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Debüt mit Erzählungen im Schwebezustand

Gibt es etwas, das uns im Allerinnersten ausmacht? Diese Frage treibt die Schriftstellerin Marie T. Martin um, und auch die Protagonisten in ihrem Erzählband "Luftpost" suchen nach Antworten darauf. Die Geschichten sind im Alltäglichen angesiedelt, gewinnen diesem aber eine ganz eigene Stimmung ab.

Von Enno Stahl | 15.08.2011
    Hoch verdichtete Prosa präsentiert Marie T. Martin in ihrem Debütband, hoch verdichtet, nie geschwätzig, eher lakonisch. Schon die Titel der einzelnen Erzählungen zeigen eine Erzählhaltung, die nie zuviel verrät: "Nachmittag", "Fünfter Stock", "Grünspan", "Er käme".

    Wenn man die Texte dann liest, kann man denn auch nicht sagen, dass diese Titel in einem nachvollziehbaren Zusammenhang mit der jeweiligen Geschichte stünden. Zusammenhänge sind kaum auszumachen, die Figuren, junge Frauen und Männer, wirken diffus, sie stehen in Beziehungen, die man nicht recht begreift. Alles findet statt in einem Zwischenreich, das, worum es eigentlich geht, bleibt vage, konturlos.

    Luftige Wohnungen, urbane Szenarien, Menschen ohne Gesicht. Alles verharrt in der Schwebe und das ist wirklich kunstvoll gemacht. Schaut man genauer hin, sind diese Erzählungen, die sich doch nirgendwo zu verorten scheinen, sehr konzentriert gebaut. Es sind Montagen verschiedener Sprachebenen, mal ferne Bilder, Schemen, dann wieder zupackende Schilderungen des Tatsächlichen. Wie geht Marie T. Martin an ihre Erzählungen heran, was ist zuerst da, eine Figur, ein Bild, eine Stimmung, ein Motiv?

    "Also wenn ich eine Geschichte anfange, ist es ganz unterschiedlich, was den Schreibimpuls auslöst. Ganz selten gehe ich von 'nem Thema aus, also wie in einer Geschichte, ich möchte mal einen Text über einen arbeitslosen Musiker schreiben. Oft ist es eher 'n Bild oder 'ne Situation oder Dinge, die mir andere Leute erzählen. Meistens ist der Kern einer Geschichte irgendwie aus dem Alltag entstanden."

    Tatsächlich siedeln Marie T. Martins Geschichten eher im Alltäglichen, gewinnen diesem aber eine ganz eigene Stimmung ab, das Gefühl eines Verlustes. Das ist fast wie ein durchlaufender Ton, fast wie eine durchlaufende Geschichte, auch weil die Protagonisten sich in ihrer Handlungsunfähigkeit und Passivität ähneln, Eigenschaften, die sich fast zur Ohnmacht den Verhältnissen gegenüber steigern, was ist es, was charakterisiert diese Figuren?

    "Also mich interessiert an den Figuren oder auch an den Stimmungen das Verhältnis einer einzelnen Figur zu ihrer Außenwelt. Also meine Figuren stehen ja oft eher so am Rand und es ist immer so der Versuch der Kontaktaufnahme mit anderen oder mit der Außenwelt und ich glaube die Grundstimmung ist schon sehr geprägt von Melancholie oder auch von Vergänglichkeit. Was ich so anstrebe, ist, so eine Art Schwebezustand zu beschreiben, also dass nichts fest gefügt ist, dass sich alles verändert, dass darin eine einzelne Figur unterwegs ist auf der Suche nach einem Ort, einem Zuhause, natürlich auch nach sich selber und nach dem Platz im Leben, wenn es so was überhaupt gibt. Und dieser Frage nachzugehen, interessiert mich in den Geschichten und bei meinen Figuren."

    Allen diesen Protagonisten fehlt etwas, sie bergen ein leeres Zentrum oder anders: bewegen sich in einem Zentrum der Leere, aber was ist es? Was geht ihnen ab, was fehlt?

    "Also worum es oft geht, diese innere Leerstelle der Figuren, also in einem Text stellt ja eine Figur konkret die Frage danach, was im Allerinnersten ist. Sie beschreibt sich selbst als Zwiebelmensch, der viele Hüllen hat, und dann stellt sich letztlich die Frage, was dann sozusagen im Innersten und ob das etwas ist. Und was da, glaube ich, dahinter steckt, ist die Frage nach so etwas wie einem Wesenskern oder Wesenszentrum. Also was sind wir noch außer der Prägung durch unser Elternhaus, durch die Gesellschaft, durch die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen wir aufgewachsen sind, und das, was wir lernen, und durch die Art, wie wir uns verhalten. Gibt es irgendwas, das davon unberührt ist und gibt es etwas, das uns im Allerinnersten ausmacht? Das ist, glaube ich, eine Frage, die mich sehr interessiert und die mich auch beim Schreiben oft umtreibt."

    In diesem Sinne sind Marie T. Martins Erzählungen "zeitnotorisch", sie zeichnen psychologische Bilder der Postadoleszenz im Angesicht einer seltsam versperrten Welt. Alle Möglichkeiten scheinen offen, aber sind sie es? Gibt es überhaupt Möglichkeiten?

    Hören Sie zum Abschluss eine typische Passage aus Marie T. Martins Band, gelesen von ihr selbst:

    "Das Handy klingt und ich stelle es ab für den Nachmittag. Du hast deines im Auto gelassen auf dem Parkplatz. Dein Meeting morgen und meine Termine, es sind noch Jahre bis morgen, denn die Zeit ist ein gelber Raum, dessen Größe sich unablässig verändert und du lachst darüber, dass ich mich als Kind im Auto übergeben musste und erst vor kurzem einen Führerschein gemacht habe, aus Angst ein Kind zu überfahren, noch heute schwankt der Boden ohne Grund, und immer, wenn man sich anlächelt ohne Ziel, gibt es viele Zimmer, die man betreten könnte. Das Eis schmilzt im Glas und vermischt sich schlierig mit der Soße, sicher musst du dich erst selbst finden vor der Familiengründung, sagst du, ruf an, wenn du dich gefunden hast. Ich lächle, ich glaube, es gibt den Kern nicht, den wir suchen, es gibt nur eine Farbe vielleicht, die immer auftaucht, Schicht um Schicht ist alles übereinandergelegt in uns wie eine Lasur, es gibt keinen wahren Grund, denn alle Schichten leuchten zusammen, es gibt nur viele Stimmen und keine eigene."

    Marie T. Martin: "Luftpost".
    poetenladen Leipzig, 142 Seiten, 17,80 EUR