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Nutzen von Arzneimitteln
Was verkauft werden kann, kommt auf den Markt

Im Gegensatz zu anderen Ländern in Europa gebe es keine zusätzliche Hürde, die verhindere, dass Medikamente ohne Zusatznutzen auf den Markt kommen, sagte Jürgen Windeler, Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, im DLF. Wenn die Industrie eine Verkaufschance sehe, werde es hergestellt.

Jürgen Windeler im Gespräch mit Tobias Armbrüster | 05.01.2017
    Pharmakontrolleur Jürgen Windeler, Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen.
    Pharmakontrolleur Jürgen Windeler, Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen. (picture alliance/dpa - Robert Schlesinger )
    Dass jedes dritte Medikament, das auf den Markt kommt, nichts kann, was nicht schon ein anderes Medikament kann, bezeichnete Windeler als "nicht überraschend". Die Pharmaindustrie entwickle Medikamente, die nicht so innovativ seien wie die Werbung behaupte. Wenn man etwas verkaufen könne, werde es hergestellt.
    In anderen Ländern würde vor der Zulassung geprüft, ob die Medikamente ins System sollen. In Deutschland hingegen werde erst im Nachhinein geprüft, ob die Arzneimittel einen Zusatznutzen haben. Die Medikamente blieben dann aber weiter in der Versorgung.
    Es sei ein deutscher Sonderweg, keine vierte Hürde einzuführen. Er spreche sich dafür aus, dass Arzneimittel einer sorgfältigeren Prüfung unterzogen werden und plädiere für Konsequenzen: Ärzte sollten deutlicher darauf hingewiesen werden, Medikamente mit Zusatznutzen verordnen sollen als solche ohne. Man dürfe nicht nur die wirtschaftlichen Vorteile der Industrie sehen.

    Das Interview in voller Länge:
    Tobias Armbrüster: Es ist eine Meldung, die vielen Kritikern des deutschen Gesundheitssystems recht gibt – eine aktuelle Studie der gesetzlichen Krankenversicherer kommt zu dem Schluss, dass ein Drittel aller neu zugelassenen Medikamente keinen zusätzlichen Nutzen bringt. Im Klartext: Jedes dritte Medikament, das bei uns neu auf den Markt kommt, kann nichts, was nicht auch schon ein herkömmliches Medikament erreichen würde. Das klingt irgendwie merkwürdig und wirft natürlich eine Menge Fragen auf. Die wollen wir jetzt besprechen mit Professor Jürgen Windeler. Er ist Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen. Das ist eine Einrichtung, die aus Kassenbeiträgen finanziert wird und die medizinische Leistungen in Deutschland genauer unter die Lupe nimmt. Schönen guten Morgen, Herr Windeler!
    Jürgen Windeler: Schönen guten Morgen, Herr Armbrüster!
    Armbrüster: Herr Windeler, was sagt uns das über die Pharmaindustrie, wenn jedes dritte neue Medikament eigentlich nichts Neues bringt?
    "Das sagt nur, dass die Pharmaindustrie Medikamente entwickelt, die nicht so innovativ sind"
    Windeler: Es sagt uns eigentlich erst mal nicht viel. Es ist auch gar nicht überraschend. Diese Quote ist ja seit vielen Jahren im Wesentlichen die gleiche. Man kann etwa sagen, dass ein Drittel, andere Schätzungen gehen sogar bis zur Hälfte, von Arzneimitteln, die auf den Markt kommen, eben nicht besser sind als das, was wir schon haben. Es sagt nur, dass die Pharmaindustrie immer an einigen Stellen Medikamente entwickelt, die nicht so innovativ sind und so überzeugend sind, wie sie das vielleicht in Werbebroschüren darstellt.
    Armbrüster: Woran liegt das denn?
    Windeler: Das liegt daran, dass es eben finanzielle Anreize dafür gibt – oder anders ausgedrückt, dass man solche Medikamente auch verkaufen kann. Und wenn man etwas verkaufen kann, dann wird ein Industrieunternehmen etwas entwickeln, was sie so verkaufen kann. Für diese Arzneimittel trifft das so zu.
    Armbrüster: Das heißt, die Industrie versucht da einfach nur, die Pharmaindustrie, auf Teufel komm raus neue Medikamente auf den Markt zu bringen, einfach nur neu, weil die sich besser verkaufen mit dem Label "Das ist neu, das ist ein aktuelles Produkt"?
    "Die Industrie entwickelt Medikamente, von denen sie hofft, dass sie neues Potenzial haben"
    Windeler: Das klingt jetzt vielleicht ein bisschen oberflächlich. Die Industrie entwickelt Medikamente, von denen sie insbesondere am Anfang der Entwicklung überzeugt ist, dass sie neues Potenzial haben, dass sie neue Aspekte bringen, dass sie weniger Nebenwirkungen haben, dass sie Dinge besser machen. Manchmal oder gar nicht so selten, wie wir jetzt erfahren, erfüllen sich diese Versprechungen und diese Erwartungen aber nicht, und dann kann die Industrie sich überlegen, ob sie die Medikamente trotzdem verkauft oder versucht zu verkaufen oder ob sie das nicht tut. In Deutschland insbesondere kann man diese Medikamente aber gut verkaufen, und dann wird die Industrie das auch tun.
    Armbrüster: Aber müssen neue Medikamente nicht eigentlich auf ihren neuen Nutzen tatsächlich geprüft werden?
    Windeler: Medikamente müssen ja zunächst mal geprüft werden, ob sie überhaupt eine Wirksamkeit, einen Nutzen haben. Das passiert auch in einem europäischen Zulassungsverfahren. Medikamente, die dort durchkommen, können in Europa verkauft werden, also auch in Deutschland. Viele andere Länder machen dann zusätzlich eine Prüfung, ob diese Medikamente überhaupt in die nationalen Gesundheitssysteme kommen sollen. Viele Länder haben eine sogenannte vierte Hürde für solche Arzneimittel. Deutschland hat das nicht. Deutschland prüft eben nur im Nachhinein, ob diese Medikamente, die man in Deutschland verordnen darf, einen Zusatznutzen haben, also besser sind als das, was wir schon haben. Aber die bleiben dann in Deutschland in der Versorgung. Die kann man also weiter verordnen. Die Patienten können die auch weiterhin bekommen. Insofern ja, solche Medikamente sollten, müssen geprüft werden, aber in Deutschland führt das dann eben zu solchen Meldungen, die aber auch nicht wirklich überraschend sind.
    Armbrüster: Das heißt aber, wenn ich Sie da richtig verstehe, es ist so, dass die deutschen Prüfbehörden es der Pharmaindustrie da sehr leicht machen?
    "Es ist in gewisser Weise ein deutscher Sonderweg"
    Windeler: Nicht die deutschen Prüfbehörden, sondern das gesamte deutsche System hat sich gegen eine solche vierte Hürde, also eine Prüfung entschieden, mit der man prüfen könnte, ob Medikamente in Deutschland überhaupt auf den Markt kommen, also überhaupt in der gesetzlichen Krankenversicherung verordnet werden können. Andere Länder machen das, wir machen das nicht. Wir machen eben eine solche nachgelagerte Prüfung, ob ein Zusatznutzen besteht. Aber wir stellen dann eben auch fest, dass ein Drittel oder bis vielleicht sogar zur Hälfte der Medikamente keinen solchen Zusatznutzen haben oder jedenfalls keine Unterlagen vorgelegt haben, muss man genauer sagen, die einen solchen Zusatznutzen belegen.
    Armbrüster: Aber wenn das nun ja, wie Sie sagen, auch schon so lange bekannt ist, wäre es da nicht höchste Zeit, etwas dagegen zu unternehmen?
    Windeler: Es ist in gewisser Weise ein deutscher Sonderweg, hier keine – noch mal dieser Begriff – vierte Hürde einzuführen. Aber die Politik hat sich bisher entschieden, diesen Weg nicht zu gehen, weil sie der Auffassung ist, dass deutschen Patienten eben alle Optionen sozusagen, auch Optionen, die vielleicht nicht besser sind als bisherige, zur Verfügung stehen sollten. Das ist ein gewisses Charakteristikum dieses Gesundheitssystems. Ich will das im Moment nicht bewerten. Fakt ist aber, dass wir deshalb sehr viele Medikamente haben, und Fakt ist auch, dass wir dann Medikamente haben und feststellen müssen, na ja, die sind nicht besser als das, was wir schon haben.
    Armbrüster: Oder kann es auch sein, dass der Einfluss der Pharmaindustrie auf die deutsche Politik da größer ist bei uns in Deutschland, als in anderen Ländern?
    "Die Pharmaindustrie ist in Deutschland ein sehr relevanter Wirtschaftsfaktor"
    Windeler: Es mag so sein, dass das auch Einfluss der Pharmaindustrie ist. Die Pressemitteilungen, die gestern prompt in die Welt gesetzt wurden, lassen ja auch vermuten, dass die Pharmaindustrie sehr sensibel reagiert. Wir haben sicherlich andererseits aber auch eine Tradition, diese Vielfalt pflegen zu wollen, mit Konsequenzen, sowohl was die Pressemitteilungen jetzt angeht, als auch, was die Preise angeht, als auch, was die Unübersichtlichkeit, will ich jetzt mal sagen, des ganzen Marktes angeht.
    Armbrüster: Das heißt, können wir das so zusammenfassen, da ist durchaus der Einfluss der Pharmaindustrie zu spüren?
    Windeler: Da ist der Einfluss der Pharmaindustrie zu spüren. Die Pharmaindustrie ist in Deutschland ein sehr relevanter Wirtschaftsfaktor, und wirtschaftliche Aspekte spielen bei diesen Überlegungen sicherlich eine Rolle.
    Armbrüster: Würden Sie denn nun sagen als Leiter dieses ja tatsächlich in dieser Frage wichtigen Instituts, dass wir in Deutschland da überlegen sollten, ob wir diese vierte Hürde, die Sie da nennen, ob wir diese zusätzliche Prüfung einführen sollten, um solche Zahlen – jedes dritte Medikament eigentlich nutzlos – künftig zu vermeiden?
    "Ärzte sollten Medikamente mit einem Zusatznutzen eher verordnen"
    Windeler: Jedes [dritte] Medikament nutzlos, würde ich jetzt noch mal nicht unterschreiben. Es hat keinen Zusatznutzen im Vergleich zu dem, was wir schon haben. Wir sprechen uns seit Jahren dafür aus, nicht nur wir, sondern viele andere, dass Arzneimittel in Deutschland, die schon auf dem Markt sind im Übrigen, und auch die neuen, einer sorgfältigeren Prüfung unterzogen werden sollen. Ich würde mich schon dafür aussprechen, dass wir dann auch unsere Konsequenzen daraus ziehen. Ob man das dann vierte Hürde nennt, lasse ich jetzt mal offen.
    Armbrüster: Welche Konsequenzen denn?
    Windeler: Schon Konsequenzen, deutlicher darauf hinzuweisen – entsprechende Überlegungen gibt es im Moment übrigens auch –, deutlicher darauf hinzuweisen, dass Ärzte Medikamente mit einem Zusatznutzen vielleicht eher verordnen sollten als Arzneimittel, die keinen Zusatznutzen zugesprochen bekommen haben.
    Armbrüster: Können Sie ungefähr beziffern, welche Schäden das verursacht, wenn Medikamente keinen zusätzlichen Nutzen haben, welche wirtschaftlichen Schäden?
    "Man muss Arzneimittel überwachen, die man eigentlich im System gar nicht bräuchte"
    Windeler: Es ist natürlich jetzt eine große Rechnung. Die wirtschaftlichen Schäden liegen ja eher auf der Systemseite, die liegen darin, dass Arzneimittel eben möglicherweise – das ist im Moment etwas anders geregelt – zu erhöhten Preisen verordnet werden. Da gibt es allerdings Regelungen, das zu verhindern. Es hat aber natürlich die Schäden, dass man sich um Arzneimittel kümmern muss, auch Arzneimittel überwachen muss, die man eigentlich im System gar nicht bräuchte, jedenfalls nicht, weil sie einen besonderen Nutzen versprechen. Und diese Schäden müsste man meines Erachtens jedenfalls in die Rechnung mit einkalkulieren und nicht nur die Vorteile und die wirtschaftlichen Vorteile für die Industrie dabei sehen.
    Armbrüster: Sagt hier bei uns im Deutschlandfunk Jürgen Windeler, der Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen. Vielen Dank, Herr Windeler, für Ihre Zeit heute Morgen!
    Windeler: Ja, bitte schön. Danke!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.