, und wenn ich die sächsische Geschichte zum Beispiel recht gut kenne, kann ich das sehr dumpf gewordene Sachsen daran erinnern, dass es einmal die größte Kulturnation Mitteleuropas war – freizügig, offen, vielfältig, verschwenderisch – und die Sachsen daran erinnern, dass sie ihre eigene Tradition durch eine gegenwärtige Dumpfheit verraten. Insofern hat auch dieses geschichtliche Wissen einen tatsächlichen Alltagssinn.
    Steinert: Lebenserinnerungen bestimmen Ihr jüngstes Buch: "Ich war glücklich, ob es regnete oder nicht", das sind Lebenserinnerungen von Else Sohn-Rethel aus einer Malerfamilie. Da wird eine deutsch-jüdische, kulturell sehr reiche Geschichte aus dem Großbürgertum rekonstruiert, Lebenserinnerungen, auf die Sie gestoßen sind bei Ihren Recherchen zum Thomas-Mann-Roman "Königsallee".
    Pleschinski: Ja, man kann über all die Anekdoten eines Schriftstellerlebens auch reden. Das ist gewiss auch sehr spannend, und dazu gehört das Manuskript zu dem neusten Buch von den Memoiren der Else Sohn-Rethel. Durch Zufall bin ich in Kontakt mit einer Düsseldorfer Künstlerfamilie geraten, zu der Klaus Heuser gehörte, der Geliebte von Thomas Mann. Durch abenteuerliche Funde fand ich die Briefe von Klaus Heuser und seinen späten Kontakt mit Thomas Mann, von dem niemand etwas wusste. Das war sofort Anlass zu dem Roman "Königsallee", das zu schreiben.
    "Wir haben alle Möglichkeiten zur gewissen Glückseligkeit in Deutschland"
    In diesem Hausfundus gab es eben auch die Memoiren der wilden Else, und die beiden wunderbaren Düsseldorfer Damen fragten mich, ob ich das mal lesen wolle, und das wollte ich. Das reizte mich dann auch sofort, weil es sind Lebenserinnerungen einer sehr selbstbestimmten, vitalen Frau der Gründerjahre und der Belle Époque, und wir haben wenig Memoiren von Frauen in Deutschland aus jener Zeit und vor allen Dingen nicht von einer so selbstbestimmten Frau. Das macht Freude, eben auch diese Person wachzurufen und in unser Lebensbild mit einzufügen. Wir haben alle Möglichkeiten zur gewissen Glückseligkeit in Deutschland, sogar aus unseren eigenen Quellen, und ich finde es wichtig, daran zu erinnern.
    Steinert: "Ich war glücklich, ob es regnet oder nicht: Else Sohn-Rethel, Lebenserinnerungen" – wie die meisten Bücher von Ihnen bei C.H. Beck erschienen. Wir kommen in einer späteren Sendung noch mal auf dieses Buch zu sprechen. Wir bedanken uns an dieser Stelle für Ihre Erinnerung anlässlich Ihres 60. Geburtstages, Hans Pleschinski.
    Pleschinski: Ich bin selbst über diese 60 völlig überrascht, Herr Steinert, und ich danke Ihnen!
    Steinert: Das war es für heute im "Büchermarkt" mit Hans Pleschinski im Studio.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

    *Anmerkung der Redaktion: Madame de Pompadour war die Geliebte von Ludwig XV., nicht Ludwig XIV., wie es im Audio zu hören ist. Wir haben das im Text korrigiert.