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Massenmord an türkischen Armeniern 1915
Keine gegenseitigen Vorwürfe

Vakıflı gilt als das letzte türkische Dorf, das auch heute noch ausschließlich von Armeniern bewohnt wird. Etwa 150 Menschen leben dort. Wie gehen die Nachkommen der Überlebenden mit der Erinnerung an den Massenmord an ihren Vorfahren im Jahr 1915 um?

Von Reinhard Baumgarten | 13.02.2015
    Türken und Armenier halten am 24.04.2014 in Istanbul Schilder des ermordeten Journalisten Hrant Dink und anderer Opfer während der Gedenkfeier zum 99. Jahrestag der Massenmorde von Armeniern im Ottomanischen Reich.
    Türken und Armenier gedenken der Massenmorde an Armeniern 1915 im Osmanischen Reich. (picture alliance / dpa - Sedat Suna)
    Es ist kurz nach zehn. Die Glocke der Mutter-Maria Kirche ruft zur heiligen Messe. Der Priester durchmisst im türkischen Dörfchen Vakıflı ein Weihrauchfass schwenkend das kleine fast fensterlose Gotteshaus. Die vorwiegend älteren Messebesucher empfangen seinen Segen und bekreuzigen sich.

    Alle zwei oder drei Wochen kommt der Priester aus der Provinzhauptstadt Antakya in das 150-Seelen-Dorf. Vakıflı hat schon lange keinen eigenen Priester mehr. "Wir fühlen uns hier manchmal, als kämen die Leute, um eine vom Aussterben bedrohte und geschützte Vogelart zu bestaunen", gibt Kuhar Kartun offenherzig zu. Die 52-Jährige betreut die Dorfkirche Mutter Maria."Das Interesse ist ja schön, aber manchmal nervt's. Es gibt Besucher, die fragen mich, woher wir eigentlich kommen. Ich antworte dann: Wir waren schon immer hier. Und Sie, woher kommen Sie?"
    Widerstand gegen die osmanischen Truppen
    Vakıflı hat vor 100 Jahren Berühmtheit erlangt. Um der sicheren Vernichtung zu entgehen, beschlossenen im Juli 1915 rund 4.000 Bewohner von sechs armenischen Dörfern, sich auf dem Musa Dağı - dem Mosesberg - zu verschanzen. 53 Tage widersetzten sie sich erfolgreich heranstürmenden osmanischen Truppen. 1.355 Meter ist der Mosesberg hoch, in dessen Schatten Vakıflı liegt. Vor allem im Frühjahr senke sich über sein Heimatdorf der lange Schatten der Vergangenheit, klagt der Tierarzt Cem Çapar: "1915 ist kein Datum, an das wir uns ständig erinnern. Wir denken nicht Tag und Nacht darüber nach. Ja, es ist wichtig für uns und ja, es gehört zu unserem Leben. Aber im Grunde ist es so, dass wir uns daran erinnert fühlen, weil uns ständig Journalisten danach fragen und uns auf 1915 aufmerksam machen."
    Mehr als eine Million Armenier sind 1915/16 umgekommen, umgebracht, ermordet, planmäßig vernichtet worden. Die Meinungen darüber, wie sie zu Tode kamen, gehen auseinander. Der einzige erfolgreiche armenische Widerstand wurde am Mosesberg knapp 25 km westlich von Antakya in der heutigen türkischen Provinz Hatay geleistet. Weltweit bekannt gemacht hat den Berg der Schriftsteller Franz Werfel mit seinem Buch "Die 40 Tage des Musa Dagh". Genau dieses Buch liest die 31-jährige Esra gerade. Sie ist mit ihrer Theatertruppe aus Adana ins Dörfchen Vakıflı gekommen: "Man kann sehr intensiv nachempfinden, was die Menschen dort auf dem Berg durchgemacht haben. Ich persönlich bin davon überzeugt, dass es in diesem Land einen Völkermord an den Armeniern gegeben hat. Von dem Dorf hier weiß ich seit meiner Kindheit."
    Landwirtschaft und Tourismus
    Vakıflı lebt heute von Landwirtschaft und Tourismus. Die Kinder gehen auswärts zur Schule. Junge Leute gibt es nur wenige. Die meisten sind auf der Suche nach höherer Bildung und Arbeit weggegangen. Vakıflı vergreise, bedauert Panos Çaparyan. Aber das gehe allen Dörfern der Umgebung so. Der 83-jährige hat ein Buch über den armenischen Widerstand auf dem Mosesberg geschrieben. Zur Erinnerung, betont er, nicht zur Auf- oder Abrechnung: "Wenn sich unsere Großväter gegenseitig massakriert haben - was können wir und die anderen denn dafür? Wir sind hier mit allen gut befreundet. Ich geh mit meinen türkischen, alewitischen, sunnitischen und orthodox-arabischen Freunden Schnaps trinken. Wir machen uns keine gegenseitigen Vorwürfe. Wir leben in Frieden. Und das ist auch richtig so."